Theater der Zeit

Magazin

„Es gibt kein Kinder- und Jugendtheater als eigene Sparte“

Fazit der 27-jährigen Ära Podt / Schmidt an der Münchner Schauburg

von Christoph Leibold

Erschienen in: Theater der Zeit: Schauspiel Leipzig – Martin Linzer Theaterpreis 2017 (06/2017)

Assoziationen: Kinder- & Jugendtheater

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„Es gab in all den Jahren kaum Denkverbote bei uns. Nicht erlaubt aber war, auf der Probe zu fragen: Verstehen das die Kinder?“ 27 Jahre ist Dagmar Schmidt als Chefdramaturgin der Münchner Schauburg gemeinsam mit ihrem Mann und Intendanten George Podt dem Auftrag der Stadt nachgekommen, „realitätsbezogenes Kinder- und Jugendtheater“ zu machen. „Aber das“, erklärt der Intendant, „haben wir nie in dem Sinn wörtlich genommen, dass wir deswegen eins zu eins die Probleme junger Menschen abgebildet hätten. Unsere Arbeit war gesellschaftsorientiert.“ Und so wurde der Spielplan der Schauburg nicht von Pubertätsdramen dominiert, sondern eher von Texten klassischer Autoren: von Shakespeare und Büchner, Strindberg, Storm und Hauptmann oder Ionesco und Nadolny.

„Kompliziertheit statt Vereinfachung!“ lautete das Motto. Und: „Fragen statt Antworten!“ Denn „die Antwort“, sagt Schmidt, „ist immer eine Lüge. Die Frage hält neugierig. Auszuhalten, dass es keine Antworten gibt, ist der erste Schritt zur Toleranz.“

Dass diese Überzeugung neben einem inhaltlichen Ansatz auch ein ästhetisches Konzept beschreibt, wurde noch einmal in der letzten Inszenierung Beat Fähs eindrucksvoll sichtbar. Der Schweizer Theatermann war einer der prägenden Regisseure der nun zu Ende gehenden Ära Podt/Schmidt. Zum Abschied (nicht nur von der Schauburg, sondern von der Regie überhaupt!) adaptiert er Fellinis Filmklassiker „La Strada“. Der Schausteller Zampanò zieht mit einer Entfesselungsnummer übers Land. Er legt sich Ketten an und sprengt sie, derweil das Mädchen Gelsomina, das er wie eine Sklavin behandelt, ihm assistiert und die Trommel schlägt. Stück wie Film erzählen von den inneren Fesseln des Menschen, aber auch von dem, was Menschen aneinanderkettet; und von einer Welt, in der den Menschen nichts und alles geschenkt wird. Bei Fäh ist diese Welt ein rotes Zirkusrund, in dem ein siebenköpfiges Ensemble geschmeidig zwischen Erzähltheater und Rollenspiel wechselt, dabei szenisch vieles in der Andeutung lässt, um zugleich präzise Porträts der Figuren zu zeichnen, die ungemein viel davon erlebbar machen, was es überhaupt heißt, ein Mensch zu sein. Ein Abend, mutig wie ein Hochseilakt. Nicht nur, weil die auch artistisch begabten Akteure die Magie der Manege beschwören, indem sie waghalsig in Rhönrädern turnen; sondern vor allem, weil er in seiner Reduktion die Fantasie des Publikums fordert. Ebenso „die Vorstellungskraft der Schauspieler“, wie Thorsten Krohn ergänzt, der als Furcht einflößender Zampanò tief dunkel glänzt.

Krohn war bereits zu Beginn der Ära Podt / Schmidt an der Schauburg, zwischendurch hat er auch mal sechs Jahre bei Roberto Ciulli in Mülheim gespielt. Stets hat es ihn aber an die Schauburg zurückgezogen, wo er auch Regie führte (u. a. bei „20 000 Meilen unter dem Meer“ nach Jules Verne). Die Art, wie die Schauburg immer wieder Fantasieräume in den Köpfen ihrer Zuschauer öffnete, bedient für Krohn „die Urkraft von Theater“. Ähnlich sieht das Lucca Züchner, eine hinreißende Gelsomina in „La Strada“, naives und zugleich wissend-weltkluges Kind. „Ich wurde an der Schauburg als Schauspielerin erfunden“, sagt sie. Die wichtigste Lektion, die sie seit Beginn ihres Engagements 2010 gelernt habe: „Wenn uns als Macher etwas im Herzen bewegt, wird es auch unser Publikum berühren. Oft wird Kindern das Abstraktionsvermögen abgesprochen. Wir haben hier immer wieder das Gegenteil erlebt.“

Daher: Nur keine Unterforderung! Klar, Vorstellungen an der Schauburg dauerten selten länger als neunzig Minuten, um die Aufnahmefähigkeit des jungen Publikums nicht über Gebühr zu strapazieren. Das war’s aber auch schon an Zugeständnissen. „Theater ist ein Spielplatz mit Hilfestellung fürs Leben“, glaubt Intendant Podt. „Man spielt und entdeckt doch viel dabei“. Beispiele sind schnell gefunden, die davon zeugen, dass es für Jung und Alt gleichermaßen bereichernd war, sich dort zu tummeln: Beat Fähs „Sommernachtstraum“-Verschlankung in der Regie von Peter Ender, für die im Jahr 2000 ein hölzernes Shakespeare-Globe en miniature in die Schauburg gezimmert wurde, in dem die Zuschauer Platz nehmen konnten. Oder Gil Mehmerts Inszenierung von Arthur Millers Einwandererdrama „Ein Blick von der Brücke“ aus dem Jahr 2003, in einem bestechend einfachen, umso eindrücklicheren Bühnenbild aus immer neu gruppierten Koffern. Peer Boysens Inszenierung von Tankred Dorsts „Grindkopf“ wäre 1995 fast zum Berliner Theatertreffen eingeladen worden. Boysen, seit „Der Sohn des Chao“ 1990 von Anfang an mit dabei, bereicherte mit seinem Faible für Figurentheater, das er ins Schauspiel integrierte, den Spielplan um eine weitere Facette. Zum Abschluss wird er nun noch den „Fliegenden Holländer“ inszenieren. Als Abschiedsgeschenk.

Das Wort „Geschenk“ fällt auffallend oft im Gespräch mit der scheidenden Schauburgmannschaft. Schauspielerin Lucca Züchner verwendet es (gleich mehrmals) ebenso wie Chefdramaturgin Dagmar Schmidt, für die dieses Geschenk darin besteht, „dass wir hier 27 Jahre machen konnten, was uns interessiert hat“. Thorsten Krohn spricht sogar von „Gnade“.

Nur am Anfang, so Schmidt, sei die Unterstellung „nervtötend“ gewesen, „wir würden hier Erwachsenentheater anbieten“. Heute kann George Podt gelassen feststellen: „Es gibt kein Kinder- und Jugendtheater als eigene Sparte“. Nur ein Theater, das Fragen stellt, die junge Menschen ebenso bewegen, wie Erwachsene. So einfach ist das. Und ausnahmsweise mal gar nicht kompliziert. //

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