Der Zehnkämpfer
Laudatio für Charly Hübner. Verleihung des Gertrud-Eysoldt-Ringes 2016
Erschienen in: backstage: HÜBNER (01/2023)
Assoziationen: Charly Hübner
Wir suchen
Bei Tag am Horizont nach einem SegelSOEREN VOIMA
Vor fast zwanzig Jahren standen wir schon einmal gemeinsam auf dieser Bühne hier in Bensheim. Charly als Kreon, ich selbst als Antigone. Das war im Rahmen der „Woche junger Schauspieler“. Von einem Gertrud-Eysoldt-Ring hatten wir, bevor wir nach Bensheim kamen, ehrlich gesagt, noch nie gehört. Erstaunt erfuhren wir nun, dass es im Kosmos einer Kunst, in der wir beide Anfänger waren, eine offenbar Lichtjahre entfernte Galaxie gibt, in der – wie die Lichtschwerter bei den Jedirittern – magische Ringe verliehen werden. Für uns Anlass zu Witzen. Und natürlich zu der Wette, wer von uns es zuerst schaffen würde, diesen Ritterschlag zu erhalten.
Lieber Charly, dir ist es gelungen!
In der Begründung der Jury steht eine ganze Reihe sehr guter Gründe dafür: Authentizität, Leichtigkeit und Virtuosität, Lust an Brüchen, Ein- und Ausbrüchen, Humor und Melancholie, Klugheit und Kraft, Zärtlichkeit, Sanftheit und Grobheit, Präzision und Lust an Entgrenzung, spielerische Gelassenheit – all diese Eigenschaften beschreiben die überwältigende Bandbreite deiner Schauspielkunst, und man könnte die Beschreibung mühelos noch ein paar Minuten fortsetzen. Warum nicht, es ist ja eine Lobrede.
Andererseits sage ich den meisten hier, zumindest denen, die das Glück hatten, dich auf der Bühne zu sehen oder gar mit dir zu arbeiten, vermutlich nichts Neues. Und es gehört auch zu den tragischen Tatsachen nicht nur unseres Metiers, dass wir auf der Höhe des Erfolgs mit Lob geradezu erschlagen werden, während dann, wenn wir Lob am dringendsten bräuchten – in den Momenten der Unsicherheit, des Scheiterns, der Krise –, mit Sicherheit auf uns eingeprügelt wird.
Unsicherheit, Scheitern, Krise begleiteten von Anfang an deine Arbeit auf der Bühne. Und ich möchte sagen, zu deinen größten künstlerischen Fähigkeiten gehört es, dich verunsichern zu lassen, ohne dich zu verlieren, gehört es, zu scheitern, ohne daran zu zerbrechen.
In meiner ersten Erinnerung an dich stehst du in schlabberigen Khaki-Hosen und T-Shirt neben einer Bank auf der Probebühne „Wolfgang Heinz“ in Berlin-Schöneweide. Es ist das Szenenvorspiel zweier Mitstudenten, bei dem du offenbar irgendwie als Stichwortgeber fungierst. Das Stück hab ich vergessen. Die Mitstudenten auch. An dich erinnere ich mich sehr gut. Obwohl fast ohne Text, neben der Bank stehend, zogst du während dieses Vorspiels meine ganze Aufmerksamkeit auf dich. Diese unglaubliche Bühnenpräsenz – eines der Gottesgeschenke, die man Talent nennt – machte dich an unserer Schauspiel-Kaderschmiede zu einem der vielversprechendsten und begehrtesten Studenten.
Als ich dann das erste Mal mit dir probierte – immer noch auf der Schauspielschule –, beeindruckten mich deine Zähigkeit, dein Arbeitswille, deine Unermüdlichkeit. Der Kerl hat die Ausdauer und die Kraft eines Pferdes, dachte ich, und wusste damals noch nicht, dass ich es mit einem echten Zehnkämpfer zu tun hatte, einem Leistungssportler, der direkt von der Aschenbahn auf die Bühnenbretter gesprungen war.
Auf unseren gemeinsamen Gastspielen bemerkte ich immer wieder etwas Verblüffendes: Während ich mich sozusagen noch auf der Suche nach der Garderobe befand, warst du schon mit dem Kantinenpächter per du, hattest mit dem Intendanten über die heutigen Zuschauerzahlen und die Auslastung im Allgemeinen gesprochen, wusstest, wo die Technik den Fernseher zum Fußballgucken stehen hat und welche Kneipe der Beleuchtungsmeister besonders empfiehlt. Deine Offenheit, auf Menschen zuzugehen und im Gespräch mit ihnen – gleich welcher Herkunft oder Schicht – irgendwie den genau richtigen Ton zu treffen, habe ich immer bewundert. In ihr steckte schon damals eine Lebenserfahrung, die nicht auf ein bestimmtes Milieu, eine bestimmte Bildung, eine bestimmte Gehaltsklasse beschränkt, sondern aus einem sehr breiten gesellschaftlichen Spektrum gespeist war: von der tiefsten ostdeutschen Provinz, der deprimierendsten Nachwendetrostlosigkeit und der Hysterie eines gerade wiedervereinigten Berlin, von den sturköpfigen mecklenburgischen LPG-Bauern, der plötzlich führungs- und arbeitslosen ostdeutschen Arbeiterklasse, von den jugendlichen Neonazis, den geschäftstüchtigen vietnamesischen Zigarettenhändlern, den Westberliner Salonkommunisten und Spaßrevolutionären, den Ecstasy-Freaks aus der Techno-Szene, den DDR-Nostalgikern von Prenzlauer Berg, den Charlottenburger Klugscheißern …
Du hattest schon damals nicht nur sehr viel gesehen und erlebt, sondern du hattest die Fähigkeit, das Gesehene und Erlebte aufzusaugen. Ich erinnere mich an Gespräche in unserer Rummelsburger Probenkantine – einer Kneipe, die vor allem von Taxifahrern, Prostituierten, Zuhältern und, damals noch, irischen Bauarbeitern frequentiert wurde –, bei denen es mir vor Verblüffung und Fremdheit die Sprache verschlug, während du, gewissermaßen auf Knopfdruck, in die richtige Tonlage schalten und den Gesprächspartnern so die erstaunlichsten und zum Teil erschreckendsten Geständnisse entlocken konntest. Dabei spielte es übrigens nicht die geringste Rolle, dass dein Englisch damals hundsmiserabel war. Dieser Mensch, dachte ich, kann wirklich – wie es biblisch so schön heißt – in Zungen reden.
Diese Fähigkeit ist in einem Theater, das Gefahr läuft, reines Zielgruppenprogramm für eine intellektuelle Mittelschicht zu sein, besonders – fast hätte ich gesagt wichtig, wichtig ist es vielleicht auch, vor allem aber ist es wohltuend. Dass auf der Bühne glaubhaft mit dem Sprachgestus unterschiedlichster Schichten gespielt wird – dem berühmten sozialen Gestus –, bereitet Genuss. Den allgemeinen Verlust dieses Gestus empfinde ich als Verarmung.
Nach der Schauspielschule gingen wir gemeinsam mit den Regisseuren Tom Kühnel und Robert Schuster als hoffnungsvolle und natürlich präpotente Truppe ans Schauspielhaus Frankfurt. Zu Peter Eschberg. Wir wussten natürlich alles besser. Und wollten natürlich alles ganz anders machen. Und wir machten auch vieles ganz anders.
Dort, in Frankfurt, erlebtest du allerdings auch den vermutlich härtesten Moment, den ein Schauspieler erleben kann. Du wurdest umbesetzt. Und nicht von irgendeinem Regisseur, irgendeiner Regisseurin, das wäre halb so wild gewesen, die meisten hatten in unseren Augen ohnehin keine Ahnung. Nein, von UNSEREN eigenen Regisseuren. Sie trauten dir die Bewältigung einer großen Rolle plötzlich nicht mehr zu. Ich erinnere mich sehr gut an diesen schmerzhaften Moment und auch an die verheerenden Folgen, die diese Entscheidung für lange Zeit auf dein Selbstbewusstsein als Mensch und deine Unbefangenheit auf der Bühne hatte. Eine dieser Krisen. Vielleicht die größte.
Ich erinnere mich übrigens auch sehr gut an den Moment, in dem du – ungefähr zwei Jahre später und nun schon am Frankfurter TAT – deine Fähigkeit, eine Hauptrolle zu schultern, geradezu lässig demonstriertest. Die Proben waren turbulent verlaufen, die Kollegen waren verunsichert, das Konzept ging nicht auf. Die Premiere wurde von dir nicht nur zusammengehalten, du warst das eigentliche Ereignis dieser Aufführung, dem wir staunend beiwohnten. Die Krise war vorbei; du hattest sie genutzt.
Übrigens nicht nur für das Theater. In dieser Zeit entstand auch dein berühmter Bewerbungskrimi für die Filmagenturen, in dem du selbst Regie führtest und alle Rollen, sechs oder acht, ich weiß es nicht mehr genau, selbst spieltest. Heute klingt das nicht ungewöhnlich, damals war das wirklich innovativ. Der Film hat, wie ich hörte, Maßstäbe gesetzt und wird von deiner Agentur bis heute Schauspielabsolventen als besonders gelungenes Bewerbungsvideo gezeigt …
Ja, und mit diesem Film begann das, was die Jury deine „Bewegung zwischen Film, Fernsehen und Theater“ nennt. Das heißt: Zunächst fiel deine Entscheidung ganz klar zugunsten von Film und Fernsehen. Die interessanteren Rollen wurden dir zwar inzwischen vom Theater angeboten, aber, ich erinnere mich an unser Gespräch: Du brauchtest Geld, nicht für dich, sondern Geld für deine Familie. Mit interessanten Rollen kann man als junger Schauspieler in Frankfurt zwar leben, darüber hinaus ist nicht viel möglich. Deine Filmkarriere begann also als reiner Geldjob, dem du die Theaterleidenschaft vorübergehend opfern musstest. Und du knietest dich in diesen Job mit der gleichen Ausdauer, Zähigkeit und Arbeitslust, mit der du bisher Theater gespielt hattest; auch hier konnte dich keine noch so misslungene Produktion, kein noch so deprimierendes Drehbuch entmutigen. Ein Zehnkämpfer.
Es war also nur eine Frage der Zeit, bis auch die Filmrollen größer und anspruchsvoller wurden. Die Geldprobleme traten in den Hintergrund, und – Gott sei Dank – deine Leidenschaft für die Bühne war ungebrochen.
Vom Drehen – das kann ich allerdings nur vermuten – hast du etwas ins Theater mitgebracht, was ich früher so nicht wahrgenommen habe: eine geradezu akribische Vorbereitung auf die Probenarbeit. Diese Vorbereitung auf das Stück, auf deine Rolle bedeutet auch, dass du einen sehr scharfen Sinn für ihre Ökonomie, für ihre Entwicklung im Verlauf des Stückes und, darüber hinaus, für das Stück als Ganzes entwickeln kannst. Dass diese Genauigkeit zusammengeht mit einer ungebrochenen Lust am Ausprobieren, Improvisieren, am Sich-Ausliefern, ist jedes Mal beglückend zu erleben.
Lieber Charly, in ihrer Begründung hebt die Jury zwei deiner Theaterrollen hervor: Den Ermittlungsrichter Porfirij Petrowitsch in Karin Henkels Inszenierung Schuld und Sühne – und den Onkel Wanja in Karin Beiers gleichnamiger Tschechow-Inszenierung. Diese Hervorhebung freut mich besonders, da ich deine Suche, deine Unsicherheit und deinen Kampf mit und in diesen Rollen miterlebt habe. Beides waren für dich keine leichten Arbeiten. Und die Suche nach dem richtigen Ausdruck der Figuren ist für dich nicht abgeschlossen; immer wieder gibt es Punkte der Unzufriedenheit, des Haderns, des Fragens.
Ich weiß nicht, wie es dir mit deinen Filmrollen geht, die ja zwangsläufig irgendwann für alle Ewigkeit auf Zelluloid oder Festplatte gebannt sind – aber dass du deine Arbeit auf der Bühne nie als abgeschlossen begreifst, dass du um den immer neuen, lebendigen Moment ringst, in einem nie bewältigten und nie zu vollendenden Prozess, das beweist mir, wie tief dein Verständnis von Schauspielkunst im Theater wurzelt.
Ich weiß, wie oft und wie sehr du mit dem Theater als solchem haderst. Und wie schwierig es inzwischen für dich ist, dein Leben zwischen Film, Fernsehen und Theater zu koordinieren. Dennoch: Ich wünsche dir, und ich wünsche es vor allem auch dem Theater, dass du auch in Zukunft auf der Bühne zu sehen sein wirst …
CHRISTIAN TSCHIRNER, geboren 1969 in Lutherstadt Wittenberg. Schauspielstudium an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin. Schauspieler u. a. am Schauspielhaus und am TAT Frankfurt am Main. Regie am TAT, am Neuen Theater Halle, am Stuttgarter Schauspielhaus, am Bochumer Schauspielhaus, am Nationaltheater Mannheim, am Staatstheater Braunschweig, am Schauspiel Hannover. Dramaturg am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, seit 2019 leitender Dramaturg an der Schaubühne am Lehniner Platz Berlin. Zusammen mit den Regisseuren Tom Kühnel und Robert Schuster gründete er das Autorenkollektiv Soeren Voima. Unter diesem Pseudonym schreibt er auch eigene Stücke.