Theater der Zeit

Essay

Unboxing Chévere

Die verdrängten Geschichten Galiciens. Eine Rekonstruktion

Mit dem ihm eigenen Sinn für Ironie öffnet Xesús Ron die Werkzeugkiste der Theaterkompagnie Chévere und gewährt Einblick in ihre dramaturgische Arbeit. Er zeigt, wie sie an ein Thema herangehen, immer politisch, immer persönlich, um dieses in ihrer einzigartigen und unnachahmlichen Theatersprache auf die Bühne zu bringen.

von Xesús Ron

Erschienen in: Theater der Zeit Spezial: Spanien (10/2022)

Assoziationen: Dossier: Spanien

„N.E.V.E.R.M.O.R.E.“, Text und Regie von Xesús Ron am Teatro María Guerrero des Centro Dramático National. Foto Luz Soria
„N.E.V.E.R.M.O.R.E.“, Text und Regie von Xesús Ron am Teatro María Guerrero des Centro Dramático NationalFoto: Luz Soria

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Ich will (oder soll) über den besonderen Entstehungsprozess der Stücke der Gruppe Chévere1 schreiben, „wo das Fiktionale und das Dokumentarische sich ver­mischen, wo das Politische mit dem Sarkastischen ­verschmilzt“. Wie bei einem Unboxing2 werde ich zeigen, was es beim Öffnen der letzten beiden Produk­tionsschachteln von Chévere, „Curva España“ und „N.E.V.E.R.M.O.R.E.“, zu entdecken gibt.

Beide spielen szenisch mit der Rekonstruktion vergangener Ereignisse und ihren Auswirkungen auf die Gegenwart. Die erste der beiden Produktionen begibt sich auf die Spur eines Todesfalls, der sich vor fast hundert Jahren ereignet hat, und stützt sich dabei auf Zeugenaussagen von Menschen aus der Gegend von Verín in der galicischen Provinz Ourense. Die zweite befasst sich mit einer der größten Umweltkatastrophen der jüngsten Vergangenheit: Im November 2002 verliert der Öltanker „Prestige“ mehr als siebzigtausend Tonnen Schweröl und verursacht eine Ölpest an der Küste Galiciens, die mehr als zweitausend Kilometer Küstenstreifen von Nordportugal bis Südfrankreich verseucht.

Im Beipackzettel heißt es, dass beide Schachteln Arbeiten zu Gedächtnis und Identität enthalten. Die Geschichten werden retrospektiv erzählt, steht im Kleingedruckten. Es wird empfohlen, hinter die Kulissen zu blicken, dem ­Geschehen zu lauschen und auf Details zu achten.

Öffnet man den Deckel, findet man drei kleinere Schachteln. Eine erzählt, wie die Idee entsteht, eine andere, wie die Recherche abläuft, und eine weitere, wie die Dokumentation als Material für die Theaterarbeit ­genutzt wird. Und einen Warnhinweis: Es gibt keine Formel, man muss wissen, wie man nutzt oder verwirft, was an jedem Punkt des Prozesses auftaucht.

Ich öffne „wie die Idee entsteht“ und nehme die Schachtel von „Curva España“ heraus. Darin findet sich eine große Karte mit dem Wort ZUFALL und dem Bild eines Taxis. Manchmal passieren Dinge plötzlich und ohne Erklärung, das kennt man ja. Das kann Zufall sein, und man muss ihn erkennen. Die Geschichte von „Curva España“ ist genau so aufgetaucht. An einem unerwarteten Ort. In einem Taxi, ohne Fluchtmöglichkeit. In der Schachtel liegt eine weitere Karte mit dem Wort LEGENDE und dem Bild einer Straße, die einen Knick macht, eine scharfe Kurve. Der Ingenieur España stirbt im Mai 1927, als sein Auto von der Straße abkommt und eine Klippe hinunterstürzt. España prüfte zu jener Zeit den möglichen Verlauf einer Eisenbahnstrecke, die von Zamora nach Galicien führen sollte. Ein Taxifahrer erzählt die Legende, dass der Ingenieur Opfer einer Verschwörung lokaler Eliten wurde, die verhindern wollten, dass eine Zugstrecke durch diesen strategischen Ort gebaut wird.

Jeder kann selbst entscheiden, wie es mit dem Unboxing an dieser Stelle weitergeht. Wir fanden spannend, dass es hier eine Geschichte gab, die sich die Leute seit fast hundert Jahren in dieser Version erzählen, die nie aufgeschrieben wurde und die außerhalb dieser Region gänzlich unbekannt war. Und wir sahen im Namen des Ingenieurs die Möglichkeit, seine Geschichte als ­Allegorie auf den Tod Spaniens zu erzählen. Wir wollten damit auf intelligente Art und Weise in die Debatte um die „Einheit Spaniens“ eingreifen, die von der extremen Rechten derzeit wiederbelebt wird, und sie mit der Realität des „leeren Spaniens“3 angleichen, dessen Ursachen auch auf den Aufbau des Spanischen Nationalstaats selbst zurückzuführen ist.

Jetzt nehme ich mir die Schachtel von „N.E.V.E.R.M.O.R.E.“ vor. Zwei weitere Karten. Auf einer steht WIR MUSSTEN ES TUN. Jeder kennt die Geschichte des Öltankers „Prestige“, und es scheint, als gäbe es nichts zu erzählen, was wir nicht schon wissen. Aber wir wussten, dass wir es früher oder später tun mussten. Weil wir dort waren. Weil sie Teil unseres kollektiven Gedächtnisses ist. Die andere Karte besagt WURMLOCH. Der Grund dafür, die Geschichte der „Prestige“ jetzt zu erzählen, liegt in der Natur der Gegenwart im Zeichen einer weltweiten Pandemie. Plötzlich öffnete sich eine Art Wurmloch, das die „Prestige“-Katastrophe und COVID-19 miteinander verbindet: Weil es dem öffentlichen Krankenhaus an der Costa da Morte an COVID-Schutzausrüstung fehlte, wurde dazu aufgerufen, noch vorhandene Bestände aus der Zeit der „Prestige“-Aufräumarbeiten zu spenden. Tausende Masken, Handschuhe, Schutzanzüge tauchten in den Lagern auf …

Ich öffne nun die zweite Schachtel, die erzählt, wie die Recherche abläuft. Zuerst die von „Curva España“. Sie enthält eine Menge Zettel, von denen ich wahllos ein paar lese.

• Die Geschichte vom Tod des Ingenieurs España ist nicht so sehr wegen der Ereignisse interessant, sondern weil sie aus einer ungeschriebenen kollektiven Erzählung hervorgeht, die versucht, viel mehr zu erklären als nur einen Unfalltod.
• Sie gibt Antworten auf nie gestellte Fragen, erzählt als Legende getarnt von den Gründen, warum die Region vom sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt abgeschnitten blieb.
• Der Autounfall legt nicht nur die Konzeption der Eisenbahntrasse, sondern auch des spanischen Nationalstaats offen.
• Der Fortschrittsgedanke, der durch den Bau der Eisenbahn verkörpert wird, geht in vielen Ländern mit dem Aufbau des Nationalstaats und der Entwicklung neuer Formen sozialer und politischer Repräsentation einher. In Spanien hingegen wurde der Ausbau des Schienennetzes, das dem Land als Rückgrat und Fortschrittsmotor dienen konnte, nie abgeschlossen.
• Die Geschichte vom Zug, der den Ort Verín nie erreichte, ist die perfekte Metapher für das, was aus Spanien geworden ist.

Außerdem gibt es ein größeres Fach, das ELOY LUIS ANDRÉ gewidmet ist. Er ist eine Figur, die als Gegenspieler aller an der Geschichte beteiligten Akteure fungiert. Der Professor und Philosoph wurde in einem Dorf bei Verín geboren und studierte in verschiedenen Städten Europas. Er erforschte die kollektive Mentalität und stellte das Fundament der traditionellen spanischen Identität infrage. Mit einer Studie setzte er sich für den Bau einer Zugstrecke durch den Süden der Provinz ­Ourense bis zum Hafen von Vigo ein, mit Verín als strategischem Knotenpunkt, der Portugal, Galicien und den Rest Spaniens verbinden sollte. Er starb 1935, und sein Werk ist eine der vielen Leichen, die in den Massen­gräbern der Franco-Bibliotheken begraben liegt.

Die andere Schachtel quillt über an Dokumentationsmaterial zur „Prestige“. Als hätte man zwanzig Jahre lang nicht aufgehört, darüber zu schreiben. Es gibt eine riesige Sammlung an Bildern, die ich alle wiedererkenne. Das sagt heute viel mehr über uns aus, als darüber, was geschehen ist. Es sagt, wer wir sind, wie und wohin wir blicken. Es gibt zwei getrennte Fächer. Das eine enthält die Chronologie der Ereignisse zwischen dem 13. und 19. November 2002, vom ersten Notruf der „Prestige“, bis sie auf dreitausend Meter Tiefe sank. Hier befindet sich ein besonderes Dokument, das zunächst von der Regierung geheim gehalten, dann der Presse zugespielt und schließlich im Prozess verwendet wurde: die Aufnahmen aus dem Hafenkontrollturm in Fisterra. Sie klingen wie ein episches Klang­gedicht, das nicht nur offenbart, was geschehen ist, sondern auch den Ton, den Rhythmus, die Textur und die Atmosphäre dieser Gespräche getreu aufzeichnet. Einen beschleicht das Gefühl, einen Podcast aus dem Untergrund oder eine Radiosendung zu hören, die nie gesendet wurde.

Im anderen Fach befinden sich die Aufzeichnungen eines Interviews aus dem Jahr 2019 mit einer gemischten Gruppe an Leuten, die sich daran erinnern, was die „Prestige“ für sie bedeutet hat. Sie sind Teil eines lebendigen Archivs zur Erinnerung der Bewegung Nunca Máis4 einem Projekt der Unha Gran Burla Negra5. Ich glaube, wir waren die Ersten, die dieses Archiv genutzt haben. Das Interessante daran ist, dass die Interviews von einer Person gemacht wurden, die diese Zeit selbst nicht miterlebt hat, und vorher weder eine Verbindung zu Galicien hatte noch die befragten Personen kannte. Wir machten uns die Einstellungen, Fragen und Interessen dieser uns fremden, jüngeren Person zu eigen, um uns von den Ereignissen zu distanzieren, von denen wir selbst zu sehr betroffen waren.

Mit der letzten kleinen Schachtel beende ich das Auspacken. Darin befinden sich die verschiedenen Elemente, die wir für die Inszenierung benötigen. Ich schaue mir nur ein paar näher an und greife in „Curva España“ zwei heraus. Die Entscheidung, aus dem Stück eine Art Live-Filmvorführung zu machen, fällt, nachdem wir mehrere Tage in der Stadtbibliothek von Verín verbracht und Nachbarn und Nachbarinnen gefilmt haben, die ihre Version der Geschichte über den Tod des Ingenieurs mit uns teilen wollten. Um der Legende Körper und Stimme zu verleihen, mussten sie auf der Bühne präsent sein, daher wurden einige der Aufnahmen an die Rückwand projiziert. Ausgehend von diesem Material entwickelte sich die Erzählung des Stücks, als wäre es ein Film. Das zweite ist die Gattung des Kriminal­romans. Die Geschichte erzählt verschiedene Versionen eines Todes und lässt gewisse Fragen offen, sodass man Lust bekommt, True-Crime-Serien wie „The Jinx“, „The Staircase“, „The Keepers“ oder „Casting JonBenet“ zu ­sehen; oder die Kriminalromane von Conan Doyle, Chesterton und besonders Borges oder Akutagawa zu lesen, der sich zufällig 1927, nur wenige Wochen vor dem Tod des Ingenieurs, umgebracht hat. „Curva España“ kann beinahe als eine sehr freie Version seiner ­Novelle „Im Dickicht“ gelesen werden, insofern es mehr um das Problem als um die Lösung geht.

Bei „N.E.V.E.R.M.O.R.E.“ haben die Dinge in der Schachtel hingegen nichts mit Medien oder dem Gebrauch dokumentarischer Mittel auf der Bühne zu tun. Es werden keine Bilder des Öltankers „Prestige“ verwendet oder projiziert, auch keine der darauf folgenden Proteste und zivilgesellschaftlichen Initiativen. Es werden keine realen Aufnahmen abgespielt, stattdessen wird das dokumentarische Material live und für alle sichtbar rekonstruiert, als Teil einer szenischen Spielanordnung. Ein Spiel, das auch das Hören umfasst. Das Stück beginnt mit Meeresrauschen. Was man hört, ist aber nicht das Meer, sondern der Klang des Meeres, der von den Schauspielern vor aller Augen auf der Bühne mit verschiedenen Gegenständen erzeugt wird. Hier beginnt das Spiel. Dieser Umgang mit dem Klang wird der Rahmen des Stücks. Denn Theater ist nichts anderes, als durch Worte zu verzaubern, alltägliche Gegenstände anders zu deuten oder Geräuschen eine politische Bedeutung zu verleihen. //

1 AdÜ: Ein vor allem in Lateinamerika verwendetes Adjektiv, das so viel wie ‚cool, toll, super‘ bedeutet. Es ist hier der Eigen- name der Theaterkompagnie, der der Autor angehört.

2 Wörtlich ‚auspacken‘. Bezieht sich auf einen Videotrend auf YouTube, bei dem jemand sich beim Auspacken eines neuen Produkts filmt.

3 AdÜ: „Leeres Spanien“ geht als Ausdruck auf das gleichnamige Buch des Journalisten Sergio Del Molino zurück (Wagenbach 2022) und ist ein häufig gebrauchtes Schlagwort, wenn es um entvölkerte Landstriche und demografisch wie finanziell schwache Gebiete im spanischen Hinterland geht.

4 AdÜ: Wörtlich ‚nie wieder‘ ist Name und Slogan einer Plattform in Galicien, die sich in Reaktion auf den Untergang des Öltankers „Prestige“ geformt und zahlreiche Demonstrationen organisiert hat.

5 AdÜ: Wörtlich ,ein großer schwarzer Spott‘ ist der Name eines gemeinnützigen Kulturvereins, der sich zum Ziel gesetzt hat, die Vielzahl an künstlerischen Werken, Gedichten, Bildern, Musik, Texten und Interventionen, die im Zusammenhang mit der Bürgermobilisierung nach der „Prestige“- Katastrophe erstellt wurden, in einem Kulturarchiv zu sammeln, öffentlich zugänglich zu machen und damit auch diese Bürgerund Kulturbewegung zu dokumentieren.

Aus dem Spanischen von Carola Heinrich

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