4. Benjamin, Lacan, Deleuze: Narziss ± Ikarus
von Sebastian Kirsch
Erschienen in: Das Reale der Perspektive – Der Barock, die Lacan’sche Psychoanalyse und das ‚Untote‘ in der Kultur (07/2013)
Es gibt auch noch eine mathematische Version des »vertex«, des »Scheitel-« oder »Wendepunktes«: Als »Inflexion« gehört er in den Bereich der Kurvendiskussionen und der Infinitesimalrechnung, genuine Produkte der barocken Mathematik, zu deren wichtigsten Schöpfern Leibniz gehört. Sechzig Jahre nach Benjamin hat Gilles Deleuze die Inflexion zur Einsatzstelle genommen, um von ihr aus seine Version des Barock, und speziell der Philosophie von Leibniz, zu konstruieren.61 In der Inflexion scheitelt sich die Linie bzw. Kurve, schlägt um, faltet sich; sie ist darum ein Punkt mit der paradoxen Eigenschaft, gleichzeitig eine Krümmung oder eben eine Falte zu sein: der »elastische Punkt« oder der »Falte-Punkt«, wie Deleuze ihn nennt (F 29). Deleuze versteht die Falte als operativen Kern, als Potential, aus dem heraus der Barock seine mannig-faltigen, ins Unendliche wuchernden Artefakte produzieren kann. Insofern stellt aber auch die Falte ein – wenn auch sehr eigentümliches – begriffliches Einheitskriterium für den Barock dar, und auch die anderen Bestandteile des Zickzackmusters lassen sich in Deleuzes Leibniz-Buch wiederfinden: Der zugehörige Innenraum ist diesmal Leibniz’ Monade, die sich einerseits als abstraktes erkenntnistheoretisches Modell darbietet, andererseits gleich im ersten Kapitel in der alltäglichen Architektur des »barocken Hauses« wiederentdeckt wird. Später spricht Deleuze vom Moment der barocken Krise, die in...