Theater der Zeit

Auftritt

Kassel: Idyll der Soziopathen

Staatstheater Kassel: „Tyrannis“ (UA) von Ersan Mondtag. Regie und Ausstattung Ersan Mondtag

von Joachim F. Tornau

Erschienen in: Theater der Zeit: Bruder Karamasow – Frank Castorf über Russland (02/2016)

Assoziationen: Staatstheater Kassel

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Wecken. Aufstehen. Anziehen. Bett machen. Klogang. Kochen. Hausmusik. Essen. Zähne putzen. Schlafen. Viel mehr passiert nicht bei der sonderbaren rothaarigen Familie, die fernab der Zivilisation in ihrem Häuschen im Wald lebt. Aber es wäre ein Euphemismus, von Routinen zu sprechen. Es passiert schlicht immer wieder dasselbe. Und nur das.

Gesprochen wird nicht, weil es nichts gibt, was der Rede wert wäre. Und abends macht sich Papa mit den immer gleichen Bewegungen einen Drink und setzt sich vorm Schlafengehen noch ein bisschen vor den Fernseher mit den Bildern der Überwachungskameras.

Was Ersan Mondtag mit „Tyrannis“ zeigt, ist das Idyll von Soziopathen. Auf der Studiobühne des Kasseler Staatstheaters brachte er das von ihm entwickelte Stück selbst zur Uraufführung. Der junge Berliner Regisseur, Jahrgang 1987, kommt aus der freien Theaterszene. Seine experimentellen Arbeiten, bei denen die Grenzen zwischen Theater, Performance, Installation und Musik zerfließen, finden jedoch zunehmend das Interesse auch der großen Häuser. In der Saison 2013/14 war er Mitglied des Regiestudios am Schauspiel Frankfurt; in dieser Spielzeit haben ihn das Thalia Theater in Hamburg und das Maxim Gorki Theater in Berlin engagiert. Und eben auch Kassel.

Draußen heult, faucht, grollt und brüllt eine feindliche Welt, die der Jazz-Drummer Max Andrzejewski mit der gesamten Soundpalette des Horrorfilms orchestriert. Drinnen aber herrscht der wahre Horror: ein jeglicher Individualität entkleidetes Leben in Sprachlosigkeit und totaler (Selbst-)Überwachung. Drei Bildschirme zeigen aus wechselnden Perspektiven, was in den Schlafräumen geschieht, im Stockwerk über Bühnenküche und Bühnenwohnzimmer. Gestaltet wurde die Guckkastenbühne von Mondtag selbst. Eine hyperreale Filmkulisse im groß gemusterten Siebziger-Jahre-Stil.

Als in diese Welt eine Fremde eindringt, gerät das Immergleiche umgehend aus den Fugen – bis die Familienphalanx mörderisch wieder geschlossen wird. Man könnte das als Parabel auf Pegida-Deutschland lesen. Oder auf religiösen Fanatismus, der seine Kinder lieber tötet als sie mit Ungläubigen glücklich zu sehen. Doch wirklich neu ist das Motiv der hermetisch abgeschlossenen Gemeinschaft, die von Fremden herausgefordert wird, nicht. Was „Tyrannis“ trotzdem zu einem sehr bemerkenswerten Projekt macht, ist die Form.

Die sechs Schauspielerinnen und Schauspieler spielen mit geschlossenen Augen, auf die große blaue Augen gemalt sind. Anleihen bei den Filmen von David Lynch möchte Mondtag machen, doch der starre Blick und die rechteckigen Bewegungen der Familienmitglieder lassen eher an die Addams Family oder an die als Menschen verkleideten Aliens aus der Comicverfilmung „Mars Attacks!“ denken. Oder auch an Playmobilfiguren. Mimik fällt aus, und lange ist das Gurgeln nach dem Zähneputzen die einzige Lautäußerung.

Dass Längen nicht ausbleiben, wenn es weder Worte noch im engeren Sinne eine Handlung gibt, liegt nahe. Zumal das Opus mit 130 Minuten Dauer nicht eben knapp bemessen ist. Doch niemals nimmt die Langeweile überhand – nicht allein der Komik der kantigen Bewegungen wegen. Mondtag hat sehr exakt gearbeitet. Unzählige Details sind zu entdecken. Obwohl zur Blindheit verdammt, folgt das Ensemble einer klar komponierten Choreografie.

Die schauspielerischen Leistungen sind ein Kraftakt der Konzentration. Aber nicht bloß das. Ohne dass sie eine Miene verziehen würden, gelingt es Kate Strong (als Mutter) und Eva-Maria Keller (als Tante), betreten auszusehen, als die „Gästin“ (Sabrina Ceesay) auftaucht. Erstaunlich.

Und dann sind da noch die Bildschirme. Was darauf zu sehen ist, wurde vorproduziert und fügt sich dennoch nahtlos ein (für Video und Schnitt zeichnet Jonas Grundner-Culemann verantwortlich, der als Sohn auf der Bühne steht). Eine Spielerei, sicher. Aber auch ein Spiel mit den Sehgewohnheiten der Zuschauer: Magisch wird der Blick von den flimmernden Bildern angezogen, aus Angst, etwas zu verpassen, aus Voyeurismus. Dabei passiert genau genommen auch hier nahezu nichts. Wie es dem Wesen von Überwachungsmonitoren nun mal entspricht. //

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