Theater der Zeit

Bericht

Das Ährenfeld als stille Utopie

Beim Festival Nebenan/Zblízka erzählen zwei Inszenierungen von intergenerationaler Verständigung

Der Text entstand im „Labor Kulturjournalismus“, einer Kooperation zwischen tdz.de und der „Akademie für zeitgenössischen Theaterjournalismus“.

von Leni Karrer

Assoziationen: Sachsen Dossier: Labor Kulturjournalismus Hellerau – Europäisches Zentrum der Künste

Karol Filo in „The Good Times are Over“. Foto Natália-Zajačiková
Karol Filo in „The Good Times are Over“Foto: Natália-Zajačiková

Anzeige

Wie kann man jenseits von Verhärtung zwischen den Generationen noch miteinander sprechen? Wie schafft man einen Dialog trotz Differenzen? Die beiden Stücke „Slovakia – What’s the Story, Mum (Work in Progress)“ von Katja Dreyer und Peter Šavel, sowie „The Good Times Are Over“ von Karol Filo erzählen von diesem Versuch und fragen nach Verständnis und Annäherung in politischen und persönlichen Generationenkonflikten. Dabei zeigen sie, dass Verständigung und Dialog nicht nur eine Frage von Sprache sind. 

Beide Produktionen sind Teil der Festivalreihe Nebenan von Hellerau – Europäischen Zentrums der Künste, das alljährlich zeitgenössische Kunst aus Ländern und Regionen zeigt, in denen Künstler:innen unter schwierigen politischen Bedingungen arbeiten. Dieses Jahr widmet sich Hellerau unter dem Titel Zblízka der unabhängigen Performing Arts-Szene in der Slowakei, die seit den Parlamentswahlen im Oktober 2023 unter großem Druck steht. Dabei spielt gerade das Verhältnis verschiedener Generationen eine zentrale Rolle.

Mit „The Good Times Are Over“ wollte der aus einem kleinen Dorf bei Bratislava stammende Regisseur Karol Filo eigentlich Mut machen, trotz politischen Differenzen im Dialog zu bleiben. Doch sein filmisch-performativer Essay erzählt vor allem von einem tiefen Graben: Über Wochen hinweg dokumentiert Filo Gespräche mit seinem Großvater, einem pensionierten Landwirt und ehemaligen Regionalvorsitzenden der Kommunistischen Partei Komunistická strana Slovenska (KSS). Dabei entstehen lange, ungeschnittene Videoaufnahmen, die nicht nur Stille, sondern eine geradezu greifbare Distanz zwischen beiden zeigen.

Schon bei Einlass befinden sich Filo selbst und drei Sängerinnen des Dresdner Zentralwerk Chor auf der Bühne, zwischen zahlreichen, auf dem Boden verteilt liegenden Getreideähren sitzend. Im Laufe der Inszenierung wird jede Ähre einzeln von ihnen aufgesammelt und nach und nach zu einem Getreidefeld aufgestellt. Die Performance beginnt mit einer Tonaufnahme von Filo, der seinen Großvater bittet, ihn zu fotografieren. „Wie siehst Du mich, wie war ich als Kind?“ will Filo von seinem Großvater wissen, der daraufhin nur schweigt. „Nicht besonders“, er wisse es nicht mehr, sagt er. Fotos schießt er schließlich doch von seinem Enkel, die als Erstes die schwarze Leinwand auf der Bühne beleuchten.

Dann sitzen Filo und sein Opa gemeinsam am Küchentisch und schauen fern, die Oma huscht laut telefonierend durchs Bild, sie sehen sich schweigend eine Jagdzeremonie an, trinken ein Glas Wein. „Ob sie wohl heute wieder Hühner schießen?“ fragt der Großvater. Die Sprachlosigkeit zwischen Enkel und Opa wird in den darauffolgenden Videoaufnahmen zum zentralen Element und erzählt von zwei konträren Lebensrealitäten. In den Dialogen sind die beiden selten in einem Bild zu sehen, meist trennt im Split Screen ein unüberwindbarer schwarzer Balken die Aufnahmen. Die Komposition zwischen Tonaufnahme, Untertitel, Bild und Bühne ist hier hervorragend gesetzt. Projizierte Tagebucheinträge Filos wechseln sich mit immer wiederkehrenden Annäherungsversuchen ab. Als der Großvater nach einer OP unbeholfen von seiner Angst vor Demenz erzählt, sind die beiden Figuren zum ersten Mal in einem Bild zu sehen.

Begleitet und unterbrochen werden die Videoaufnahmen durch deutsch und slowakische Volkslieder, die auf der Bühne gesungen werden. Wo die Sprache zwischen den beiden Männern versagt, setzen die Frauen mit ihren Stimmen ein. Je distanzierter die Beziehung der beiden wird, desto weniger Bild und Text sind zu sehen, desto mehr herrscht Schweigen. Zum Bruch kommt es, als der Großvater darüber spricht, bei den Parlamentswahlen im Oktober 2023 die russlandfreundliche Partei wählen zu wollen. Die Leinwand wird schwarz, als Filo die harten Schlussworte des Abends ausspricht, „Wenn Du Pellegrini wählst, werde ich nie wieder mit Dir sprechen“.

Worüber der Großvater denn ein Theaterstück machen wolle, wenn er könnte, fragte Filo ihn noch zu Beginn. Er wisse es nicht recht, vielleicht etwas Lustiges mit Landwirtschaft, antwortete der Großvater. Filo sitzt bis zum Ende mit dem Rücken zum Video. Am Ende ist ein Getreidefeld auf der Bühne entstanden, trotz der schwierigen Gespräche ist es beständig weitergewachsen. Gibt es also noch Hoffnung zwischen den Generationen? Und: Ist Annäherung auch möglich, wenn wir einander nicht verstehen?

Hoffnungsvoll und mutig verhandelt das Zwei-Personen-Stück „Slovakia – What’s the Story, Mum?“ von Katja Dreyer und Peter Šavel die Frage nach Verständigung zwischen den Generationen. In einer spielerischen Form versucht eine Tochter, die Lebensgeschichte ihrer Mutter zu begreifen, die geprägt ist vom Prager Frühling.

Das Stück bewegt sich als performative Erinnerungsarbeit durch verschiedene Erzählstränge: Die Mutter wird aus der kindlichen Perspektive der Tochter nachgestellt, historische Begebenheiten werden umrissen, die Krisensituation wird zwischendurch über starke Sätze reflektiert: „Everything is falling apart. So do we fall apart as well?“ Die Szenen springen zwischen Zeiten und Perspektiven, doch statt Sentimentalität schafft die Inszenierung eine warme, fast humorvolle Annäherung an die Mutterfigur und die Beziehung zur Tochter – etwa wenn erzählt wird, wie sich die Mutter verändert, sobald sie ihre Muttersprache Slowakisch spricht. „Die Sprache wanderte in ihren Körper“, heißt es einmal. Das Motiv der Annäherung über körperliches Nachahmen und Spiegeln zieht sich wie ein Leitfaden durch das Stück. Wenn es auch kein gegenseitiges Verstehen in der Sprache gibt („Ich verstehe es nicht, Mama“, äußert Katja Dreyer immer wieder), so finden die beiden Spieler:innen doch im Körper zusammen – sei es beim kindlichen Spaß-Spiel aus dem Film „Tausendschönchen“, in einem wiederkehrenden Tanz oder in Kreisen laufend durch den Raum.

Die Mittel der Inszenierung sind einfach und dennoch so stark: Als es um Selbstverbrennungen als Akt des Widerstands geht, zieht sich Peter Šavel nur einen roten, transparenten Stoff über das Gesicht – ein minimalistisches, aber eindrückliches Bild. All das geschieht mit einer Leichtigkeit und Klarheit, die durch spielerische Elemente und (scheinbar) autobiografische Bezüge kreiert wird.

Immer wieder werden ungelöste Fragen in den Raum gestellt und doch bleibt am Ende der Satz: „Some things you can choose. Some things not. But if you can, you must!“

Beide Stücke zeigen auf unterschiedliche Weise, dass Verständigung nicht nur eine Frage der Sprache ist, sondern auch eine des Zuhörens, der Erinnerung und der körperlichen Erfahrung. Während „The Good Times Are Over“ die Härte und Unnachgiebigkeit eines solchen Konflikts betont, findet „What’s The Story, Mum?“ poetische und verspielte Wege, um trotz Differenzen Nähe zu schaffen. Am Ende bleibt die Frage offen: Gibt es eine Möglichkeit, jenseits der verhärteten Fronten miteinander zu sprechen – oder bleibt das Ährenfeld nur eine stille Utopie?


Das „Labor Kulturjournalismus“ ist eine Kooperation zwischen der „Akademie für zeitgenössischen Theaterjournalismus“, initiiert vom Bündnis internationaler Produktionshäuser, Hellerau – Europäisches Zentrum der Künste in Dresden und Theater der Zeit.

Die 2019 gegründete „Akademie für zeitgenössischen Theaterjournalismus“ hat zum Ziel, Theaterjournalismus im deutschsprachigen Raum zu stärken – in der Überzeugung, dass ein öffentlicher Diskurs über Theater, Tanz und Performance wichtig für Kunst und Gesellschaft ist. 

Die Akademie versteht sich als Möglichkeitsraum, in dem journalistische Praxen gegenstandsgerecht gedacht, erprobt und zur Diskussion gestellt werden können. Im Rahmen einer neuen Kooperation entwickeln die Teilnehmenden des fünften Akademiejahrgangs Texte und Videos, die das Verständnis von Kulturjournalismus und Theaterkritik herausfordern und erweitern. Das Labor ermöglicht neue Formate, Schreibstile und Textformen. 

Weitere Texte und Videos aus dem „Labor Kulturjournalismus“ gibt’s hier auf der Website und auf unserem Instagram-Kanal @theaterderzeit.

Verantwortlich Theater der Zeit: Lina Wölfel und Nathalie Eckstein
Verantwortlich Akademie für zeigenössischen Theaterjournalismus: Esther Boldt und Philipp Schulte

Erschienen am 12.2.2025

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Die „bunte Esse“, ein Wahrzeichen von Chemnitz
Alex Tatarsky in „The Future Is For/ Boating“ von Pat Oleszkos, kuratiert von ACOMPI für die Galerie David Peter Francis, Juni 2024, vor dem Lady Liberty Deli im St. George Terminal, Staten Island, New York