Auftritt
Staatstheater Kassel: Das Gefühl, nirgends anzukommen
„Sechzehn Wörter“ nach dem Roman von Nava Ebrahimi – Bühnenfassung und Regie Dariusch Yazdkhasti, Bühne und Kostüme Julia Hattstein, Video Navid Razavi
Assoziationen: Hessen Theaterkritiken Staatstheater Kassel

Bevor es losgeht, erst einmal: Urlaubsdias. Das Publikum sucht noch seine Plätze, da flimmern Bilder über den Vorhang. Berge, Küsten, Wasserspiele, die Prachtbauten von Isfahan. Touristische Sehenswürdigkeiten in Iran, menschenleer und aseptisch präsentiert wie in einem Reisekatalog. Die beiden Frauen und der Mann, die gleich auf der Bühne stehen werden, kommentieren sie aufgeregt. Es ist nicht die Sorte Bilderschau, mit der Urlaubszurückgekehrte zu langweilen pflegen, im Gegenteil, es bricht kollektives Reisefieber aus. Als würden alle, die jetzt hier sitzen, in Kürze nach Iran aufbrechen. Und so ist es ja auch. Nur anders.
Nava Ebrahimi wurde kurz vor der Islamischen Revolution in Teheran geboren, flüchtete als Kleinkind nach Deutschland, wuchs in Köln auf, wurde Journalistin. Im Jahr 2017 erschien ihr preisgekrönter Debütroman „Sechzehn Wörter“, deren Protagonistin Mona all diese Eigenschaften mit der Autorin teilt – und wie sie auf der Suche ist nach ihrer Identität zwischen den Welten. „Das Schreiben ist für mich womöglich der Versuch, über den Umweg fiktiver Charaktere herauszufinden, wer ich eigentlich bin“, hat Ebrahimi, Trägerin des Ingeborg-Bachmann-Preises 2021 und derzeit Poetik-Dozentin in Hannover, einmal erklärt.
Am Kasseler Staatstheater hat Dariusch Yazdkhasti – auch er verbrachte seine Kindheit zeitweise in Teheran – den Roman auf die Bühne gebracht. Es ist die Deutsche Erstaufführung: Bis auf eine freie Theatergruppe in Wien 2023 hat sich bislang noch niemand an den Roman gewagt. Und das hat Gründe. Die 16 Kapitel des Romans ranken sich jeweils um ein persisches Wort, das Monas Aufwachsen begleitet hat und dessen Sinn sie nachspürt, als sie mit ihrer Mutter nach Iran zurückkehrt, zur Beerdigung der geliebten Großmutter. Um „Khastegar“ (Verehrer) geht es, von denen Frauen auch in diesem Gottesstaat besser mehr als weniger haben sollten, wie die Großmutter immer wieder verkündete. Oder um die Frage, was eigentlich der kryptische Satz bedeuten soll, mit dem iranische Kinder schreiben lernen: „Baba ab dad.“ Papa gab Wasser.
Mona reist durch das Land ihrer Geburt zu sich selbst, könnte man sagen, wenn das nicht zu pathetisch klingen würde. „Sechzehn Wörter“ ist irgendetwas zwischen Entwicklungsroman und Roadmovie, aber vor allem Reflexion über Herkunft, Fremdheit und Integration. Tragikomisch, poetisch, augenöffnend. Doch es ist kein Text, der fürs Theater gemacht ist. Umso faszinierender ist, wie Regisseur Yazdkhasti daraus eine Bühnenfassung gewonnen hat, die vom ersten Moment an funktioniert. Die mitreißt und berührt, mit vielen kleinen Szenen, vielen kleinen Momenten, vielen kleinen Bemerkungen, mal urkomisch, mal bedrückend. Bei der Premiere wurde sie zu Recht mit Standing Ovations gefeiert.
Das dreiköpfige Ensemble, das die Diaschau der iranischen Klischeebilder präsentiert hat, teilt sich die Rollen. Alle drei sind Mona, die mit gleichermaßen fremdem Blick auf Iran wie auf Deutschland schaut und deren Erzählstimme wie den Roman auch diese Inszenierung trägt. Doch eine Perücke oder eine Brille hier, ein Schleier oder eine Uniform dort und schon geht das Nachdenken nahtlos über in kurze Dialoge und gespielte Szenen. Mit einer Unbekannten, die laut wehklagend bei der Beerdigung auftaucht. Mit Monas Vater, dem die Revolution immer wichtiger war als seine Tochter. Mit der gefürchteten iranischen Sittenpolizei.
Graue Locken und ein grüner Samtmantel verwandeln Katharina Brehl in Maman-Bozorg, die Großmutter, laut, unflätig, ganz und gar ungottesstaatlich besessen von weiblichen Geschlechtsmerkmalen. Warum sie für Mona immer bedeutender war als die Mutter, obwohl sie nicht mit nach Deutschland kam, das wird als eine Erkenntnis am Ende dieser Reise stehen. Emma Bahlmanns Mädchenhaftigkeit weicht bei Bedarf der breitbeinigen Macho-Attitüde von Ramin, Monas iranischem Liebhaber, oder der wollmützigen Tölpelhaftigkeit ihres deutschen Hipsterfreunds Jan. Und Nicolas Sidiropulos spielt gleichzeitig die Reisende im Frauenabteil eines iranischen Zugs und den Mann, der ihr Tee verkauft.
Das ist witzig, ohne zu blödeln. Hochtourig, ohne zu überdrehen. Voller Tempo und Temperament, ohne den Ernst und die Schwermut zuzukleistern, die bei Nava Ebrahimi stets mindestens mitschwingen. Derart liebevoll bis ins kleinste Detail durchkomponiert ist die Inszenierung, dass man sie sich am liebsten noch ein zweites Mal anschauen möchte, um Weiteres zu entdecken – und das, obwohl die Produktion auf der Studiobühne ohne viel Kulisse auskommt.
Julia Hattstein (Bühne und Kostüme) hat Fadenvorhänge aufgehängt, in mehreren Schichten hintereinander. Auf sie werden anfangs die Urlaubsdias projiziert, später Chatnachrichten und Videos. Manche Bilder verschmelzen mit der Bühne, die durchscheinenden Vorhänge lassen Projektion und Realität verschwimmen – wir bewegen uns hier auf unsicherem Terrain. Daneben braucht es nicht mehr viel. Außer Koffer. Omnipräsent sind sie, als Reisebegleitung wie als Schatzkiste mit den wenigen Hinterlassenschaften von Maman-Bozorg. Und als dinglicher Ausdruck des Gefühls, um das sich „Sechzehn Wörter“ dreht: nicht anzukommen, nirgends so richtig zuhause zu sein.
Erschienen am 28.5.2025