Festivals
Menetekel einer destruktiven Gesellschaft
Ungeschönt und eindringlich blicken die Wiener Festwochen auf Arbeit, Armut und moderne Sklaverei in einer von Produktivitätssteigerung besessenen Welt
Assoziationen: Wiener Festwochen
Wann wird es wieder normale Zeiten geben? Gab es sie jemals? Zumindest organisatorisch lief in der Theaterwelt vor der Pandemie alles wie am Schnürchen. Der Festivalkalender schnurrte ab, Reibungsverluste aufgrund personeller Änderungen steckte man weg. Aber in Wien kam in den letzten Jahren alles zusammen. Denn für Christophe Slagmuylder sind es nun die dritten Ausnahme-Festwochen, die er verantwortet. Nach seinem kurzfristigen Einspringen für den geschassten Vorgänger Tomas Zierhofer-Kin 2019 und dem darauffolgenden Corona-Jahr ist der belgische Festivalmacher auch 2021 von einem Normalbetrieb weit entfernt. Die üblicherweise knapp sechs Wochen lang im Mai und Juni die Stadt überziehenden Festwochen müssen in diesem Jahr, den wechselnden Gesundheitsrichtlinien auf den Fersen, das angestaute Programm abstottern, so gut es geht.
Wurde im Vorjahr das pandemiebedingt nicht stattfindende Programm teilweise durch gestreamte Videobotschaften („Gesten“) der Künstlerinnen und Künstler ersetzt, so durfte in Österreich heuer immerhin ab 19. Mai vor Livepublikum gespielt werden. Normal ist dennoch nichts. Die international vage Gesundheitslage sowie die unsicheren Reise- und Spielmöglichkeiten haben nunmehr eine auf zwei Tranchen zerdehnte Festwochen-Edition ergeben, deren erster Teil Mitte Mai sogar noch ohne Publikum startete. Aber es ging los!
Florentina Holzingers „Festzug“, ein für die üblicherweise viel Publikum anziehende Eröffnung am Rathausplatz inszenierter Autocorso, fand ohne Zuschauer statt, wurde aber abgefilmt und im Österreichischen Rundfunk gesendet. Nackte Frauen auf, in und vor Autos: Holzinger schont wieder niemanden, weder ihre Performerinnen noch die Betrachter. Die Choreografin vermengt Versatzstücke aus vergangenen Inszenierungen – etwa den Rodeo-Bullen aus „Apollon“ oder Crashtest-Szenen aus „Études for an Emergency“ – zu einer Prozession, die den „Festzug der Gewerbe“ des Tanzpioniers Rudolf von Laban von anno 1929 zum Vorbild hatte. Dieser fand einst auf der Wiener Ringstraße zur Würdigung der Handwerkskunst statt und passt gut zu Holzinger, die auf der Bühne ja auch immer malocht und gewissermaßen ehrliches Handwerk präsentiert. In Form einer Videoinstallation war die Choreografie später dann auf zwei Standorten im Stadtraum zu sehen. „Festzug“ spielt mit der Spannung zwischen nackter Haut und scharfem Blech. In kurzen, meist in Zeitlupe gedrehten Loops zeigt Holzinger eine dystopische Leistungsschau von Mensch und Maschine. Bis auf ihre Turnschuhe splitternackt bleiben die Frauen auf fahrenden Schauwägen dem Rhythmus der Prozession treu: in blutigen Schlägereien, auf dem Laufband oder schon auf dem Asphalt, auf den sie gezerrt werden. Das Hamsterrad des Kapitalismus dreht sich unaufhörlich. Doch es steht dabei stets der Moment zu erwarten, in dem diese Frauen zurückschlagen werden. Eine hat sich schon eine Zigarette angezündet.
Vor dampfenden Fabrikschloten
Üblicherweise feiern die Wiener Festwochen alljährlich die Ankunft eines Weltstars, einmal war es Cate Blanchett, ein andermal Isabelle Huppert. Diese auf gesteigerte Aufmerksamkeit zielende Gewohnheit liegt Slagmuylder nicht sonderlich, aber mit der Wooster Group hatte der Intendant diesmal doch so etwas wie eine lebende Legende im Programm. Die New Yorker Theatergruppe zeigte die Weltpremiere von „The Mother – A Learning Play“ nach Bertolt Brechts Drama „Die Mutter“ (1932), das den Werdegang der zunächst unpolitischen Arbeiterfrau Pelagea Wlassowa zur kämpferischen Kommunistin nachzeichnet.
Die Wooster Group war Pionierin des postdramatischen Theaters und hat viele europäische Theatermacher der siebziger bis neunziger Jahre beeinflusst. Ihre Bühnenpraktiken, von Videoeinsatz bis zu diversen Montagetechniken, wurden stilbildend. Die Dekonstruktion eines Theaterabends, seine Gemachtheit stehen jeweils im Vordergrund, so auch bei „The Mother“, das Elizabeth LeCompte im Brecht’schen Sinn als ein zwischen Nacherzählung und dialogischem Spiel wechselndes Schilder- und Illustrationstheater inszeniert hat. Fabrikschlote dampfen auf hinteren Bildschirmen gemächlich Rauch aus, während vorne an der Rampe Pelagea (Kate Valk) in ihrer mit wenigen Gegenständen angedeuteten kleinen russischen Küche (Ikone!) noch die gutmeinende Arbeiterin gibt und sich gegen das illegale Drucken von Flugblättern stemmt – was sich im Verlauf des Stücks umkehren wird.
Immer wieder treten die Schauspieler aus ihren Figuren oder wechseln ins Singen, so etwa der Lehrer, der hin und wieder Wissenswertes über die Geschichte des Stücks oder das Brecht-Theater generell einspeist. Eine elaborierte Tonspur, die das Bühnengeschehen parallel mit dem von den Schauspielern vorab eingesprochenen Text unterlegt, zieht eine weitere Ebene der Künstlichkeit ein; die spitzen Töne Hanns Eislers frischt Amir ElSaffar mit neuer Komposition auf. Die Inszenierung trägt einigermaßen schwer an ihrer wie zu Studienzwecken aufgedröselten eigenen Mechanik und verströmt vorwiegend retrospektiven Charme. Alles wirkt im besten Sinne out of fashion.
Auch den Bühnenrealismus des Briten Alexander Zeldin könnte man im ersten Moment für überholt betrachten. Doch geht der 36-jährige Regisseur mit Laien sowie professionellen Schauspielern einen bestechenden Sozialrealismus-Weg, der über jeden Verdacht banaler Bebilderung oder Handlungsklischees erhaben ist. Der Sohn eines Russen und einer Australierin, ehedem Assistent bei Peter Brook, bringt „Ausschnitte von Realität“ auf der Bühne neu in Form: Die Zeit ist verdichtet, die Handlungen beinahe ritueller Art, vieles in dieser detailreichen Welt verläuft nonverbal.
Seit 2010, nach der damaligen Finanzkrise, hat Großbritannien Sozialleistungen im großen Stil gekürzt. Die Inanspruchnahme von Lebensmitteltafeln stieg innerhalb von fünf Jahren um 73 Prozent. Rechenbeispiele wie diese türmen sich samt ihren Quellen im vorliegenden Programmheft. Lokale Behörden können oft nur unzureichende Dienstleistungen anbieten. Und genau in einem solchen kommunalen Asylort spielt Zeldins jüngstes Stück „Faith, Hope and Charity“. Hier, in einem billig ausstaffierten Sozialraum mit Durchreiche in die Ausspeisungsküche, finden Menschen einen Platz, die woanders keinen haben: eine sudanesische Mutter mit Teenager-Tochter, einsame Wohnheimbewohner, eine von Kindesentzug bedrohte Frau und ihr halbwüchsiger Sohn, ein Mann mit dem immer gleichen Wollpulli und so weiter. Hier gibt es Essen und einen Chor, bei dem jeder mitmachen kann. Köchin Hazel ist die „Mama“ für alle – man verzeiht dieses Klischee sofort. Zeldin zeigt ein zeitgenössisches Sozialdrama, wie man es auf deutschsprachigen Bühnen schon länger nicht mehr zu sehen bekam. Sein vordringliches Anliegen ist es, das durch den Brexit noch weiter verschärfte Armutsgefälle auf der Bühne (des National Theatre) sichtbar zu halten. Diese Kunst mag man engagiert nennen, sie überzeugt indes in ihrer entschiedenen Form und aufgrund ihrer ungewöhnlichen Aura.
Die zunehmend gebrechlicher werdende Immobilie dieses ohnehin schon heruntergekommenen Sozialraums versinnbildlicht die schwache Sozialpolitik des Landes. Regen dringt in den Speisesaal, und am Ende ist auch die für den Chor so wichtige Bontempi-Orgel völlig eingeweicht. Reparaturen werden schon länger nicht mehr bezahlt und fraglich ist, ob der Raum überhaupt weiter finanziert wird. Menschen, die hier Unterschlupf finden, zählen im Neoliberalismus nicht mehr. Ein Investor wartet wohl schon. Es sind die ausdrucksstarken Darstellerinnen und Darsteller, die hier mit jeweils ganz unterschiedlicher Verve dem Staat jeden Tag ein würdevolles Leben abtrotzen. Ihre Gesichter und Gesten haben enorme Kraft und Dringlichkeit, die man nicht so schnell vergisst.
Eigentlich wäre in Wien erstmals die gesamte Trilogie „The Inequalities“ zu sehen gewesen. Doch auch hier hat die Pandemie einen Strich durch die Rechnung gemacht. „Beyond Caring“ (aus 2015), ein Stück über Zeitarbeit, kann nicht gezeigt werden. Immerhin aber läuft der Teil „Love“ Anfang September bei den Wiener Festwochen.
Mehr Glück hatte die französische Performerin Phia Ménard. Sie eröffnete mit ihrer „Trilogie des Contes Immoraux (pour Europe)“ den zweiten Teil der diesjährigen Festwochen im August. Vor zwei Jahren hatte sie hier einen Begeisterungssturm entfacht, als sie in einer kraftraubenden Solo-Performance („Maison Mère“) den Parthenon der Akropolis mit riesigen Kartonschablonen nachbaute (siehe TdZ 09/2019). Er stand in seiner Ikea-Fragilität für das Bild eines wackeligen Europas, dem es nicht aufrichtig gelingt, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu gewähren. Und er stand für ein Staatengebilde, das an seinen Grenzen Menschen in verregneten Kartonverschlägen zurücklässt.
„Maison Mère“ hatte eine ungewöhnliche Karriere genommen. 2017 bei der Documenta in Kassel erstaufgeführt, drang die Arbeit erst allmählich in den Performancebetrieb vor – und brach dabei das enge Spartendenken auf. Denn: Phia Ménard kommt vom Zirkus, genauer von der Jonglage. Sie hat sich von der virtuosen Artistin, die sie in den neunziger Jahren bereits war, weiterentwickelt zur Regisseurin und Performerin und setzt ihr Können und ihr Wissen um Materialien auf der Bühne in neuen Kontexten um. Einer ihrer Bestseller, der weltweit tourte, wurde die Eisblock-Performance „P.P.P.“ (2006). Die Verwandlung des Materials, in diesem Fall das Schmelzen des Eises zu Wasser, ist ein Angelpunkt von Ménards Arbeiten und hat, wie sie selbst sagt, mit ihrer eigenen Transformation vom Mann zur Frau zu tun. Aus Philippe wurde allmählich Phia.
Der Turmbau zur Börse
„Maison Mére“ (der Karton-Parthenon) bildet den Anfang der neuen Trilogie, die sich im zweiten Teil, „Temple Père“, nichts Geringeres als den Turmbau zu Babel vorgenommen hat. Hier kommt die Artistik-Kompetenz Ménards zum Tragen. Ein Trupp Arbeiterinnen und Arbeiter errichtet, entindividualisierten Sklaven gleich, unter dem herrischen Gebot einer auf Kothurnen schreitenden Gebieterin (Inga Huld Hákonardóttir) Etage für Etage ein immenses Gebäude. In einer schwindelerregenden Akrobatik stecken sie Fassadenteile aufeinander, sodass am Ende – gemäß der biblischen Babel-Erzählung – der Himmel (der Schnürboden) erreicht ist. Nach dem Parthenon ist es ein weiteres symbolträchtiges Gebäude, das Ménard einem dramatischen Aufbau unterzieht und als Abbild der menschlichen Hybris wirken lässt. Man denkt angesichts der artistischen Schnelligkeit, mit der das geschieht, an so etwas wie „Aufstürzende Altbauten“.
„Temple Père“ hat keinerlei Zeigefinger-Charakter, sondern erschüttert allein in seiner ausweglosen und entlang archaisch-religiöser Riten verlaufenden Prozesshaftigkeit: akustikverstärkte, rhythmisierte Atmung, Loophandlungen mit Rinderhorn und Schlüsselbund. Hier wird nicht nur ein Turm gebaut, sondern auch eine futuristische Maschine, deren unheilvolle Macht jener aus Fritz Langs beziehungsweise Thea von Harbous „Metropolis“-Stoff gleicht, aus dem Textteile verwendet werden.
Die Konstellation Herrscherin und Arbeitervolk widerspiegelt, so Ménard im Gespräch, auch den Neoliberalismus, der auf moderner Sklaverei fußt. Massen von Menschen schuften tagtäglich, um die Fantasien weniger umzusetzen. In der realen Welt werden diese Verhältnisse mit viel Marketingbudget bunt verklebt und weggelächelt, bei Ménard werden sie zu einer metallisch-düsteren, expressionistischen Dystopie, die in Teil drei, „La Rencontre Interdite“, einen kurzen, durchaus rätselhaften Befreiungsschlag folgen lässt.
Dieses imposante Menetekel einer destruktiven Gesellschaft führte zurück zur Eröffnungsrede der Wiener Festwochen, die die italienische Künstlerin und Regisseurin Anna Rispoli gemeinsam mit 15 Wienerinnen und Wienern verfasst und gehalten hat. Die Rede glich keiner üblichen Rede, sondern verlief als kollektives Gespräch über Geld, Zeit und Arbeit, das in einem Kreisrund im Arkadenhof des Rathauses – coronabedingt verspätet im Juni – aufgeführt wurde. Der Text versammelt die Perspektiven von Erwerbstätigen, Pensionisten, Schülern oder Studierenden bezogen auf das bedingungslose Grundeinkommen – ohne identifikatorisches Sprechen. Einmal sagt jemand: „Der größte Teil der menschlichen Arbeit ist schädlich für das Leben. Wir sind besessen vom finanziellen Wachstum / Produktivitätswachstum erzeugt mehr Arbeit, mehr Energieverbrauch und bringt uns näher an den ökologischen Kollaps“. Oder: „Der Aktienmarkt boomt / Gleichzeitig ist in Österreich / die Nachfrage nach Lebensmittelhilfe / um 30 Prozent gestiegen“. Eine Videoaufzeichnung ist auf Youtube (youtube.com/watch?v=FZFuGflWDHk) abrufbar.
Rispolis Kunstpraxis funktioniert als Intervention im öffentlichen Raum, die Menschen (Laien) konkret involviert und so Gedanken aus diversen Lebensräumen sammelt und weitertransportiert. Wie ein geskripteter Debattierclub rollte „Einkommen. Die bedingungslose Rede“ Themen aus, die andernorts in den Performances ausgehandelt wurden, vom Revolutionärinnendrama Brechts über Zeldins Sozialraum-Tableau bis zu Ménards Gesellschaftsdystopie. Das ergab ein, wenn auch zeitlich zersplittertes, so doch thematisch zugespitztes Festivalprogramm. //