„Alle großen Gedichte haben den Wert von Dokumenten. In ihnen ist die Sprechweise des Verfassers enthalten, eines wichtigen Menschen“, postulierte Brecht 1927 in seinem „Kurzen Bericht über 400 (vierhundert) junge Lyriker“. Was für Sprechweisen dokumentieren nun die Aufnahmen der 1998 von Siegfried Unseld zusammengestellten „100 Gedichte“ Brechts durch den Regisseur Torsten Feuerstein mit Katharina Thalbach und Sylvester Groth? Beide haben Brecht auf der Bühne gespielt und gesungen, beide kennen sich mit Balladen und Bänkelsang, mit Elegien und Epigrammen aus. Aber: „Voller Saal klingt besser“, wusste schon Toscanini. Vor dem Mikrofon ist es einsam, und bis auf Zuspruch und Kritik von Regie und Ton dringt wenig durch die schalldichten Wände des Studios. Deswegen sind Aufnahmen dieser Art immer ein Risiko, zumal Gedichte in Rudeln sich oft gegenseitig wegbeißen.
Außerdem haben viele Brecht-Hörer noch immer die klassischen Interpretationen von Helene Weigel und Therese Giehse, von Ernst Busch und Wolf Kaiser im Ohr. Aber Siegfried Unselds Auswahl erleichtert beiden Sprechern, die Gedichte Brechts für ein heutiges Publikum hörbar zu machen. Von den frühen Natur- und Liebesorgien in der Tradition Villons und Rimbauds über die agitatorisch-strengen Verse der Lehrstück- und Kampfgedichte bis zu den Elegien des amerikanischen Exils und des Buckower Refugiums sind alle...