Theater der Zeit

Baden-Württemberg

Vergessene der Stadtgesellschaft

Die Baden-Württembergischen Theatertage in Heilbronn: „Weit Blick“ mit neuen künstlerischen Formaten

von Elisabeth Maier

Erschienen in: Theater der Zeit: BRACK IMPERieT – „Hedda Gabler“ von Vegard Vinge und Ida Müller in Oslo (09/2022)

Assoziationen: Theaterkritiken Baden-Württemberg

Statt dröger Dokumentation ein märchenhaftes Szenario zur Sensibilisierung für Umweltzerstörung: die Uraufführung „Waste!“ von Gianina Cărbunariu in eigener Regie vom Schauspiel Stuttgart bei den 25. Baden-Württembergischen Theatertagen in Heilbronn.
Statt dröger Dokumentation ein märchenhaftes Szenario zur Sensibilisierung für Umweltzerstörung: die Uraufführung „Waste!“ von Gianina Cărbunariu in eigener Regie vom Schauspiel Stuttgart bei den 25. Baden-Württembergischen Theatertagen in Heilbronn.Foto: Björn Klein

Anzeige

Anzeige

Vom Turm des Einkaufszentrums K3 in Heilbronn schweift der Blick über Weinberge und Industrielandschaften. Dann steigt weißer Nebel auf. Die Sicht verliert sich in milchig-weißem Dampf. Plötzlich ist da nur noch Chaos. Bei den 25. Baden-Württembergischen Theatertagen lenkte das Kollektiv Rimini Protokoll den Blick auf Widersprüche in der Stadtgesellschaft. „Remote Heilbronn“ heißt die Produktion, mit der Stefan Kaegi und Jörg Karrenbauer die Macht der Künstlichen Intelligenz ausloten – dieses Format haben sie bereits in vielen Städten erprobt. Eine Gruppe von 30 Teilnehmer:innen – ausgestattet mit Kopfhörern und Empfänger – ließ sich von einer warmen Stimme durch die Stadt führen. Wie viel Macht darf eine Maschine über die Menschen gewinnen? Bei dem Selbstversuch suchte jeder und jede die Antwort für sich selbst. Weit Blick lautete das Motto, das Intendant Axel Vornam für das Festival ausgewählt hatte. Mehr als 30 Produktionen zeigten Staats-, Stadt- und Privattheater aus dem Land an den zehn Tagen.

Den eigenen Horizont zu weiten, hat sich auch das Theater Heilbronn zum Ziel gesetzt. In der Stadt mit rund 126 000 Einwohnern leben Menschen aus 140 Nationen. Solche kulturelle Vielfalt fordert die Theatermacher heraus, neue Formate für die Stadt am Neckar zu erproben, in der Zukunftsfragen gesellschaftliche Diskurse prägen. Um mehr Menschen zu erreichen, gingen die Theatermacher dafür in den öffentlichen Raum. Das Festival begann mit dem Straßentheater „Falsche Propheten“. Nils Brück hat das Spektakel inszeniert, bei dem das Publikum Vordenkern wie Galileo Galilei, Nostradamus, Alice Schwarzer und Greta Thunberg folgte. In einem amerikanischen Flitzer zogen sie im Schritttempo durch die Fußgängerzone, begleitet von der Band Brass2Go. Mit viel Witz und einem feinen Händchen für die Kunst des Komischen setzte Brück die Akteure nach dem Vorbild der Redner im Londoner Hyde Park in Szene. Wie in der legendären Speaker’s Corner lieferten sich die Akteure philosophische Battles. Stefan Brandtmayr hat sie mit farbenfrohen Fantasiekostümen ausgestattet, die diese abenteuerliche Zeitreise spiegeln. In seiner knallgelben Warnweste machte der alte Galilei eine gute Figur. Grob gezeichnet war dieses Eröffnungsspektakel, doch das war auch so gewollt. Etliche Passant:innen schauten, blieben stehen und schlossen sich spontan dem Theaterzug durch die Stadt an.

„Die Theatertage sind für uns eine Chance, neue Publikumsschichten zu erreichen“, ist Intendant Vornam überzeugt. Deshalb öffneten er und sein Team sich mit neuen Formaten wie diesem in die Stadt hinein. „Unsere Aufgabe als Künstler:innen ist es, dass wir uns den drängenden Zukunftsfragen stellen.“ Dazu bedarf es aus Vornams Sicht eines Zusammenspiels vieler Akteure. Beherzt müsse das Theater da die gewohnten Pfade der Kunst verlassen und sich auf neue Wege einlassen. In Heilbronn hat der Intendant da vieles bewirkt. Ein Motor der Entwicklung ist das Wissenschaftscenter Experimenta, das Jung und Alt mit den neuesten Forschungsergebnissen vertraut macht. Mit einem Wissenschaftstheaterfestival und Gesprächsrunden kooperieren die Bühne und die Forscher.

Das Stück „Schwarze Schwäne“, mit dem Christina Kettering den vom Theater ausgelobten Wettbewerb Science & Theatre gewann, hat Elias Perrig im Science Dome der Experimenta in ein digitales Universum übertragen. Zwei Schwestern, die an der Pflege ihrer Mutter zerbrechen, werden durch einen Pflegeroboter mit dem Verlust ihrer Existenz konfrontiert. Klug zeigt Perrig, wie der Humanoide die Macht ergreift. Franziska Nyffelers Videokunst und Animation spiegelt innere Prozesse, in denen sich die beiden Frauen verheddern. Der Spagat zwischen einem selbstbestimmten Leben und der verzweifelten Heilssuche bei der Künstlichen Intelligenz gelingt Regina Speiseder und Lisa Schwarzer tiefenscharf. „Wir vernetzen uns mit den Wissenschaftlern, um neue Impulse für das Theater zu bekommen“, bringt Axel Vornam sein Ziel auf den Punkt. Im Rahmen des Festivals hat der Intendant auch eine Gesprächsreihe initiiert, in der es um Klimagerechtigkeit und um andere Zukunftsfragen ging. Das kam beim Publikum wie auch bei den Gästen von den baden-württembergischen Bühnen gut an.

„Die Relevanz des Theaters für die Stadtgesellschaft zeigen“ war das Ziel von Vornam und der Festivalleiterin Deborah Raulin. Mit dem Projekt Youtopia setzte das Heilbronner Theater da einen besonderen Akzent. Um zu erfahren, was die Menschen in der multikulturellen Stadt bewegt und wie sie sich ihre Zukunft vorstellen, hat die Radiojournalistin Katja Schlonski Passant:innen befragt. Im knallgelben Container mit der schwarzen Schrift, den Ausstatter Stefan Brandtmayr gestaltet hat, sprach sie mit Bürger:innen aus ganz unterschiedlichen Lebensumfeldern. „Raus aus der eigenen Blase“ war das Ziel dieses Stadtrechercheprojekts. „Dabei habe auch ich eine Sicht auf die Stadt bekommen, die mir bisher fremd war“, sagt Schlonski, die das Konzept gemeinsam mit der Dramaturgin Sophie Püschel entwickelte. Der Journalistin war es wichtig, auch die Menschen aufzusuchen, die sonst keine Stimme haben – zum Beispiel Inhaftierte in einer Justizvollzugsanstalt.

Aus den Mitschnitten hat sie Audiocollagen zusammengestellt. Wer auf einer der Hörinseln auf dem zentralen Platz vor der Kilianskirche oder am Theater Platz nahm und die Kopfhörer aufsetzte, bekam Einblicke, die tief berührten. Ein Mann, der für ein paar Euro in einer Döner-Bude arbeitete und dem nachts die Ratten an den Fingern knabberten, fragt nach Menschenwürde. Um den Bestand des Familienunternehmens sorgt sich die Geschäftsfrau, deren Familie nicht mehr viel auf Traditionen gibt. „Wichtig war es mir, nachzuhaken, die richtigen Fragen zu stellen“, sagt Katja Schlonski. Für jedes einzelne Gespräch nahm sie sich viel Zeit. So ist in wochenlanger Recherchearbeit ein Porträt der Stadtgesellschaft entstanden, das auch Heilbronns Oberbürgermeister Harry Mergel als Quelle für die künftige Stadtentwicklung nutzen will.

Pandemiebedingt stand Intendant Vornam 2021 vor der schweren Entscheidung, die Theatertage um ein Jahr zu verschieben. „Manche Kollegen haben das nicht verstanden. Doch aus heutiger Sicht war die Entscheidung richtig.“ Dennoch gab es auch bei dieser Auflage einige Vorstellungsausfälle wegen Erkrankungen in den Ensembles. Dem lebendigen Diskurs, der sich rund um das Festivalzelt vor dem Theater am Berliner Platz entspann, tat das keinen Abbruch.

Staats-, Landes-, Stadt- und Privattheater lenkten mit ihren Produktionen den Blick auf politische Entwicklungen, die Risse in der Gesellschaft zeigen. Da griff Regisseurin Franziska Autzen mit Heinrich Bölls „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ eine Erzählung aus dem Jahr 1974 auf, die zwar nicht mehr ganz aktuell ist. Die vier Schauspieler:innen Johanna Link, Hanna Eichel, Sebastian Haase und Ioachim-Willhelm Zarcuela filterten aus dem moralinschweren Text des Literatur-Nobelpreisträgers hochaktuelle Gedanken. Da geht es um eine Frau, die an den Rand ihrer Existenz gedrängt wird, weil sie einem Verbrecher zur Flucht verholfen haben soll. „Katharina Blum oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann“ lautet der Titel der starken Bühnen- fassung, die Mechanismen der Macht und Meinungsterror untersucht. Die junge Frau, die bei Böll dem Rufmord der Bild-Zeitung zum Opfer fiel, findet sich im 21. Jahrhundert in den Fängen einer undurchsichtigen Medienwelt wieder. Klug legt Autzens Regie den Finger in die Wunden einer Zeit, in der die Menschen ihr Recht auf ein selbstbestimmtes Leben verlieren.

Zu diesem Zerfall tragen auf anderer Ebene auch der Klimawandel und die Umweltzerstörung bei. Mit der Uraufführung von „Waste!“ der rumänischen Regisseurin Gianina Cărbunariu sensi- bilisierte das Staatsschauspiel Stuttgart das Publikum da für ein Thema, über das in den Medien eher geschwiegen wird. In der Stückentwicklung geht es um die europäische Industrie, die aus Müll Zement herstellt. Abfälle der westlichen Länder werden nach Rumänien gekarrt – ein Beispiel dafür ist die Firma Heidelberg-Cement, die in dem Land mehrere Fabriken betreibt. Da dieses Recycling erhebliche Schäden an den Menschen und der Umwelt verursacht, schieben die reichen Staaten die Produktion einfach ab. Statt dröger Dokumentation hat sich die rumänische Regisseurin da für ein märchenhaftes Szenario entschieden. Trotz ihrer inhaltlichen Qualität gleitet die Produktion zu stark ins Skurrile ab. In den schrillen Öko-Zirkus verirrt sich ein Pfau, der dem Publikum wie auch seinen Mitspieler:innen die Welt erklärt. Sebastian Röhrle meistert diese Gratwanderung mit Humor. Dennoch verlieren sich die starken Ansätze zu sehr in den verführerischen Bildern.

Die Chance, sich zu vernetzen, haben die Theaterschaffenden aus Baden-Württemberg bei dem Festival rege genutzt. Mit Berufsgruppengesprächen und einem Stipendienprogramm für junge Theaterschaffende hat das Theater Heilbronn da eine Vielzahl von Möglichkeiten geboten. Knut Spangenberg, der sich an der Esslinger Landesbühne um Dramaturgie und Öffentlichkeitsarbeit kümmert, fand es spannend, mit seinen Kolleg:innen von anderen Häusern über Chancen und Grenzen des digitalen Wandels nachzudenken und zu diskutieren. Da wünscht er sich an den Theatern noch mehr Offenheit und Lust am Experiment – etwa, was die Arbeit mit sozialen Medien angeht. Er profitierte von der Zusammenarbeit der Bühnen im Land. Das sieht auch Tonio Kleinknecht so. Der Intendant des Theaters Aalen richtet die nächsten Theatertage aus – wegen der einjährigen Pause finden sie bereits 2023 statt. Die kleine Bühne von der Ostalb hat erst vor einem Jahr ihr neues Domizil im Kulturbahnhof bezogen, das sie sich mit der Musikschule, einem Programmkino und anderen Institutionen teilt. Die Vorteile dieses Konzepts möchte er seinen Kolleg:innen von den Bühnen im Land nahebringen: „Unser Theater steht mitten in der Gesellschaft.“ //

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"
Recherchen 163 "Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny  im Spiegel von Mythos und Religion"
Passionsspiele Oberammergau 2022
"Theater der Vereinnahmung"
Recherchen 156 "Ästhetiken der Intervention"
"Theater unser"
"Pledge and Play"