Einführung
Was macht heutzutage das europäische Theater aus? Lange bzw. überwiegend sei, so Anton Bierl, das europäische Theaterverständnis von Rezeptionsgewohnheiten im Theater geprägt, welche die Handlung, das Drama, psychologisch nachvollziehbare Charaktere und vor allem Spannung in den Vordergrund rücken.1 Ihm zufolge gehen diese Rezeptionsgewohnheiten auf Aristoteles zurück, der nach der Blüte der Tragödie im 5. Jahrhundert v. Chr. in seiner Poetik das Drama ausschließlich als Lesetext festgelegt habe, so dass sich „dieses Bild, zum Teil vermittelt durch die Klassische Philologie, in unseren Köpfen verfestigt“2 habe. Besteht aber das europäische Theater vorwiegend im Singular?
Der vorliegende Beitrag geht dieser Frage nach und nimmt dabei an, dass auch Theaterpraktiken kulturelle Ausdrucksformen und somit dynamische Träger einheitlicher Bedeutungen sowie Funktionen sind. Am Beispiel von Hermann Nitschs Orgien Mysterien Theater3 und Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik“ soll in den Blick genommen werden, wie sich beide Theaterformen mit dem europäischen textzentrierten Theater auseinandersetzen. So erörtert dieser Beitrag erstens die Mitarbeit des Rezipienten im engen Theaterverständnis, zweitens die Theaterpraxis jenseits der Textzentriertheit, drittens die Mitarbeit des Rezipienten vor dem Paradigma Drama, viertens das Orgien Mysterien Theater als Urtheatralisierung und schließlich die Aktion 18, „tötet Politik“ und Urtheatralisierung als politisches Ereignis.
Mitarbeit des...