Postnationale Wut
von Bernd Stegemann
Erschienen in: Wendungen: Wutkultur (08/2021)
Die Wutkultur der AfD ist exemplarisch für den Zustand der Gesellschaft. Es gibt ein großes Reservoir an Wut, doch es mangelt an einer Kultur, die damit umgehen kann, und es fehlen die konkreten Schritte, was mit der Wut ausgerichtet werden soll. Es handelt sich um eine heimatlose Wut, die jeder Einzelne mit sich herumträgt und die keinen Anschluss an die Zusammenhänge findet. So hat die Wut in der Spätmoderne genau das Schicksal ereilt, das dem Ressentiment im 19. Jahrhundert attestiert wurde. Aus dem berechtigten Aufbegehren wird eine selbstzerstörerische Kraft. Weil die Empörung über die Ungerechtigkeit keinen Hebel findet, um die Welt besser zu machen, wandert sie zurück in die Seele des Empörten. Die Selbstvergiftung an der eigenen Empörung wird zum Ressentiment.
Die heimatlose Wut sucht sich immer neue Anker, an denen sie sich festmachen kann. So finden Verschwörungstheorien massenhaft Anhänger und eine Protestwelle folgt auf die nächste. Jede dieser Bewegungen zeigt, dass der Studierstuben-Thymos leicht anzufachen ist. Es mangelt nicht an Wut in der Welt. Woran es aber mangelt, ist eine Kultur, die aus dieser Wut eine gesellschaftliche Bewegung formt, die man als fortschrittlich bezeichnen könnte. Das Problem der Thymos-Politik der AfD ist also nicht nur ihr rückwärtsgewandtes Bild einer...