Bericht einer speziellen Erfahrung
von Os Crespos und Sidney Santiago
Erschienen in: Arbeitsbuch 2016: Castorf (07/2016)
„… solange es Herren und Sklaven gibt,
sind wir aus unserm Auftrag nicht entlassen.”
Dieses Zitat aus dem berühmten Stück Heiner Müllers „Der Auftrag. Erinnerung an eine Revolution“ gibt haargenau unsere Dankbarkeit für die Begegnung mit dem Regisseur Frank Castorf wieder. Wir alle studierten an der Schule für dramatische Kunst der Universität von São Paulo, einer Schule, die im Bereich der Bühnenkunst in Lateinamerika Maßstäbe gesetzt hat. Sie existiert seit 1948 und ist für die Ausbildung eines großen Teils der brasilianischen Schauspieler und Theaterwissenschaftler verantwortlich. Wie Schülerschaft und Professoren anderer Bildungsanstalten ignorierte aber auch diese Schule bis zu unserer Immatrikulation alle Hinweise auf die Existenz eines der größten nationalen Probleme Brasiliens: des institutionellen Rassismus.
Die Schule hatte in ihrer Geschichte bis dato nur eine winzige Schar schwarzer Studenten ausgebildet und sich dabei immer auf eine eurozentrische Auffassung von Kunst und Künstler gestützt, ohne den als „exotisch“ geltenden, aus anderen Kulturkreisen stammenden Vorstellungen von Kunst Raum zu gewähren.
Im Jahr 2004 jedoch erhöhte sich der Anteil schwarzer Schüler unter den Kunststudenten durch Neuzugänge auf 25 Prozent, ein einmaliger Vorgang in einer Bildungsstätte, die ebenso wie alle anderen staatlichen Universitäten Brasiliens nicht mehr als 5 Prozent Studenten afrikanischer Abstammung in ihrer Studentenschaft...