Vom Standort des Dramatikers
Zentripetale und zentrifugale Kräfte in der Dramatik
von Friedrich Wolf
Erschienen am 1.7.1946
Die folgenden Ausführungen Friedrich Wolfs werden vielleicht bei manchem Leser Widerspruch hervorrufen. Unsere Zeitschrift' steht einer sachlichen Erörterung aller Beiträge offen. Die Redaktion.
Der künstliche Wind, der heute vielfach um eine Gegensätzlichkeit zeitnaher oder klassischer (und klassizistischer) Dramatik erzeugt wird, hat gewisse nebulöse Begriffe noch mehr durcheinandergewirbelt. Dabei waren die Grundfragen der Dramaturgie sogar in der Antike nicht viel anders gelagert als heute.
Sieht man von der zeitbedingten Thematik und ihren Formproblemen ab - von der Entwicklung der offenen Gemeinschaftsbühne des Amphitheaters mit dem Protagonisten und Chor. zur Guckkastenbühne und dem Rangtheater mit dem differenzierten Schauspielensemble-, entscheidend für das Theater war und ist der schöpferische Standort des Dramatikers, sein innerer Ausgangspunkt, der archimedische Hebelpunkt, von dem aus er seine Welt bewegt. Nehmen wir Sophokles und Euripides, die beide eine "Elektra" schufen. Sophokles geht vom festgelegten Mythos an den Stoff der unentrinnbaren, schicksalhaften Rache, er nimmt seine Charaktere als durchaus typische Gattung, er stößt zentripetal von außen nach innen vor, von der traditionellen, barbarischen Umwelt und Götterwelt zum individuellen Zentrum Mensch. Euripides dagegen hat seinen Standort von vornherein in der Psyche des Menschen bezogen. Seine Elektra ist nicht die "rächende Flamme" des Sophokles (und noch weniger die des Aischylos), sie ist...
Erschienen am 1.7.1946