Auftritt
Bern: Die Entzifferung des Verworfenen
Konzert Theater Bern: „Die Reise von Klaus und Edith durch den Schacht zum Mittelpunkt der Erde“ von Lukas Bärfuss. Regie und Bühne Claudia Meyer, Kostüme Barbara Kurth
von Harald Müller
Erschienen in: Theater der Zeit: Schauspiel Leipzig – Martin Linzer Theaterpreis 2017 (06/2017)
Assoziationen: Bühnen Bern
Das Konzert Theater Bern kündigt die Schweizer Erstaufführung eines Stücks von Lukas Bärfuss an, welches man nicht kennt – das erstaunt. Es stellt sich heraus, es ist ein bereits 2001 in Bochum uraufgeführtes Werk. Samuel Schwarz, mit dem Bärfuss damals die Theatergruppe 400asa gegründet hatte, die mit brisanten politischen Inhalten und innovativer Ästhetik für Furore sorgte, brachte das Stück zur Aufführung. Seitdem wurde es in den Dramaturgiestuben unbeachtet nach hinten gelegt. Weshalb auch immer, aber es war ein Fehler.
Bärfuss, der in den letzten Jahren vor allem Frontberichte aus dem Schweizer Kulturkrieg geliefert und die Natur der konservativen Revolution dargestellt hat, die den Massen christlich-kriegerische Spektakel bietet und Wohltaten an die Reichen verteilt, der die Korruption der öffentlichen Debatte, die Verdrängung jeder Sache, um die es sich lohnt zu streiten, anprangerte, schrieb mit „Die Reise von Klaus und Edith durch den Schacht zum Mittelpunkt der Erde“ ein Theaterstück, welches an die Dramengeschichte der fünfziger und sechziger Jahre erinnert: an die Häftlingspsychosen bei Sartre und Genet, auch an Anouilh. Er überhöht eine dramatische Familiengeschichte zur parabelhaften Allegorie und spendiert, das soll gleich gesagt sein, einen ganz und gar überzeugenden Theaterabend, der all jenen gefallen wird, denen die derzeit fast schon wieder üblichen Theatermittel handelsüblicher Hysterien und Krawalle, rasch herbeizitierbarer Geschmacksverstärker und Bedeutungsaufpumper, das grauenhaft-routinierte Spiel der Selbstreferenzialität zuwider sind.
In der zimmerlichen Enge der Vidmarhallen am Rande Berns erleben wir ein Geschwisterpaar, Edith und Klaus, seltsam ineinander verkeilt. Von ihrem Liebsten, der tot ist, ist die Rede; von der Anstalt, in die sie eingewiesen wurde, auch. Jetzt betreut sie der Bruder, das heißt: beherrscht, schlägt, liebt (?) sie. Eine zweite männliche Person taucht auf, die sich Edith nähert und auch offenbart, die sich jedoch sofort wieder entfernt, als sie Ediths dunkles Geheimnis erahnt. Hier liegt die Gefahr des melodramatischen Kitsches sehr nahe. Aber die Regisseurin des Abends, Claudia Meyer – eine sehr gestisch arbeitende Spielleiterin, die den Figuren viel Raum und Zeit gibt, die auch für die Bühne verantwortlich zeichnet und die Tücken der Liebe wie die der Zylinderkopfdichtung kennt – hat zwei tolle Schauspieler zur Verfügung: Irina Wrona und, ihr fast ebenbürtig, Stéphane Maeder. Gemeinsam begegnen sie den Untiefen und der Luzidität des – sagen wir einmal – Fragments mit ihrer eigenen Sprachlosigkeit und in einer Weise, die die Existenzweisen der Geschwister aus der Gefängnisruine der Schrift in eine subtil-aufregende Klanglichkeit zurückführt – unterstützt durch die musikalische Soundkulisse, die Michael Wilhelmi live einspielt.
Den Darstellern gelingt es in ihrem experimentellen Voranschreiten, das Bärfuss’sche Stück nicht seiner Kunst zu berauben, vielmehr es neu zu entziffern und das scheinbar Aufgegebene, das Verworfene zu finden und überzeugend darzustellen. Einmal – wenn ich mich recht entsinne, bei Minute 45 – beschreibt Wrona mit dem Zeigefinger der neben ihrem Leib ruhenden Rechten eine Geste, die in ihrem Minimalismus so erstaunlich ist, dass man sofort ein ausgedehntes Gelände vor Augen hat, auf dem ein Monumentalfilm in Cinemascope gedreht wird. Der Berner Abend bleibt bei einer Stunde vierzig Minuten stehen; das ist nicht zu kurz, um in tiefere Schichten menschlicher Existenz vorzudringen. //