1. Einleitung
Im Oktober 2015 wurde Arnold Schönbergs unvollendet gebliebene Oper Moses und Aron an der Opéra national de Paris aufgeführt, in der Regie von Romeo Castellucci. Am Ende des ersten Aktes – während Moses abwesend ist, um auf dem Tafelberg die zehn Gebote zu empfangen – gehen die Israeliten ihrem Bedürfnis nach, ein Götzenbild zu schaffen: ein stellvertretendes Zeichen für einen Gott, den sie weder mit ihren Augen noch mit ihren Händen begreifen können, weil er allein in ihrem Glauben aufgehoben sein soll. Moses’ Bruder Aron stiftet durch Zauber ein goldenes Kalb – und siehe da: Bei Castellucci ist es ein imposanter (lebender!) weißer Stier, der in das rauschhafte Ritual miteinbezogen und zum Gemeinschaft generierenden Symbol, zur vorübergehenden Projektionsfläche und Bezugsgröße für eine Gruppe wird, die sich allein durch ihren Glauben an den von Moses verkündeten Gott als zusammengehörig begreifen und die Herausforderungen eines Exils in der Wüste meistern soll. Am Ende des zweiten und letzten Akts, während der schwarze Gazevorhang sich bereits auf ihn herabsenkt, stammelt der Darsteller des Moses in den sich verdunkelnden Bühnenraum, begleitet von einem langgezogenen Einzelton: „O Wort! Du Wort, das mir fehlt!“ Damit endet die Oper, deren dritten Akt Schönberg nicht mehr vertont...