Theater der Zeit

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Love, love, love

Die Kammeroper Rheinsberg sucht unter neuer Leitung nach dem Musiktheater des 21. Jahrhunderts

von Marielle Sterra

Erschienen in: Theater der Zeit: Fuck off (09/2015)

Assoziationen: Brandenburg Musiktheater

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Rheinsberg im Hochsommer. Touristen schieben sich schwitzend durch die weitläufigen Gärten der Schlossanlage. Pferdekutschen klappern über Kopfsteinpflaster, ein Motorboot dröhnt über den See, und im Kavaliershaus singt sich der erste Sänger ein.

In zwei Stunden wird er auf der Bühne der Kammeroper Rheinsberg stehen, zur zweiten Vorstellung der Oper „Adriana“. Vor 25 Jahren gründete der Komponist Siegfried Matthus dieses internationale Festival junger Opernsänger, es findet seitdem alljährlich in den Rheinsberger Schlossanlagen statt. Der Innenhof wird ebenso bespielt wie das Heckentheater, sogar an den Ufern wird gesungen, während das Publikum über den See schippert. Obwohl diese Formate auch in den letzten Jahren auf dem Spielplan standen, ist im Jubiläumssommer einiges anders: Frank Matthus, Schauspieler, Regisseur und Sohn des Gründers, übernimmt in dieser Saison die Leitung des Festivals. Er plant einen Generationswechsel in Harmonie, lediglich um ein Feintuning des Spielplans gehe es ihm und um sein Innovationsprojekt: die jährliche Uraufführung eines Opernwerks, das Stoffe und Musik des 21. Jahrhunderts aufgreift.

Diese Idee ist mehr harmonisch als neu. Bereits Siegfried Matthus initiierte Projekte mit jungen Komponisten und Librettisten, die künstlerische Teams bildeten und in Workshops Grundlagen für die gemeinsame Arbeit an zeitgenössischen Opernstoffen vermittelt bekamen. Durch Uraufführungen und Netzwerkarbeit für die Nachwuchskünstler war die Kammeroper immer auch ein Ort für neues Musiktheater – obwohl es sich bei einem Großteil ihrer Aufführungen um Opernrepertoire aus dem 17. und 18. Jahrhundert handelte.

Seit der Gründung nehmen jedes Jahr junge Sänger aus der ganzen Welt an einem Wettbewerb teil, bei dem es Partien in den Festivalproduktionen zu gewinnen gibt. Obwohl es für sie eine große Chance sei, Erfahrungen mit Partien des Repertoires zu machen, so Matthus, hätten viele von ihnen gezielt für die diesjährige Uraufführung vorgesungen. „Als Erster ein Klangbild zu erfinden, das es noch nicht auf CD gibt“, dies sei eine große Motivation für die Bewerber gewesen. Ihre Einstellung zeigt, dass die bisherige Arbeit der Kammeroper Früchte trägt.

Doch für welches Klangbild steht Rheinsberg? Frank Matthus geht es um eine „emotionale Musik, die mit Anklängen an Gehörtes Geschichten von heute erzählt“. Mit dem Gehörten ist das gemeint, was landläufig auf den Spielplänen der Opernhäuser zu finden ist: Puccini, Verdi, Mozart. Dass deren Wirken mehr als hundert Jahre zurückliegt, sei dabei nicht entscheidend, bedienten sie sich doch mehrheitlich einer auf Rezitativ, Arie und Ensemble aufbauenden Operndramaturgie. Diese ist im Verständnis von Frank Matthus Grundvoraussetzung für ein funktionierendes Musiktheaterstück. Dass zeitgenössische Opern es nur selten ins Repertoire schafften, liege am Verlassen ebendieser dramaturgischen Form – und daran, „dass Komponisten und Librettisten sich nicht davon befreien können, modern sein zu wollen“. Er scheint dabei völlig zu ignorieren, dass es von Richard Wagner über Alban Berg und Mauricio Kagel bis hin zu Helmut Oehring immer Komponisten gab, die mit diesem Prinzip aus gutem Grund spielten, es variierten oder abschafften und deren Werke dennoch erfolgreich an Opernhäusern laufen.

Für die diesjährige Uraufführung engagierte er Marc-Aurel Floros, der zu Elke Heidenreichs Libretto „Adriana“ eine Oper schrieb, die sich tief vor den Komponisten des 19. Jahrhunderts verneigt. Adriana, eine junge Frau, muss sich darin zwischen der Liebe zu zwei gegensätzlichen Brüdern entscheiden. „Sich an Vorbildern zu orientieren oder diese gar zu kopieren, ist legitim, wenn man ein eigener Künstler ist“, sagt Matthus. Der Abend im malerischen Schlosshof gerät dann aber mehr zu einem handwerklich soliden Feuerwerk musikalischer Zitate der Kollegen Wagner, Puccini und Richard Strauss. Die Figuren bleiben dabei letztlich auf der Strecke. Auch, weil in Adrianas Welt Männer Berufe haben und Frauen die Liebe – oder den Verdruss damit. Emotionalitäten werden auf der Bühne raumgreifend ausagiert, im Publikum bleibt man davon trotz der engagierten Sänger seltsam unberührt. Reicht das für ein Libretto von heute, die Suche nach Harmonie und Liebe? Die Sehnsucht danach mag groß sein angesichts der aktuellen weltpolitischen Lage. Den Reflex, sich in eine rückwärtsgewandte Fantasiewelt zu flüchten, in der losgelöst vom gesellschaftlichen Geschehen geliebt und gelitten wird, kann man dagegen nur als fahrlässig bezeichnen. Die Gattung Oper wird so nicht erneuert, sondern ausgehöhlt. Violetta in Verdis „La Traviata“, die in der Regie von Frank Matthus in Rheinsberg Premiere hatte, wirkt da fast wie eine moderne Frau: im Gegensatz zu Adriana hat sie immerhin einen Beruf. //

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