ESTLAND
Die estnische Regieavantgarde
von Anneli Saro
Erschienen in: Recherchen 61: Landvermessungen – Theaterlandschaften in Mittel- und Osteuropa (12/2008)
In den neunziger Jahren – nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Baltischen Staaten – tauchten in den estnischen Zeitungen oft Anzeigen auf, in denen für verschiedene Berufe unter 35-Jährige gesucht wurden. Hinter diesen Texten steckte die Überzeugung, dass sich der Mensch nach dem 35sten Lebensjahr nicht mehr an neue Bedingungen zu gewöhnen oder sich effektiv neues Können anzueignen im Stande sei. In einer demokratischen Gesellschaft, in der sich die Menschen ein Leben lang weiterbilden (müssen), wirkt sich so eine Ideologie wie eine schreiende Altersdiskriminierung aus. Im Alltagsbewusstsein ist etwas davon jedoch hängen geblieben, sagt doch ein Sprichwort: Alte Hunde ist schwer bellen lehren.
So wurden auch im estnischen Theater von jungen Schriftstellern und Regisseuren neue Formen und neue Lebenserkenntnisse erwartet. Als der interessanteste Avantgardist der neunziger Jahre zeigte sich der Schriftsteller-Regisseur Mati Unt (geboren 1944), der auf der großen Bühne der Vertretungsinstitution des Staates, des estnischen Dramatheaters, mit postmoderner Ästhetik experimentierte. Wobei die Grenze zwischen der Tradition und den Avantgardismusversuchen im estnischen Theater – weder was Personen noch was Institutionen betrifft – nie so klar und starr gewesen ist, und schon immer eine gewissen Experimentierfreude herrschte.
Dennoch ist mit Peeter Jalakas (geboren 1961) in den neunziger Jahren eine Persönlichkeit zum...