Gespräch
Was macht das Theater, Tuğsal Moğul?
von Tuğsal Moğul und Natalie Fingerhut
Erschienen in: Theater der Zeit: Wir sind die Baumeister – Ein Schwerpunkt über Theater und Architektur (11/2020)
Assoziationen: Dossier: Was macht das Theater...? Schauspielhaus Hamburg

Herr Moğul, viele Ihrer Stücke thematisieren die Entwicklungen an unseren Krankenhäusern. Sie sind aber nicht nur Dramatiker und Regisseur, sondern selbst auch Arzt: Wie sehen Sie den Klinikalltag?
Als ich von Niels Högel las, war meine erste Reaktion: Das hätte überall in Deutschland passieren können.
Der Krankenpfleger hatte Patienten lebensbedrohliche Medikamente gespritzt und wurde in 85 Fällen des Mordes schuldig gesprochen.
Das System ist so überfordernd, das medizinische Personal so unter Druck, dass man gar nicht mehr die Möglichkeit oder die Lust hat zu fragen, wie es dem Kollegen geht oder wie er seinen Job macht. Durch die Agenda 2010 und die Privatisierung der Kliniken haben Konzerne die Krankenhäuser zu Dienstleistungsunternehmen gemacht: Wir müssen gewisse Leistungen erbringen, damit das Haus ein Plus erwirtschaftet. Dafür werden viele OPs durchgeführt, die womöglich gar nicht indiziert sind.
Was hat Corona mit Ihnen als Regisseur gemacht?
Mein Stück „Deutsche Ärzte grenzenlos“ sollte im März in Münster uraufgeführt werden. Zwei Stunden davor waren wir im Lockdown, weil 25 Leute im Theater positiv getestet wurden, das war heftig.
Die Münsteraner Uraufführung wurde ins nächste Jahr verschoben. Unterdessen kam ein neues Stück von Ihnen im Malersaal des Hamburger Schauspielhauses heraus: „Wir haben getan, was wir konnten“.
Derzeit dürfen dreißig Zuschauer in diesen Saal, in der Premiere saßen gefühlt zwanzig Kritiker und zehn reguläre Besucher. Das fühlt sich eher wie ein mündliches Staatsexamen an – ich muss ehrlich sagen, da hätte ich nicht Schauspieler sein wollen. Es ist wichtig, weiterzumachen – aber so viel schwerer, den Zauber herzustellen!
Im Stück kommt Musik von Henry Purcell vor, die Kostüme enthalten Barockelemente. Ich musste an die Herrscher dieser Zeit denken – völlig der Realität enthoben und von Macht besessen.
Alle Figuren haben die Nähe zu Krankheit und Tod – das war in der Barockzeit durch die Pest und den Dreißigjährigen Krieg auch so. Zudem der schöne Schein: Unter den kunstvollen Perücken mieft es, es modern die Pilze. Für mich gab es eine Parallele zu diesen durchökonomisierten Krankenhäusern, die immer schöner werden: diese Empfangsbereiche mit ihren Klavieren, die eher wie Hotelfoyers anmuten – aber hinten läuft die Maschinerie mit viel zu wenig Personal und Ressourcen. Und wenn ein Apotheker Chemotherapie-Medikamente an die Patienten weitergibt, die nur zehn Prozent des Wirkstoffs enthalten, das aber bei den Kassen voll abrechnet – diese Hybris, sich über Leben und Tod zu erheben, das passt schon auch in die Barockzeit. Högel, der mit dem Tod der Patienten spielt, um sie wieder ins Leben zurückzuholen – das hat etwas irre Absurdes, im negativen Sinne Gottgleiches.
Die drei Kriminalfälle im Stück wurden nur durch jahrelanges Wegschauen möglich. Begünstigt das Krankenhaus-System dieses Wegschauen, und ist es umso wichtiger, dass man im Theater hinschaut?
Wir leisten zwar alle bei der Approbation das Ärztegelöbnis, den modernen hippokratischen Eid. Aber der ökonomische Druck ist so groß geworden, dass bestimmte ethische Fragen hintangestellt werden. Chefärzten werden Bonuszahlungen in Aussicht gestellt, wenn sie in einer bestimmten Zeitspanne noch mehr operieren – und bei Schwestern und Pflegern wird gekürzt. Ob die Gesellschaft an sich die Würde des anderen anerkennt und Mitmenschen Respekt zollt, spiegelt sich im Krankenhaus wider. Ich glaube sowieso, dass das Krankenhaus einen Mikrokosmos unserer Gesellschaft viel deutlicher abbildet, als Theater es bisher kann. Hier operieren alle Nationalitäten und Ethnien, aber auf der Bühne ist es noch nicht Alltag, Hamlet mit einem Schauspieler aus Kamerun zu besetzen – ohne dass das kontextualisiert wird.
Wenn also das Krankenhaus die Gesellschaft abbildet, kann das Wegschauen als symptomatisch angesehen werden?
Gerade das, was wir an politischen Haltungen weltweit beobachten können, findet man natürlich im Krankenhaus wie unter einem Brennspiegel vergrößert. Da trifft man den Erzkonservativen ebenso wie den linksliberalen Menschen, den Hartz-IV-Empfänger und die Professorin. Und was die Werte der Gesellschaft angeht: Die Durchökonomisierung finden wir letztlich überall – in den Krankenhäusern aber führt sie dazu, dass ethische Fehlentscheidungen getroffen werden. Du siehst Ärzte und Schwestern rennen, alle sind im Stress. Das mag in vielen Berufen so sein. Aber wenn es um Menschen geht, um Leben und Tod, ist Ökonomie kein passendes Konzept. //