Verse sprechen – Ein gleiches
von Viola Schmidt
Erschienen in: Mit den Ohren sehen – Die Methode des gestischen Sprechens an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin (04/2019)
Freiere Versformen setzten sich zunehmend durch. Am 6. September des Jahres 1780 schrieb Goethe ein Gedicht auf die Bretterwand einer Jagdhütte im Thüringer Wald. Wir werden auch noch an anderer Stelle einen Blick auf dieses Gedicht werfen. Die „Ein gleiches“ betitelten acht Verszeilen stehen im Zusammenhang mit dem Gedicht „Wandrers Nachtlied“. Der Titel „Ein gleiches“ bezieht sich auf dieses andere Gedicht bzw. auf seine Überschrift:
Ein gleiches
Über allen Gipfeln
Ist Ruh;
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.178
Die Verse erscheinen wie eine Strophe. Wir finden in den ersten vier Zeilen einen alternierenden Reimvers mit wechselnden Hebungen bei unterschiedlich langen Versen. Das Reimschema wechselt nach dem 4. Vers von einem Kreuzreim auf einen umgreifenden Reim, das Versmaß nach den ersten vier Zeilen von zweisilbig auf dreisilbig. Die Anordnung der Vers- und Sprechtakte lässt Varianten zu. Es gelingt uns nicht, das Gedicht in eine rhythmische Form zu pressen. Der erste Vers ist trochäisch: Über allen Gipfeln. Das Versmaß lässt sich nicht geschmeidig in die zweite Verszeile überführen. Die Zeile springt auf einen Spondeus, ließe sich aber auch als Jambus sprechen. Der unvollständige erste Vers und das Enjambement...