Theater der Zeit

Editorial

von Johannes Odenthal

Erschienen in: das tanzhaus nrw – Von der Utopie zum Modell für die Zukunft (12/2013)

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Dieses Buch ist ein Arbeitsbuch. Es wurde geschrieben von denjenigen, die mit ihrem alltäglichen praktischen Engagement und mit ihren unendlichen Erfahrungen den höchst komplexen Organismus tanzhaus nrw lenken, weiterentwickeln und erfolgreich machen. Es ist ein Buch von innen nach außen, das erstmals in gedruckter Form darstellt, was sich als „beste Praxis“ in 35 Jahren als zukunftsfähige institutionelle Struktur geformt hat. Es ist eine Art reflektierenden Innehaltens in der atemberaubenden Expansion von Ideen, die in Programmen der Kunstproduktion, der kulturellen Vermittlung und der Bildungsarbeit immer Wirklichkeit geworden sind. Es ist kein theoretischer Auftrag und auch keine diskursive Positionierung, die das tanzhaus nrw zu einem internationalen Vorbild geformt hat, sondern die konkrete Reaktion auf gesellschaftliche und kulturelle Defizite, auf Leerstellen in der so hoch subventionierten Kultur- und Bildungslandschaft Deutschlands. Mit anderen Worten: Die Werkstatt ebenso wie ihr Nachfolger, das tanzhaus nrw, hat immer aus gesellschafts- und kulturpolitischer Notwendigkeit heraus gehandelt.

Zu vergleichen ist das tanzhaus nrw in seiner Struktur mit der von Gilles Deleuze und Félix Guattari geprägten Metapher des Rhizoms. Im Gegensatz zu dem Baum des Wissens, der hierarchisch und in Dichotomien organisiert ist, operiert das vielwurzelige Geflecht der Rhizome in Kreuzungen, Überschneidungen und Parallelentwicklungen. So entfalten sich die zahllosen Kurse im Tanzhaus parallel zu den internationalen Gastspielen, den Schulprojekten oder Auftragsproduktionen. So stehen Aufführungen von Jugendlichen und Laientänzern neben den Meisterklassen und Gastspielen der professionellen Szene. So kreuzen sich internationale Netzwerke mit regionalen Initiativen und Konferenzen mit der tänzerischen Praxis von Säuglingen oder Senioren. Die für den Außenstehenden verwirrende Vielfalt ist nicht hierarchisch organisiert, so wie in den anderen Theatern und Tanzhäusern Europas, sondern eben wie Rhizome. Diese ungewöhnliche Arbeitsweise ist eindeutig geprägt von der Entstehungsgeschichte der Werkstatt in den 1970er Jahren, vor allem aber von der Persönlichkeit Bertram Müller. Als Theologe, Psychologe und Kulturmanager, als Kurator und Therapeut konnte er sich nie auf einen dogmatischen Kunstbegriff, auf eine Ästhetik festlegen, wie das fast alle Intendanten oder Kuratoren in Deutschland und Europa getan haben. Für ihn war die Gruppe der orientalischen Tänzerinnen ebenso wichtig wie die Jugendlichen in gesellschaftlichen Brennpunkten, die freien Choreografen in Nordrhein-Westfalen oder die Stars der internationalen Szene. Aus einer gesellschaftspolitischen oder einer psychologischen Perspektive gewinnt die aktuelle Tanzszene ein ungeheures Potenzial für Veränderung sowohl auf einer individuellen als auch auf gesellschaftlicher Ebene. Diesen Möglichkeitssinn zu schärfen, zu unterstützen und zu entwickeln ist zu einem Leitmotiv der Werkstatt und des tanzhaus nrw geworden. Aber eben nicht auf einer theoretischen, sondern ganz konkret auf einer praktischen Ebene.

Das vorliegende Buch ist aus diesem Grund zum größten Teil aus einer Innenperspektive geschrieben worden, von Mitarbeitern, die die verschiedenen Inhalte und Formate entwickelt und in die Realität umgesetzt haben. Als Leser erwarten Sie subjektive Erinnerungen und Wertungen, dafür aber authentisch von denen geschrieben, die die tägliche Praxis des tanzhaus nrw und seiner Entwicklung hautnah selbst miterlebt haben und deshalb erinnern, was war, aus welchen Impulsen, situativen Kontexten, Zufälligkeit und Vision heraus es entstanden ist.

Im ersten Teil kommen diejenigen zu Wort, die ganz persönlich, aber auch stellvertretend für ihre Institution die Entwicklung des tanzhaus nrw in entscheidender Weise gefördert und politisch abgesichert haben. Sie haben sich in besonderer Weise persönlich engagiert und wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass besonders der zeitgenössische Tanz wertvolle Impulse für die Gegenwart und Zukunft unserer Gesellschaft bereithält, die nicht ohne Weiteres kommerzialisierbar sind und deshalb einer besonderen Förderung durch die öffentliche Hand bedürfen.

Weitere Wegbegleiter des tanzhaus nrw, deren Anregungen und kollegialer Zusammenarbeit wir weit mehr verdanken, als hier zum Ausdruck kommen kann, äußern sich mit persönlichen Statements im weiteren Verlauf des Buches.

Im zweiten Teil wird das tanzhaus nrw in einem erweiterten kulturpolitischen Kontext positioniert. Was über viele Jahre aus persönlicher Neugier, durch Zufall, politischen Instinkt, Beharrlichkeit und Weitsicht in der Praxis entstanden ist, erscheint in einem gesamtgesellschaftlichen und politischen Kontext zukunftsweisend.

Im dritten Teil zeichnen langjährige Mitarbeiter des tanzhaus nrw aus ihrer persönlichen Erfahrung sowie auf Basis einer historischen Recherche die fünf inhaltlich und strukturell wichtigsten Bereiche des tanzhaus nrw in ihren Entwicklungen nach. Dabei stellen sie Dozenten und Künstler vor, die das Profil des tanzhaus nrw in besonderer Weise geprägt haben, und legen vor allem die Entwicklung der verschiedenen neuen Formate, die inhaltlichen Schwerpunkte wie auch die künstlerischen und pädagogischen Anliegen des tanzhaus nrw dar.

In Teil vier sind Themen zusammengefasst, die sich besonders mit organisatorischen und kulturpolitischen Fragen der Entwicklung eines Tanzhauses beschäftigen. Schließlich ist das tanzhaus nrw das erste in Architektur umgesetzte Modell, in dem die wichtigsten Bereiche des Tanzes unter einem Dach so vereint sind, dass diese möglichst leichtfüßig miteinander in Verbindung kommen und sich gegenseitig inspirieren können. Der Beitrag „tanzhaus nrw ökonomisch“ soll einen Einblick in die wiederholt existenziell bedrohliche finanzielle Lage einer Institution jenseits öffentlicher Trägerschaft geben. Er soll alle ermutigen, der Stärke ihrer persönlichen Vision Vertrauen zu schenken, dass sich auch ökonomische Probleme mit Beharrlichkeit und kommunikativer Kompetenz in vielen kleinen Schritten lösen lassen.

Schließlich finden Sie im Anhang Dokumente und Artikel, die zum Verständnis vor allem der Anfänge beitragen sollen. Das vorliegende Buch ist eine erste schriftliche und in vieler Hinsicht unvollständige Momentaufnahme am Ende der Aufbauarbeit und einer wichtigen personellen Zäsur des tanzhaus nrw. Es ist gedacht als eine mögliche Zusammenfassung des bisher Entwickelten und als Basis für die weitere Profilierung des tanzhaus nrw als regionale und überregional wirkende Institution zur Vermittlung zeitgenössischer Tanzkunst.

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