Tragödie – Trauerspiel – Spektakel
Drei Weisen des Theatralen
von Bettine Menke und Christoph Menke
Erschienen in: Recherchen 38: Tragödie – Trauerspiel – Spektakel (04/2007)
Assoziationen: Wissenschaft
Das klassische Drama ist nur eine Möglichkeit des Theaters. So erscheint es nicht nur aus der Perspektive des postdramatischen Theaters der Gegenwart. So erscheint das Drama auch durch die postdramatisch bestätigte und befruchtete Ansicht des antiken Theaters als eines prädramatischen oder a-dramatischen Theaters: als eine historisch spezifische, vor allem und zuvor aber als eine strukturell beschränkte Option des Theaters. Und zwar kann das Drama eine strukturell beschränkte Form des Theaters genannt werden, weil es darauf beruht und fortwährend darin besteht, seinerseits das Theater, dessen Form es ist, strukturell zu beschränken: Als Form des Theaters steht das Drama zugleich im Widerstreit zum Theater, in dem es doch allein existiert. Das ist bereits in Aristoteles' Poetik der Tragödie manifest; in ihr nimmt sich der Widerstreit aus als Konflikt zwischen der Mimesis der Handlung, die die Tragödie sein soll, und deren szenischer Inszenierung, im Spiel der Schauspieler, die die Einheit der Handlung stören und bedrohen und deshalb ihrerseits begrenzt und kontrolliert werden müssen. Zweitausend Jahre später bekräftigt Goethe die darin angezeigte Fremdheit der Theatralität des Theaters aus der Perspektive des Dramas im zeitgemäßen Gegensatz von Poesie und Theater: als Gegensatz von ›innerer Vorstellung‹, die durch die Einbildungskraft und »mit geschloss'nen Augen« die Lektüre der Poesie bestimmt, und theatraler, äußerer Vorstellung, die der Logik des poetischen Werks als Kontingenz, Heteronomie, »Begränzung« entgegentrete. Auch Goethe interessiert am Drama, »was besser imaginiert als gesehen wird« (Shakespeare und kein Ende!). Das legt es nahe, nicht so sehr im Drama eine geschichtliche Form des Theaters als vielmehr in der Spannung von Drama und Theater, deren Austragung sich in verschiedenen Konstellationen beobachtbar ausprägt, das Grundgesetz der keineswegs linear zu erzählenden Geschichte des (westlichen, europäischen) Theaters zu sehen.
Es ist nicht zufällig Shakespeare, an dem Goethe die Entgegensetzung von »poetischem« Drama und den Äußerlichkeiten des Theaters vornimmt. Er tut dies, um Shakespeare vor dem Theater für die Poesie zu retten (»So gehört Shakespeare nothwendig in die Geschichte der Poesie; in der Geschichte des Theaters tritt er nur zufällig auf«). Das scheint Goethe dringlich, weil das barocke Trauerspiel gerade in ungekanntem Maße die theatrale Sichtbarkeit und deren Ausstellung nicht nur in seinen Vorführungen akzentuiert, sondern zum Strukturgesetz des theatral Vorgeführten selbst gemacht hat. Daher nennt Lionel Abel die Stücke des barocken Trauerspiels »works of metatheatre«: »theatre pieces about life seen as already theatricalized« (Metatheatre. A New View of Dramatic Form). Es sind Stücke, die ihren dramatischen Gehalt (den Goethe, als poetischen, der inneren Einbildung anvertrauen wollte) daraus ziehen, dass sie das theatrale Sehen auf die Bühne bringen: dass das Theaterspielen und -sehen in ihnen »impliziert« ist (Stanley Cavell).
In der deutschen Geschichte der Ästhetik beginnt die Infragestellung der aristotelischen Privilegierung des Dramas vor dem Theater viel früher bereits damit, dass das (barocke, neue) Trauerspiel eben so ausdrücklich bezeichnet und dabei der Tragödie entgegengesetzt wird. War »Trauerspiel« ursprünglich das Wort, durch das Opitz »Tragödie« doch nur übersetzt haben sollte, so wird durch seine Wortprägung der Raum eröffnet, in dem erstmals die Dramentheorie der Romantiker dazu ansetzt, die Tragödie der ›Moderne‹ als ›romantisches Trauerspiel‹ begrifflich gegenüber der antiken Tragödie abzugrenzen: Die »neuere Tragödie«, »deren Deduktion aus der antiken [...] versucht« wurde, »heißt, wie kaum bemerkt zu werden braucht, mit dem nichts weniger als bedeutungslosen Namen Trauerspiel« (Walter Benjamin). Wenn Benjamin an diesen »traurigen Spielen« vor allem betont, dass sie »Spiele« (»vor Traurigen«) sind, so unterstreicht er damit das Grundmotiv der romantischen Unterscheidung. Denn der ging es weniger um eine geschichtsphilosophische Entgegensetzung - von Antike und Moderne -, auch nicht um eine typologische Differenzierung von Theaterformen - etwa dem Mythos und der Geschichte verpflichteten -, sondern um eine reflexive Entbindung der Potentiale des theatralen Spiels gegenüber der lastenden Übermacht des dramatischen Gehalts. Das Trauerspiel leistet die Doppelung jenes Spiels, das die theatrale Vorstellung selbst als Schaustellung schon ist, so dass es ebenso den vom Theater implizierten Zuschauer vorstellt wie das Schauspiel im Spiel und im ›Spiel im Spiel‹ auf sich selbst bezieht. Das Trauerspiel steht hier nicht für eine gegenüber der Tragödie spätere oder andere Form des Theaters, es ist die als Theater gesehene, zum Theater gewordene Tragödie; die Tragödie, die sich ihrer Theatralität, ihres Spielcharakters bewusst geworden ist; darin ist es »romantisch« - oder im Sinne der Romantik: »ästhetisch«.
Die Beiträge des Bandes diskutieren die theatertheoretische und -historische Konstellation, die die Tradition der deutschen Ästhetik seit der Romantik mit dem Begriffspaar von Trauerspiel und Tragödie aufspannt, nach beiden ihrer Seiten. Es sind daher zwei große Komplexe, zu denen sich die Texte in diesem Band verbinden. Zum einen geht es in den Beiträgen darum, den umrissenen Begriff des Trauerspiels, als selbstreflexive Entbindung des theatralen Spiels, zu entfalten. Sie tun dies, indem sie die Strategien dieser Selbstreflexion gerade im Text des Trauerspiels zeigen (I.). Das Trauerspiel zeigt sich dabei als eine Politik des Auftritts, und leistet zugleich eine Analyse des Auftritts, der die Politik der Souveränität ausmacht (II.). Zum anderen geht es darum, von der Erfahrung des Trauerspiels her den Kontrastbegriff der Tragödie neu zu bestimmen: Die Kategorien der tragischen Fabel wie die der tragischen Wirkung müssen als Effekte ihrer spezifisch theatralen Darstellungsweise verstanden werden (III.). Beide Hinsichten, die Sicht aufs Trauerspiel und die auf die Tragödie, treffen dort wieder aufeinander, wo sie dem Moment des Spiels in seiner Zwielichtigkeit unter dem Titel des »Spektakels« gegeneinander verschobene oder auch gegeneinander Einspruch erhebende - Bedeutungen zumessen (IV.).
(I.) Das Trauerspiel - das ist seine nachträgliche Lektüre - akzentuiert dem Drama gegenüber die theatrale Schaustellung als solche, deren Ausstellung es ist. ›Ostentation‹ des Auftritts ist stets zugleich die Mitausstellung der Geste des Ausstellens. Wenn daher das Trauerspiel Schau-Spiel ist, das sich seiner Theatralität, seines Spielcharakters bewusst wird, so heißt ›bewusst‹-werden, dass es seinen Charakter als theatrales Spiel im Inneren des dramatischen Geschehens wiederholt und doppelnd vorstellt. Es reflektiert sich als Spiel, indem es die eigene theatrale Rahmung thematisiert, ausstellt und ausspielt. Es geht um ein theatrales Verhalten zur Theatralität, und zwar in allen dadurch erst erkundeten Parametern des Theaters, eingeschlossen seinen Text. Das heißt romantische Selbstreflexion: Die Kräfte und Prozesse des Darstellens werden im Dargestellten mit dargestellt. Die Akzentuierung der theatralen Vorstellung und des Spiels will mithin keineswegs auf eine Opposition von Text und Theater hinaus, sondern eröffnet vielmehr eine spezifische Perspektive auf die Texte und die Textualität von Tragödie und Trauerspiel. Die Sprachlichkeit des Agierens und die Textualität des Theaterstücks selbst werden so in neuer Weise sichtbar, und zwar als ein Überschuss oder auch als Verweigerung gegenüber der dramatischen Handlung. Sprechhandlungen sind in der Tragödie wie im Trauerspiel der eigentliche Schauplatz der (Aus-)Handlung, die keineswegs in psychologisch motivierter Handlung aufgeht. Handeln als acting, das auch das Schauspielen mitmeint, integriert sich keineswegs in die auf handelnde Subjekte und Psychologie zurückverbuchte dramatische Handlung, die es (als acting) doch tragen müsste. In Sprechhandlungen zeigt sich umgekehrt die Textualität von Tragödie und Trauerspiel als spezifisch theatrale: so in den implicit stage directions, in dem agon und den Stichomythien, in dem Redeauftritt von Chor und Reyen. Auf der Bühne wird das Sprechen (als solches) zum Ereignis, insofern das auf der Bühne sprechend Geschehende nicht in Termini von Dialog oder Konflikt aufzufassen ist, sondern sich die Rede - vor und jenseits ihres Gehaltes - als Akt, Sprechen als ›Streich‹ oder ›Schlag‹, Vorkommnis oder Auftritt zeigt.
Dies zu beobachten, ermöglichen - bezeichnenderweise, nämlich in einer ›Wiederholung‹ spezifischer, markierter Art - die Filme von Danièlle Huillet und Jean-Marie Straub. Sie verfilmen nicht Tragödien und Trauerspiele, sondern - so Armin Schäfer in seiner Einführung zu diesen Filmen*- »lassen sichtbar und hörbar werden, was mit den Stücken überhaupt vorliegt: Huillet und Straub haben Filme gemacht, deren Handlung in der Sprache geschieht, und sie haben sehen und hören lassen, dass der Auftritt der Rede schon eine Handlung ist.« »Was in den Texten der Stücke steht, kann man in den Filmen sehen und hören. Was dabei geschieht, hat der französische Philosoph Gilles Deleuze einmal als das Losreißen des Sprechakts vom Text bezeichnet.« Dies geschieht nicht schon durch Lesung oder Aufführung, und ebenso wenig durch bloße Gemütsaufwallung oder Passion des Schauspielers. »Man sieht und hört in den Filmen, daß Sprechen allein schon eine Handlung ist, [...]. Die gesprochenen Verse verweisen dabei weniger auf die Psychologie eines Charakters als vielmehr auf eine Physiologie des Sprechens. So wenig die Sprechakte durch irgend etwas anderes als durch das Sprechen selbst vom Text losgerissen werden können, so sehr hat eine landläufige Auffassung vom Theater als Drama behindert, daß ein Theaterstück überhaupt als etwas begriffen wurde, das in der Sprache geschieht. [...] Huillet und Straub haben von den Theaterstücken das Drama abgezogen, sie unter freien Himmel gesetzt.«
Die Theatralität der Rede, das ist auch der Vortritt, der die Rede auf der Bühne ist, der Auftritt, als der die Rede auf der Bühne eine Szene eröffnet und einen Sprecher etabliert (wie Hans-Thies Lehmann an den antiken Tragödien beobachtet hat). Insofern sind bereits mit der Redehandlung das theatrale Spiel und die Inszenierung angesprochen; nicht nur als nachträglich hinzutretende Inszenierung, sondern als eine, die die Redehandlung bereits je geworden sein muss, um Streich oder Schlag oder um glückende oder fehlgehende ›Handlung‹ zu sein. Dadurch treten die Sprechakte im und auf dem Theater in doppelter Hinsicht in Gegensatz zu ihrem von Austin gezeichneten Standardbild. Zum einen: Der Inszenierungscharakter der Rede verweist auf die in allen Sprechakten auszumachende Spannung zwischen ihrer Kraft und deren vermeintlichen Produkt - eine Relation zwischen Exzess (in dem Glücken und Misslingen ununterscheidbar sind), Verpuffen und Blockade. Diese Relation der ›Spannung‹ oder möglichen Inkohärenz kennzeichnet dabei ebenso die theatral vorgestellte Redehandlung wie jenes Geschehen, das die Rede auf der Bühne ›hier und jetzt‹ ist. Sie wird ausgetragen oder merklich als beider Relation - der Spiegelung wie der möglichen Inkohärenz oder Störung. In diesem Sinne hat Samuel Weber einmal von der Posse als der Theaterform gesprochen, die sich unhintergehbar ans Theater als an den Ort seines ›singulären Vollzugs‹ binde; dies geschieht im Zeichen der zufälligen Störung und des lächerlichen Fehlgehens. - Zum anderen: Obwohl es bei Austin so scheint, als könne nur die direkte Rede ein Sprechakt und als könnte auf der Bühne, wiederholt oder zitiert nicht einmal die direkte Rede Sprechakt sein, wird die indirekte Rede auf der Bühne zur Redehandlung, indem sie ihre Rahmung, innerhalb derer sie wirkmächtig wird, mitbezeichnet - das Gerücht und die Intrige am Hof. Ebenso ist der Redeauftritt auf der Bühne Redehandlung, wenn sie als ›Anweisung‹, Anzeige oder Referenz auf die Bühne aufgefasst wird (oder werden muss). So doppelt sich die jeweilige Szene (und ihre jeweilige Rahmung) in der theatralen Situation als solcher, wie sich umgekehrt die theatrale Situation selbst in der Szene, auf der Bühne, spiegelt oder abbildet: Die Redeszene auf der Bühne ist mise-en-abyme der Theater-Szene. So referiert der Auftritt als solcher stets (auch) auf die Bühne selbst als Ort des theatralen Geschehens, eröffnet diesen Ort, an dem er möglich wird und verweist auf deren Rahmung, die stets zugleich Abwesenheiten voraussetzt und erzeugt.
(II.) Wird das Theater als Politik der Auftritte und Abtritte, der Anwesenheit auf und der Abwesenheit von der Szene kenntlich, dann kann auch umgekehrt versucht werden, im Medium des Theaters, der Theatralität der Redehandlungen und der Auftritte, das Politische aufzufassen. Historisch betrachtet ist das barocke Trauerspiel durch den genuinen Zusammenhang von Staatskonzept und Theatralität bestimmt, der im Konzept der Souveränität gegeben ist. Die theatrale Auffassung ist bereits Teil der staatsrechtlichen Begründungen selbst. Theatralität gehört als deren Selbstinszenierung der Souveränität an. Und Trauerspiele sind nicht deren theatrale Verdoppelung, sondern sie verhandeln die Probleme der Sichtbarmachung dessen, was, etwa als Entscheidung oder Gründung, nicht sichtbar ist, sondern auf Szenen und Gesten - und deren Ostentation, posing (Louis Marin) - angewiesen ist. Es handelt sich (so hat Rüdiger Campe in einer Studie über die Poetik des Sprechakts geschrieben) dann »nicht so sehr um das Theater der Repräsentation, sondern um Schauspiele der Souveränität«: um die instituierenden Akte, die »vor oder hinter der großen Sichtbarkeit« spielen, sie aber »wohl erzeugen« müssen.
So eng das Verhältnis von Theatralität und Politik als deren gegenseitiger Spiegelung sich auch gibt, so sehr ist in beider Relation eine Anspannung und Verstellung anzutreffen, und zwar bereits vor der Rousseauschen Absage an die Vorstellung, dass demokratische Gemeinwesen in sichtbarer Verkörperung ihre Selbstdarstellung finden könnten, die verbunden ist mit der Absage ans Theater. Beschreiben lässt sich diese angespannte Relation von Theater und einer Politik der Souveränität durch die komplexe Relation zwischen Sichtbarkeit und Geste: ihre Angewiesenheit und zugleich ihren Widerstreit. Die Geste, in der sich die souveräne Entscheidung bekundet, ist durch die theatrale Logik ihrer Sichtbarkeit, der sie ihre Wirklichkeit verdankt, immer schon einem Kalkül der Wirksamkeit unterworfen, das ihre souveräne Aktualität bedroht. Mit dem notwendigen Auftritt der Politik nicht nur auf dem, sondern als Theater entfaltet sich eine Spannung zwischen der Verkörperung und der Inszenierung politischer Entscheidung, die die Möglichkeit des staatsrechtlichen Konzepts der Souveränität selbst von innen bestimmt. Diese Spannung wird auch durch den Abtritt der Könige von den Bühnen, seien diese die der Politik, seien es die des Theaters, nicht schon zurückgelassen worden sein (obwohl diese Vermutung die aufgeklärten Begründungen von Politik ohne theatrale Dimension wie auch des Theaters ohne Theatralität zu bestimmen scheint), sondern persistiert in der Begründung des demokratischen Gemeinwesens und im Ernst seiner Politik als Problem der (Selbst-)Darstellung. Damit kündigt sich schon im Trauerspiel, im theatralen Schicksal, das es der Politik bereitet, das Thema des Spektakels an (siehe unten, IV.). Es kündigt sich aber auch die Möglichkeit einer Politik an, die nicht souverän ist.
(III.) Das romantisch unter dem Titel »Trauerspiel« profilierte Theatralitäts- oder Spielbewusstsein bedurfte, um auf den Weg gebracht zu werden, der Abgrenzung von einem Begriff der Tragödie, der dieses Theatralitäts- oder Spielbewusstsein fehlt. Einem allzu einfachen Verständnis könnte es so erscheinen, als würde der Trauerspieldiskurs damit, auf der Seite seines Gegenbegriffs, eben das Phantasma des »Dramas« wiederholen, gegen das er sich wendet. Der aristotelischen Tradition galt das Drama als ein Theater dies- oder jenseits des Theaters, als ein Theater, das ohne Theater auszukommen und allein im Lesen, also in der Einbildung (Goethe) zu erscheinen vermag. Ebenso würde in einfacher Entgegensetzung zum Trauerspiel die Tragödie als Wirklichkeit gewordene dramatistische Illusion (oder Ideologie) erscheinen: so als sei die Tragödie tatsächlich ein sich selbst verleugnendes Theater gewesen. Dass dies nicht zutrifft, zeigt Benjamins Auseinandersetzung mit der Spielart einer Philosophie des Tragischen, die der konservativ bis faschistischen Modernekritik des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts als Folie diente. In ihrem Tragödienbegriff ist die dramatistische Theater- und Spielverleugnung der aristotelischen Tradition zur Bestreitung selbst noch jedes imaginativ-fiktiven Momentes in der Tragödie gesteigert. Die Tragödie erscheint hier - tendenziell schon bei Weber und Scheler, ganz entschieden bei Schmitt und Heidegger - als erscheinungsloses, rein wirkliches Wirken tragischer Schicksalsmächte, frei von allem Darstellen und Spiel. Die Intention von Benjamins Trauerspielkonzeption ist nun nicht nur, dagegen eine selbstreflexive Form des Theaters zur Geltung zu bringen, sondern in deren Licht auch die Tragödie anders zu verstehen. So legt Benjamins Einspruch gegen die tragische Ideologie nicht nur dar, dass sie ideologisch in dem ist, was sie politisch will, sondern auch in dem, was sie ästhetisch nicht weiß; Benjamin überlässt den Begriff der Tragödie weder der tragischen Ideologie noch der dramatischen Tradition. So sehr die Profilierung des Theatralitäts- oder Spielbewusstseins unter dem Titel »Trauerspiel« des Gegenbegriffs der Tragödie bedarf, so sehr geht es ihr in einer Parallelaktion darum, den Begriff der Tragödie, gerade auch in seiner antiken Anwendung, selbst grundsätzlich neu zu fassen.
Damit bringt die Einführung des Trauerspielbegriffs eine Neulektüre zugleich auch der antiken Tragödie in Gang, die in der romantischen Ästhetik (und ihrer verschwiegenen Rezeption bei Hegel) beginnt, in Nietzsches Tragödienschriften einen Höhepunkt hat und in der klassischen Philologie und Theaterwissenschaft der letzten Jahrzehnte zur Entfaltung gekommen ist. Die Grundidee hierbei ist, dem internen Zusammenhang nachzuspüren, der die spezifischen Grundstrukturen des Darstellungsgehalts der antiken Tragödie mit den spezifischen Formen ihrer Theatralität verbindet; diese theatralen Formen also als Ermöglichungs-, ja Erschließungsbedingungen jenes tragödienspezifischen Darstellungsgehalts zu verstehen. Das bedeutet, dass die grundlegenden Kategorien der Tragödientheorie, Kategorien wie tragisches Schicksal, tragische Ironie und tragische Kollision nicht länger allein als solche der Fabel, die die Tragödie nachahme, verstanden werden können. Wenn die Begriffe des Schicksals, der Ironie und der Kollision (um nur einige zu nennen) als spezifisch »tragische« und damit im Unterschied zum Mythos oder Epos verstanden werden sollen, dann können sie nicht nur Verlaufsformen einer Geschichte bezeichnen. Sie verdanken ihre strukturierende Kraft vielmehr entscheidend der spezifischen Weise, mit der die Nachahmung der Fabel, zuerst im attischen Theater, verfährt: kein tragisches Schicksal ohne den individuierenden Sprecheinsatz des Einzelnen durch sein Heraustreten aus dem Chor; keine tragische Ironie ohne die Spannung zwischen vorgeschriebenem Text und dadurch gesteuertem schauspielerischem Sprechen; keine tragische Kollision ohne die Gegenläufigkeit zwischen dem Einen - dem einen Stück, das als Text vorliegend die Worte verknüpft - und den Zweien - den zwei Positionen, die, durch zwei Schauspieler verkörpert, einander entgegentreten. Und wie seit den romantischen Lektüren und Reflexionen für den als spezifisch »tragisch« bezeichneten Darstellungsgehalt der Tragödie seine Konstitution durch die ebenso spezifischen Theatralitätsformen ihrer Darstellung hervorgehoben worden sind, so gilt diese nicht weniger für die Wirkung der Tragödie, die mit dem Katharsisbegriff eher verrätselt als erschlossen sind. Ob man sie nun affektiv, als Veränderung der Aggregatzustände der Kräfte, oder kognitiv, als (dadurch zugleich bewirkte?) Hervorbringung eines anderen Selbstbildes, versteht - die Transformation des Zuschauers, die die Tragödie bewirkt, muss als ein Effekt der Transformation begriffen werden, der sie, die Tragödie, selbst ist; jener »Verwandlung« (Nietzsche) von Gehalten und Identitäten, die in der Tragödie als theatralem Spiel geschieht.
(IV.) Dass es - auch - keine Tragödie und keine Erfahrung des Tragischen gibt, ohne spezifische theatrale Darstellungsweisen; ja, dass es - auch - keine Tragödie und keine Erfahrung des Tragischen gibt, ohne dass diese spezifischen theatralen Darstellungsweisen (»reflexiv«) in das Dargestellte eintreten und es mit hervorbringen, zieht dennoch den Unterschied zwischen Tragödie und Trauerspiel nicht ein. Dieser unauflösliche Unterschied zwischen Tragödie und Trauerspiel - der sich damit, einmal mehr, als ein Unterschied weniger von Formen und Typen als einer von Momenten, von Zügen oder Tendenzen des Theaters erweist - zeigt sich an, wenn aus der Perspektive der Tragödie die Theatralität unter dem selbst spektakulären Namen des »Spektakels« als bloßes, äußeres, als freigesetztes Spiel aufgefasst wird. Denn mit der Kritik des »Spektakels« ist die Tragödie nicht nur äußerlich verbunden. Das Gespenst seiner Herrschaft, der Herrschaft des Spektakels, gegen das die Theoretiker und Politiker der Tragödie sie bewahren wollten, heißt »Theatrokratie«. So nennen Platon, Rousseau und Nietzsche, ja noch Benjamin die Herrschaft der zum Publikum gewordenen und also der nach eigenem, unaufgeklärtem, sinnlichem Geschmack, dem Geschmack für die Oberfläche des Erscheinens, in öffentlichen Dingen urteilenden Masse. Als eine Bedrohung erscheint sie zunächst für die wahre politische Herrschaft - sei sie die des Philosophen oder des Demos. Als eine Bedrohung aber erscheint sie gleichzeitig und parallel für die Tragödie selbst; und zwar als eine Bedrohung von ›innen‹, weil die Tragödie untrennbar verbunden ist mit der Darstellung als theatraler Präsentation, sich zugleich aber auf diese, auf die Materialien und Formen der Präsentation der Geschmack eines theatralen Publikums richtet, das den Sinn für die Bedeutung der dadurch dargestellten Gehalte verloren hat. Der Kritik der Theatrokratie liegt ein die Tragödie definierendes, ein sie konstituierendes Problem zugrunde: dass die Tragödie ihre Fähigkeit zur Darstellung tragischer Gehalte verliert, wenn die Formen der Darstellung sich spielerisch verselbstständigen. Die Tragödie besteht nur im Kampf gegen das Spektakel.
Wenn das Trauerspiel hingegen den Spielcharakter allen Theaters gegen die Ideologie des Dramatischen hervortreten lässt, dann tritt das Spiel des Schauspiels hier insofern - und vor allem auch: so weit - hervor, als es nicht dramatisch integriert ist. Indem das Trauerspiel beobachtet, was die Theatralität des Theaters ausmacht, lässt es das Spiel des Theaters zugleich in seiner theatralen Exteriorität hervortreten: als Überhang gegenüber dem, was im Theater entfaltet wird. Das Trauerspiel ist, selbst und gerade als »Schicksalsdrama«, Reflexion des Spiels, als das sein Geschehen sich entfaltet; und dies geschieht (dafür ist das »Schicksalsdrama« paradigmatisch) auch um des dargestellten Geschehens willen. Der Bezug auf die eigene Theatralität setzt voraus, dass diese, dass der Raum des Spiels, in dem Theater statthat, und der diesem implizierte Zuschauer, ein Eigengewicht: ein Übergewicht gegenüber dem, was theatral verhandelt werden mag, erhält. »Spektakel« könnte der Name eben für diesen unvermeidlichen, vielleicht gar notwendigen Überhang sein; notwendig, um damit Theatralität selbst auszuweisen als die Geste, die allem gegenüber, das gezeigt werden mag, verbleibt. Deshalb ist die Exposition des Schauspiels auch nicht zwingend in der Figur romantischer Selbstreflexion fassbar; sie findet statt vielmehr auch im Fehlgehen, im Unbeholfenen (der deutschen barocken Trauerspiele), oder in den Kontingenzen, den Störungen des Theaterbetriebs (auf die die Posse momentan reagiert). Das Spiel des Trauerspiels ist nicht nur als Spektakel des Überhangs des Spiels, sondern auch als Wiederholung aufzufassen; und auch in diesem Moment sind Tragödie und Trauerspiel als sich unterscheidende bestimmt, nämlich das Moment, das an der Tragödie schon Trauerspiel wäre - oder die Komik, die dem Trauerspiel angehört. Wenn im Trauerspiel das Spiel des Theaters als dasjenige erfahren wird, das alles Darstellen im Theater erst ermöglicht, so erscheint es in diesem Moment zugleich als dasjenige, in dem sich alles Darstellen, sofern es Darstellen von etwas ist, auflöst. Spektakel könnte der Name für diesen notwendigen Umschlag sein, in dem das Ermöglichende und das Auflösende des Theaterspiels ineinander übergehen: die unaufhellbare Zwielichtigkeit des Spektakels.
Tragödie, Trauerspiel, Spektakel: das sind weniger drei geschichtlich oder typologisch unterschiedene Gestalten des Theaters als vielmehr drei Weisen der Imagination und Konzeption des Theatralen, seines Spiels; drei Weisen, die sich ebenso dadurch unterscheiden, wie sie, nach innen, das Verhältnis von Gehalt und Spiel und wie sie, nach außen, die Wirkung, auch die politische, des Spiels bestimmen; drei Spielarten vielleicht jedes theatralen Spiels selbst.