Theater der Zeit

Auftritt

Bochum: Bye-bye Life

Schauspielhaus Bochum: „Die Befristeten“ von Elias Canetti. Regie Johan Simons, Kostüme Britta Brodda und Sofia Dorazio Brockhausen

von Martin Krumbholz

Erschienen in: Theater der Zeit: Der Sound der Algorithmen – Schwerpunkt Musiktheater (03/2021)

Assoziationen: Schauspielhaus Bochum

Gut 300 Personen dürfen sich in den Livestream des Schauspielhauses Bochum einwählen; die Vorstellung gilt dann als „ausverkauft“. Im Frühsommer, nach dem ersten Lockdown, wurde Johan Simons’ Elias-Canetti-Inszenierung „Die Befristeten“ bereits vor 50 maskierten Präsenz-Zuschauern gespielt, die sich nicht mit Zwei-, sondern eher mit 20-Meter-Abständen im Schauspielhaus ver­loren und einander wehmütig zuwinkten. In Canettis dramatischem Gedankenspiel aus den Fünfzigern geht es ums Sterben, genauer um die Frage, was wäre, wenn jeder Sterb­liche die Stunde seines Todes bereits amtlich verbrieft hätte und sogar im Namen trüge: „Fünfzig“, „Achtundachtzig“, „Zehn“, das Alter, das jede und jeder erreicht, steht ihm und ihr sozusagen auf der Stirn, zusätzlich befindet es sich verschweißt in einer Kapsel, die man bei sich führt und auf keinen Fall verlieren darf.

Die Thematik des Stücks passt wie der Deckel auf den Topf der Pandemie, und doch ist Canettis Text eher bizarr als triftig zu nennen und wirkt ein wenig angestaubt, so sehr Simons’ Regie sich auch bemüht, etwa durch Cross-Gender-Besetzungen zeitgemäße Akzente zu setzen. Die einzuhaltenden Sicherheits­abstände werden anhand von Auftritten durch die Saaltüren zum prägenden Stilmittel des Abends. „Wir haben keine Angst, denn wir wissen, was uns bevorsteht“, tönen die Türsteher im Chor – und keiner glaubt’s, schon klar. Denn das Faktum des Todes ist ja durch die Definition seines jeweiligen Zeitpunkts nicht aufgehoben; darauf weist Canetti, der unermüdliche Protestant gegen eben dieses factum brutum, mit einer ganzen Batterie von Zaunspfählen hin.

Ein „Kapselan“, gewissermaßen der Hohepriester der Gemeinde, von dem man nicht recht weiß, ob es sich um die gesamte Menschheit handelt, wacht über die Einhaltung der Regeln und ergreift gegebenenfalls Maßnahmen zur Disziplinierung. Alle tragen übrigens Rot, als handelte es sich doch eher um eine Sekte (wie einst „Bhagwan“). Den als Einziger fantastisch gewandeten Kapselan spielt Jing Xiang mit Gesangseinlagen und einer schönen Mischung aus Pathos und Ironie. Ansonsten hält Simons sich treu an die Vorlage, die er mit all ihren Abstrusitäten bitterernst zu nehmen scheint.

Es gibt natürlich einen Ausreißer, Zweifler und Rebellen: Das ist „Fünfzig“, gespielt von Stefan Hunstein. Mag man ihm auch entgegenhalten, fünfzig sichere Jahre seien doch mehr wert als eine größere Zahl von unsicheren, Fünfzig hat trotzdem Angst vor dem Tod (sein aktuelles Alter erfährt man nicht) und stellt eine Reihe von berechtigten Fragen, die sich auch jeder Leser des Textes stellt, ohne auf eine Antwort hoffen zu dürfen. Könnte sich der Kapselan irren? Kann man den „Augenblick“ überleben? Handelt es sich um ein ­Naturgesetz oder lediglich um eine Amtsvorschrift?

Doch der Rebell ist isoliert und wird schließlich in die Knie gezwungen. Als er am Ende zwei Kapseln knackt und feststellt, dass sie leer sind, dass alles Bluff war, dass es aber gleichwohl „kein Ende“ gibt, wie es am Ende heißt – da ist man denn doch so schlau als wie zuvor. Befristet oder nicht, an den Grundtatsachen der menschlichen Existenz ist vorläufig nicht zu rütteln, und die ethischen Probleme, die sich etwa in der aktuellen Situation stellen (Stichwort Triage), sind komplexer als die von Canetti aufgeworfenen.

Die Streaming-Version des Abends hat immerhin den Vorzug, dank einer flexiblen (Hand-)Kameraführung eine intime Nähe zum Geschehen, zur Gestik und Mimik der Spieler und Spielerinnen zu ermöglichen. Elsie de Brauw („der Freund“) mit ihrer feinen Nachdenklichkeit oder der jungen Anne Rietmeijer (in verschiedenen Rollen) mit ihrem natürlichen Charme sieht man gern zu. Dennoch bleibt das schale Gefühl, wenn man den Computer ausschaltet: Nein, das ist nicht das Theater, nach dem man sich gesehnt hat; nicht in technischer Hinsicht, nicht in ästhetischer, und nicht einmal in inhaltlicher. //

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