Theater der Zeit

2.3 Zum Korpus: Kurzvorstellung der Beispielaufführungen

von Theresa Schütz

Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)

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Wie in Kapitel 2.2 dargelegt, hat es die sehr breite Sichtung von Performances und Theateraufführungen in Deutschland, Dänemark, Österreich, Großbritannien, den USA und Belgien ermöglicht, zu entdecken, dass im Feld dessen, was als partizipatives oder immersives Theater angekündigt und/oder besprochen wird, eine Gruppe künstlerischer Produktionen in symptomatischer Weise herausfällt. Der Analyse dieses Korpus von immersivem Theater im engeren Sinne widmet sich diese Studie mit Blick auf die ihn auszeichnenden, auf Vereinnahmung abzielenden Modi der Publikumsinvolvierung. Beweggründe, aus den 25 Arbeiten just die folgenden sechs im Rahmen exemplarischer Analysen ins Zentrum zu stellen, sind folgende:

Während Punchdrunk insbesondere im anglophonen Bereich der Theaterwissenschaft zu den am intensivsten beforschten Produktionen immersiven Theaters zählt, sind alle weiteren Beispiele im Kontext einer Auseinandersetzung mit der Theorie und Ästhetik immersiver Theaterformen weitestgehend unbesprochen. Zu SIGNA gibt es in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft zwar inzwischen einige Aufsätze und Buchkapitel, allerdings kaum im Kontext von Immersionstheorien und wirkungsästhetischen Fragen. Da ich der Auffassung bin, dass SIGNA – analog zu Punchdrunk im britischen Kontext – das wichtigste Künstler*innen-Kollektiv für immersives Theater im deutschsprachigen Raum ist, halte ich es für gewinnbringend, ihre Arbeiten in dieser Studie erstmals zusammenzubringen, nicht zuletzt, um einen vergleichenden Blick möglich zu machen.

SIGNA war in den vergangenen Jahren äußerst produktiv. So hatte ich während der Projektlaufzeit 2015 bis 2019 die Möglichkeit, in Hamburg, Mannheim und Wien insgesamt vier verschiedene Produktionen (Söhne & Söhne, Wir Hunde, Das Heuvolk, Das halbe Leid) mehrfach zu sichten. Die Fokussierung auf drei SIGNA-Arbeiten resultiert aus der Tatsache, dass ich im Rahmen der Projektarbeit entlang der gesichteten SIGNA-Arbeiten auch mit Formen empirischer Publikumsforschung experimentiert habe, die nicht nur für den Prozess meines theoretischen Nachdenkens über das Verhältnis von Immersion und Theater, sondern auch für methodische Fragen von großem Einfluss für diese Studie waren (vgl. dazu Kap. 3).

Dass ich neben dem »immersive-theatre«-Klassiker Sleep no more von Punchdrunk und den drei SIGNA-Inszenierungen73 die Produktion Alma des österreichischen Schauspielers und Regisseurs Paulus Manker in die Analysen einbeziehe, dient zum einen dem Anspruch einer internationalen Konstellierung des Analysekorpus zeitgenössischer, immersiver Theaterproduktionen. Zum anderen akzentuiert die Auswahl Mankers, dass wir es bei immersivem Theater mit einer Theaterform zu tun haben, die nicht erst mit Beginn des Diskurses um »immersive theatre« Anfang der zehner Jahre aufkommt, sondern bereits seit mehr als zwanzig Jahren an unterschiedlichen Orten Europas von verschiedensten Künstler*innen unabhängig voneinander entwickelt wird. Es ist aber gerade ebenjener Diskurs und die von ihm theoriegeleitete Perspektivierung, die dazu einlädt, Mankers immersives Theater avant la lettre mit Produktionen von Punchdrunk und SIGNA in Bezug auf ihre Gemeinsamkeiten und Differenzen zusammendenken.

Während Signa und Arthur Köstler, die im Kollektiv SIGNA in wechselnden Konstellationen mit Szenograf*innen, Performer*innen und interessierten Laien zusammenarbeiten, in Bezug auf ihre Ausbildung und ersten Arbeiten eher aus dem Bereich der bildenden Künste kommen – Signa mit Schwerpunkt auf Installationskunst und Arthur auf Medienkunst und Musik –, haben wir es bei Paulus Manker, Felix Barrett und Tamilla Woodard, welche für 3/Fifths mit dem Autor James Scruggs kooperierte, mit Theatermacher*innen zu tun. Allen gemeinsam ist ein gewisser institutionskritischer Ansatz, insofern sie mit ihren Produktionen das traditionelle Dispositiv einer Trennung von Bühne und Zuschauerraum zu überwinden suchen.

Mit 3/Fifths von Scruggs/Woodard nehme ich zuletzt noch eine neuere Produktion aus dem US-amerikanischen Kontext hinzu, die zwar in der regionalen Presse besprochen wurde, aber bislang keinen Eingang in die anglophonen Debatten und Diskurse um »immersive theatre« gefunden hat. Mit dieser Arbeit erweitert sich einmal mehr der internationale Fokus der Betrachtung. Und mit dem fiktiven Themenpark SupremacyLand fächert sich auch das Spektrum jener theatralen Weltversionen, die gemeinsam mit den teilnehmenden Zuschauer*innen im Modus einer ästhetischen Wirklichkeitssimulation hervorgebracht werden, noch einmal signifikant aus: So reicht das Spektrum vom Besuch eines fiktiven Hotels, in dem sich ominöse Mordfälle ereignen (Sleep no more), dem Besuch einer fiktiven Geburtstagsfeier im Privathaushalt der fiktionalisierten Alma Mahler (Alma) über die Teilnahme an einem Workshop in einer fiktiven Sozialstation (Das halbe Leid) und den Besuchen in einem Verein, in dem Vertreter*innen einer fiktiven Transspezies leben (Wir Hunde) sowie in einer fiktiven Glaubensgemeinde (Das Heuvolk) bis zum Aufenthalt in einem fiktiven Themenpark, in dem weiße Vorherrschaft und Rassismus ausgelebt werden (3/Fifths).

Gemeinsam ist allen Beispielen, dass sie ihre Zuschauenden mit Aufführungsbeginn und Schwellenübertritt als Gäste einer fiktiven Institution framen und sie für die Dauer der Aufführung systematisch an der Hervorbringung der Wirklichkeitssimulation beteiligen. Signifikante Unterschiede gibt es hinsichtlich der Spieldauer (von drei Stunden bei 3/Fifths bis zwölf Stunden bei Das halbe Leid), der Finanzierung74 und auch der Spektren der Publikumsinvolvierung. Denn während Zuschauer*innen bei Alma aufgrund des festgelegten Dramentexts nicht mit den Figuren ins Gespräch kommen, bilden die Gespräche zwischen Zuschauer*innen und Darsteller*innen in ihren Figuren das Herzstück einer jeden SIGNA-Arbeit. Differenzen gibt es auch hinsichtlich des Grades der Professionalisierung der Mitwirkenden75 sowie hinsichtlich des Grades der Autonomie, der den beteiligten Künstler*innen bei der Mitgestaltung der verschiedenen Inszenierungsparameter zugestanden wird. Diesbezüglich lässt sich eine deutliche Tendenz zu einem eher gemeinschaftlich-kooperativen Kreieren beobachten, wenngleich es in allen Produktionen letztlich die Regisseur*innen sind, die künstlerische Entscheidungen delegieren, leiten und hierarchisch durchsetzen.

Die Vorstellung der Produktionen soll Leser*innen mit den Produktionen und gestalteten Weltversionen vor Beginn der Analysen vertraut machen und erfüllt darüber hinaus auch eine archivierende Funktion, da viel Wissen zu den fiktiven Welten, zu den Narrationen und Figurenkonstellationen (vor allem bei den SIGNA-Beispielen) schlicht nicht verfügbar, sondern in gewisser Weise nur in den Körpern, die die Aufführungen miterlebt haben, gespeichert ist.

73 Die vierte gesichtete SIGNA-Arbeit innerhalb des Forschungszeitraums, Söhne & Söhne, fällt hier einerseits heraus, weil sie viele Parallelen zu Das Heuvolk aufweist und zu inhaltlichen Doppelungen geführt hätte, und zum anderen auch, weil ich zu dieser Produktion bereits verschiedentlich publiziert habe, vgl. Schütz, 2020; Kolesch/Schütz, 2020; Kolesch/Schütz, 2022.

74 Das Spektrum reicht hier von öffentlicher Förderung durch die (ko-)produzierenden Stadttheater (SIGNA), vom Übergang von zunächst öffentlicher Förderung hin zu privatem Sponsoring (Manker), über Mischfinanzierungen von Sponsoring bis Crowdfunding (Scruggs/Woodard) bis zu systematischer Förderung durch Partner*innen aus der Wirtschaft bei Punchdrunk, was auf die verschiedenen lokalen Begebenheiten der Fördersysteme von Kunst in den unterschiedlichen Ländern zurückzuführen ist. Die Finanzierungsmodelle wirken sich entsprechend auf die Ticketpreise aus. SIGNA-Arbeiten, die von subventionierten Stadttheatern produziert werden, können Kartenpreise von durchschnittlich 25 Euro (für sechs- bis zwölfstündige Aufführungen) abrufen, auf die es sogar noch Ermäßigungen gibt. Das mischfinanzierte Off-Broadway-Projekt 3/Fifthssichert Performer*innen-Gehälter durch einen etwas höheren Kartenpreis von umgerechnet etwa 35 Euro. Die niedrigste Preiskategorie, die ein*e Zuschauer*in von Punchdrunks Sleep no more wählen kann, liegt umgerechnet bei knapp 100 Euro. Für einen Preis von umgerechnet 270 Euro erhält man als Gast bevorzugten Einlass, einen eigenen Tisch in der Manderlay Bar sowie eine Flasche Champagner. Den höchsten regulären Eintrittspreis ruft Paulus Manker ab. Hier sind im Alma-Kartenpreis von 125 Euro allerdings das dreigängige Menu, Getränke und Programmheft inbegriffen. Kurz gesagt: Einen Besuch immersiver Theateraufführungen muss man sich (vor allem bei Punchdrunk und Manker) finanziell leisten können. Relevant ist dieser Blick auf die Preisgefüge durchaus auch für die wirkungsästhetische Perspektive. Denn die Kartenpreise regulieren damit auch, an welche (soziale) Klientel sich die Aufführungen richten.

75 Während bei Alma, 3/Fifths und Sleep no more ausgebildete Schauspieler*innen bzw. Tänzer*innen unter Vertrag stehen, arbeitet SIGNA sowohl mit ausgebildeten Darsteller*innen als auch mit Laien, die am Ende etwa sechzig bis siebzig Prozent des Ensembles ausmachen. Im Fall von SIGNA hat diese Zusammensetzung des Ensembles auch maßgeblichen Einfluss auf Ästhetik und Wirkung der jeweiligen Produktionen, vgl. Kap. 4.4.

 

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