Theater der Zeit

thema II: theaterland baden-württemberg

Der Supertanker

Mal fluchend, mal singend – Auf der Dramaturgenbrücke des Badischen Staatstheaters Karlsruhe

von Konstantin Küspert

Erschienen in: Theater der Zeit: Schauspiel Leipzig – Martin Linzer Theaterpreis 2017 (06/2017)

Assoziationen: Baden-Württemberg Badisches Staatstheater Karlsruhe

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Du hast keine Vorstellung, was auf dich zukommt!“, warnte mich meine Freundin und Nochnicht-Kollegin Kerstin, als sie mich 2013 anrief. Sie hatte wissen wollen, ob ich jemanden für die Karlsruher Dramaturgie wüsste, und ich, zu der Zeit Student bei Autordramaturg John von Düffel, hatte unbescheiden mich selbst vorgeschlagen. Nein, ich hatte wirklich keine Vorstellung davon, was dann auf mich zukam; und als zunächst Kerstin, dann Schauspieldirektor Jan Linders und schließlich Generalintendant Peter Spuhler meinem Engagement zustimmten, zog ich aus meiner Berliner Kunstblase in das beschauliche Baden.

Das Erste, was einen dort erwischt, ist die brutale Hitze. Der Kaiser hat in Karlsruhe seine Kolonialbeamten erprobt, General Rommel sein Afrikakorps. Der massive Sichtbetonbau des Badischen Staatstheaters – aus allen Nähten platzend, ein Neubau längst überfällig – wird von Juni bis September eine thermische Herausforderung für die etwa tausend Menschen, die in ihm arbeiten. In diesem Supertanker der deutschen Stadttheaterlandschaft sind fünf Sparten vereint, mit der entsprechenden Vielzahl an künstlerischem, handwerklichem, administrativem und sonstigem Personal. Viele Hände zu schütteln, viele Namen zu merken. Viele Freunde zu finden.

Mein erstes größeres Projekt in Karlsruhe war ein Abend zu den Terrortaten des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds. Zusammen mit dem Regisseur Jan-Christoph Gockel und den sehr interessierten Schauspielern konnte ich mich tief in die Materie versenken, zum Prozess nach München fahren (dem kaufmännischen Direktor erklären, dass diese Reise wichtig und sinnvoll sei und wir deswegen einen Bus brauchten) und verschiedene Gäste einladen. Das war ein ganzes Stück weg von der rein künstlerischen, aus mir selbst schöpfenden Arbeitsweise an der Universität, erforderte sehr viel mehr administrativen und organisatorischen Aufwand; aber es fühlte sich so wesentlich realer an, näher an der Alltagswirklichkeit des Kulturbetriebs, die oft mit Kunst gar nicht so viel zu tun hat, wie ich immer gedacht hatte. Ich fühlte mich schon nach kurzer Zeit wie ein Bergarbeiter, tief in den Minen des Stadttheaterbetriebs, wo ich verschwitzt, manchmal fluchend, manchmal singend, im Verbund mit vielen Kumpels die rohe Kultur aus dem Berg schlug. Tatsächliche Arbeit, in Doppelschichten, nicht wie meine in Berlin gebliebenen Freunde und Kommilitonen, die frisch, fröhlich, frei ihren diversen selbst angestoßenen Projekten nachgehen konnten, hier eine Lesung veranstalteten und da einen Workshop, getrieben nicht von Sachzwängen, sondern von ihrem ureigenen künstlerischen Interesse. Andererseits hatte ich ein regelmäßiges Einkommen, und das war auch nicht zu verachten. Unser NSU-Abend „Rechtsmaterial“ wurde überbordend, bunt, wütend und frech – und kam sehr gut an. Ein weiteres schönes Erlebnis dabei: nach jeder einzelnen Vorstellung ein Nachgespräch mit fast allen Schauspielern und immer mindestens der Hälfte des Publikums. So groß war das Bedürfnis über die Gegenwart rechten Terrors zu sprechen, so dringend spürbar das Verlangen der Besucher, dass ein solches Einordnen, Austauschen, Bewerten zwingend nötig war. Und jedes Mal verlief das Gespräch anders, war immer interessant, nie war die Diskussion schleppend. Eine tolle und auch überraschende Erfahrung in dieser Beamtenstadt.

In Karlsruhe gilt der Grundsatz: Jede Vorstellung, die keine Komödie ist, bekommt eine Einführung durch die Dramaturgie. Nicht jede Produktion, sondern jede – einzelne – Vorstellung. Das ist sehr anstrengend und verlangt den Dramaturgen viel ab. Aber: In den meisten Fällen wird dieses Angebot sehr gut angenommen, und die Zuhörer bedanken sich. Ich bin auch überzeugt, dass auf diese Weise Zugangsbarrieren abgebaut werden können, sehr abstrakte künstlerische Entscheidungen vorentlastet und zugänglich gemacht werden und ein besseres Erlebnis für den zahlenden Kunden geboten wird. Wir machen Theater immer für die Menschen, müssen sie da abholen, wo sie eben sind, auch in ihrer kulturellen und ästhetischen Bildung. Theater tut sich keinen Gefallen und verfehlt seinen Bildungsauftrag, wenn es sich hermetisch im Elfenbeinturm einmauert. Ein weiterer Unterschied zu Berlin: Das Badische Staatstheater ist de facto hochkultureller Alleinversorger für eine große Anzahl Menschen in Nordbaden. Es muss sich breit aufstellen, muss den Spagat schaffen zwischen leichter französischer Komödie und philosophischem Theater, zwischen Ballett und Neuer Musik, zwischen Singspiel und Shakespeare, zwischen Dokumentartheater und Weihnachtsmärchen. Das bedeutet aber keinesfalls, dass die extremeren Formen zu kurz kommen.

Mein nächstes Projekt war die „Vertikalisierung“ eines großen Bildungsromans von Hermann Hesse, „Das Glasperlenspiel“. Nahezu keine Handlung, praktisch nur Diskurs, aber dank der zupackenden Erfahrung von Regisseur Martin Nimz und des Muts und des Vertrauens aller Theaterabteilungen konnten wir mit viel Mühe und viel, viel Vorlauf tatsächlich eine besondere Arbeit umsetzen – in einem eigens dafür mit einem Amphitheater komplett überbauten Kleinen Haus, in dem sich Schauspieler und Zuschauer den Raum teilten und welches mit einer revolutionären 360-Grad-Projektion nahtlos in verschiedene Szenerien verwandelt wurde. Mich hat das extrem beeindruckt. Jenseits aller Stadttheater-Vorurteile, des typischen Dienst-nach-Vorschrift-Denkens oder der chronisch überforderten Abteilungen arbeiteten hier vor allem die Bühnentechnik und die Werkstätten weit mehr, als sie laut Vertrag mussten. Buchstäblich Hunderte Leute aller Abteilungen gaben über Wochen 150 Prozent, um diese fantastische Zumutung möglich zu machen. Was nicht heißt, dass nicht immer wieder einzelne Leute der Mut verließ; aber im Endeffekt obsiegte doch immer wieder die Zuversicht. Und es lohnte sich, die en suite gespielten Vorstellungen waren sämtlich ausverkauft. Dazu muss man vielleicht sagen, dass das Karlsruher Publikum nicht ganz einfach ist. Mit einer Universität ohne geisteswissenschaftliche Fakultät fehlt der Stadt ein großer Teil des akademischen Mittelstandes, der in anderen Städten wesentlich das Theater besucht. Gerade der literaturwissenschaftliche Diskurs, der normalerweise die Nachfrage nach einer Hesse-Inszenierung vorantreiben würde, findet in der Öffentlichkeit praktisch nicht statt. Umso mehr hat uns natürlich jeder aufmerksame Kommentar aus der Stadtöffentlichkeit bezüglich dieses und anderer Projekte gefreut.

Die Schlagzahl an Inszenierungen ist sehr hoch, was natürlich alle Teile des Hauses an ihre Grenzen bringt – und das eigentlich permanent. Das ist ebenfalls kein Alleinstellungsmerkmal des Karlsruher Theaters, sondern bedauernswerter Nebeneffekt einer komplett überhitzten Szene, die sich den Grundsatz „Quantität vor Qualität“ auf die Fahnen geschrieben hat. Es bedarf dringend einer Neuausrichtung des gesamten deutschsprachigen Stadttheaterwesens, weg von einer Hype-basierten Produktionsüberlastung hin zu mehr Kontinuität, mehr Mut, mehr Nachhaltigkeit. Und das schreibe ich durchaus auch als Gegenwartsautor, der sich mehr Nachinszenierungen seiner Stücke wünschen würde.

Als ich nach zwei Jahren Festengagement in Karlsruhe wieder ausschließlich als Autor arbeitete – auch für dieses Theater, ein schöner Vertrauensbeweis – erlebte ich die Leistungsfähigkeit und die Abläufe des Hauses aus neuer Perspektive. So konnte ich die Uraufführung meines Stücks „sterben helfen“ mit den Schauspielern und den Technikern, die über Jahre meine Kollegen gewesen waren, erfahren. Das hat mich natürlich enorm gefreut. Allerdings, zur Premiere konnte ich leider nicht kommen: Just an diesem Tag wurde meine Tochter geboren, als Kind von Eltern, die sich am Badischen Staatstheater Karlsruhe kennengelernt hatten. //

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