Auftritt
Potsdam: Hauptsache hier, Hauptsache weg
Hans Otto Theater: „Kruso“ von Dagmar Borrmann nach dem Roman von Lutz Seiler. Regie Elias Perrig, Ausstattung Marsha Ginsberg
von Lena Schneider
Erschienen in: Theater der Zeit: Wo ist Wir? – Armin Petras in Stuttgart (03/2016)
Assoziationen: Brandenburg Hans Otto Theater
Es ist ein Kreuz: Einerseits kann das Vorhaben, Lutz Seilers „Kruso“ auf die Bühne zu bringen, nur enttäuschen. Auf dem Weg zwischen den knapp 500 Seiten des Romans zur Bühne wird immer etwas verloren gehen. Andererseits: Besucher sehen auf der Bühne eben gern, was jüngst die Belletristikleser-Seelen bewegte. Theater wollen zeigen, dass sie am Puls der Zeit sind. Kritiker, dass sie fleißig lesen. Jetzt also – nach Magdeburg und Gera – der dritte „Kruso“ dieser Spielzeit, diesmal in Potsdam.
2010 brachte hier Intendant Tobias Wellemeyer Uwe Tellkamps „Der Turm“ heraus, ein Kassenschlager, der dem Theater noch heute als Dauerausweis seiner Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit dient. Jetzt bekommt er durch „Kruso“ Verstärkung. Die Umsetzung hat der Schweizer Elias Perrig besorgt, der in Roland Schimmelpfennigs „Das schwarze Wasser“ zeigte, wie man leichthändig und gedankenschwer zugleich sein kann.
Auch von Lutz Seiler lässt sich Perrig die Leichtigkeit nicht austreiben. Für das Bedeutungsschwangere ist hier vor allem die Bühne (Marsha Ginsberg) zuständig: hohe, festungsartige Wände, die in der Tiefe spitz aufeinandertreffen wie ein Schiffsbug, keine Fenster. Eine Trutzburg. Raus wird man später nur nach vorne kommen, über den Zuschauersaal. Aber erst einmal lässt sich Ed (Holger Bülow), der junge Germanistikstudent, der vor seinem Unglück im Sommer 1989 nach Hiddensee flieht, an Seilen aus dem Bühnenhimmel herunter, mitten in den Gasthof Zum Klausner. Deus ex Machina, das passt für die, die sich hier verschanzt haben: kein Vorher, kein Nachher. Hauptsache hier.
Ed wird vom zirkusdirektorigen Vorstand Krombach (Christoph Hohmann) in den Klausner eingeführt, trifft bald Kruso (Raphael Rubino). Ein Berg, der Mann. Eine Festung, und bald Eds Freund. Raphael Rubino zeigt, warum es sich doch lohnt, Romane ab und zu in Bildern vorgeführt zu bekommen: Er erfüllt die Erwartungen, indem er sie aufs Schönste bricht. Sein Kruso hat trotz Zottelhaar nichts Indianisches, ist kein gebräunter Venezolaner, dem man, wie Ed im Buch, zutraut, dass er jederzeit die Panflöte zückt. Aber er hat Autorität, Ruhe, eine massige Eleganz, das Zeug zum Guru. Einer, der in urmenschliche Verschwörungstänze ausbrechen kann, ohne lächerlich zu sein. Höchstens ein My ironisch. Holger Bülows Ed muss davor der staunende Junge bleiben, verzagt, aber ziemlich blass.
Kruso ist Wächter und Herz der Klausners, er lässt zur Literatur antreten („Le- sung!“) und wehrt die politischen Veränderungen von außen ab („Festlandgedöns!“). Die durchchoreografierten, frohgemuten Servier- und Abwaschorgien, das Weihnachtsfest zur Sommersonnenwende – das ist die Welt, die Kruso verteidigt. Perfekt, weil sie kein Draußen kennt, keines sucht. Die Regie nimmt das Prinzip auf: zeigt keine Grenzpolizei, keine Soldaten, mit der Ausnahme von Cleo (Larissa Aimée Breidbach) keine „Schiffbrüchigen“. Wo sie diesem Prinzip untreu wird, wo doch Außenstehende (Stasi, Kruso-Erklärer Rommstedt) auftauchen oder Publikum ins Geschehen gezerrt wird, ist die Inszenierung am schwächsten. Stark, wo sie untersucht, was diese Welt zusammenhält. In einer pantomimischen Szene – es herrscht elegische Mittagsmüdigkeit nach der großen Abwaschorgie – summt eine imaginierte Fliege von einem zum nächsten, von Mund zu Mund, und zeigt so, stumm, ein Credo des Klausners: Solange alle mitmachen, läuft’s. Das Meer, das schöne, machen sie sich bei Elias Perrig selbst. So schön wie im eigenen Kopf rauscht es in Wirklichkeit ohnehin nie. Noch ein Klausner-Prinzip: Innen ist die Freiheit am größten.
Aber dann berichtet Radio Viola (Andrea Thelemann) doch vom Draußen. Die Grenzen öffnen sich. Dahin ist die innere Kraft, die Welt ruft, Hauptsache weg! Die Belegschaft verlässt das Schiff. Bis auf Kruso und Ed. Der Guru Kruso geht daran zugrunde. Was im Roman um einige Handlungsstränge komplizierter ist, sieht sich hier tatsächlich so: Kruso verendet an der Öffnung der Grenzen. Ohne die, sagt die Inszenierung, kann der Freiheitssucher Kruso nicht sein. Auch Ed, der sich in die neue Zeit gerettet hat, bleibt zuletzt, viele Jahre nach der Wende und „drei Kilometer vor Potsdam“, nur der schöne, traurige Seiler-Satz: „Der Wald hält still und rauscht mit den alten Sätzen.“ Mit einem nüchternen Plopp geht die Geschichte um die Festung Kruso zu Ende.
Also: Enttäuscht? Auch. Allerdings nicht so sehr über die Bühnenadaption. Sondern – und das ist dann wohl doch der Triumph dieser Arbeit – darüber, dass es Geschichten gibt, die Stunden, Jahre oder Jahrzehnte dauern, und am Ende macht es eben einfach: plopp. //