Thema
Die Experimentierer
Eva Lange und Carola Unser leiten das Hessische Landestheater in Marburg seit dieser Spielzeit als Doppelspitze – und wirbeln sogleich viel Staub auf
Erschienen in: Theater der Zeit: Feier des Absurden – Nürnbergs neuer Schauspielchef Jan Philipp Gloger (12/2018)
Assoziationen: Hessisches Landestheater Marburg
Manchmal, sagt Eva Lange, lässt sie ihre Worte ein bisschen verspringen. „Ich sage dann: Ich bin ins Labor gegangen.“ Statt: ins Büro. Was ursprünglich nur ein kleiner Versprecher war, gefiel ihr beim Darübernachsinnen so gut, dass sie das Versehen mittlerweile mit Absicht wiederholt: „Es erschien mir sehr stimmig und augenfällig für das, was wir hier gemeinsam versuchen.“
Gemeinsam versuchen: Müsste man sich für nur zwei Wörter entscheiden, um zu erklären, welche Philosophie sich hinter der plakativ mit Ausrufezeichen versehenen Parole vom „Neustart!“ verbirgt, mit der das Hessische Landestheater in Marburg den Beginn dieser Spielzeit beworben hat, es könnten diese beiden sein. Äußerlich unscheinbar – wie das Haus in der mittelhessischen Universitätsstadt, dem als Spielstätten die Stadthalle und ein ehemaliges Offizierskasino der Bundeswehr dienen –, stehen sie für einen ungleich beachtlicheren Anspruch: vieles ganz anders machen zu wollen, als es sonst in der Theaterwelt üblich ist.
Gemeinsam. Das beginnt, natürlich, in jenem „Labor“, dem Büro, in dem seit dieser Saison ein Doppelschreibtisch steht. Eva Lange und Carola Unser sitzen hier als gleichberechtigte Intendantinnen, ein bundesweit beispielloses Modell. Die beiden Chefinnen, die in anderen Rollen bereits an der Landesbühne Niedersachsen Nord in Wilhelmshaven zusammengearbeitet haben, wollen die traditionelle Alleinherrschaft meist männlicher Intendanten aber nicht einfach durch ein Duumvirat ersetzen. Sie wollen offen diskutieren und dabei das gesamte Ensemble einbinden, Technikerinnen, Requisiteure oder Beleuchterinnen ausdrücklich eingeschlossen. Von einer „Experimentiergemeinschaft“ spricht Lange und verweist damit zugleich auf das zweite Element des neuen Marburger Markenkerns: den Versuch. Das Ausprobieren. Das Experimentieren.
Das soll sich auf die Strukturen ebenso beziehen wie aufs künstlerische Programm. „Ich finde“, sagt Carola Unser, „man kann den Leuten etwas zumuten.“ Die Unterscheidung zwischen Kinder- und Jugendtheater, das von den neuen Intendantinnen zur Chefinnensache erklärt wurde, und den Produktionen für Erwachsene? Gestrichen. Altersempfehlungen gibt es noch, aber ansonsten soll alles für alle interessant sein. Um die eigenen Routinen produktiv stören zu lassen, wird einmal pro Spielzeit eine freie Theatergruppe eingeladen, die als Artists in Residence eine Inszenierung ganz nach ihren Vorstellungen produzieren kann. Auch wenn sie lieber nachts als tagsüber proben will, soll sie dies tun können, versprechen die Intendantinnen. „Es ist doch eine schöne Sache, über Kanzlerkandidaten zu reden und dabei Blutwurst zu essen“ heißt die erste Arbeit in dieser Reihe, entwickelt vom Performancekollektiv Zaungäste aus Frankfurt, Gießen und Berlin. Mit Romy Lehmann als „Botschafter*in für Kollaboration und Unsinniges“ leistet sich das Theater dann auch noch so etwas wie einen hauptamtlichen Unruhepol im eigenen Haus. Die Performerin, Mitgründerin des Theaterkollektivs Safe Safe Sexy und ehemalige Regieassistentin in Wilhelmshaven wird nicht nur ein erst so spät wie möglich benanntes „Stück zur Zeit“ inszenieren, sondern auch allmonatlich in einer skurrilen Late-Night-Show mit dem programmatischen Titel „Watch Me Fail“ auftreten. Sie mischt sich auch in Proben ein, rät zur Entschleunigung oder öffnet spontan die Kantine. Erlaubt ist, was ihr gefällt.
„Es ist unmöglich, Staub aufzuwirbeln, ohne dass einige Leute husten.“ Den Satz des in Marburg aufgewachsenen Theatermachers Erwin Piscator (1893–1966) haben die Intendantinnen auf einem großen Transparent an ihr Theater gehängt. Eine ähnlich selbstbewusste Ansage war die Premiere zur Spielzeiteröffnung: Eva Lange inszenierte einen Doppelabend aus Schillers „Maria Stuart“ und Elfriede Jelineks „Ulrike Maria Stuart“. Es war das erste Mal, dass Jelinek in Marburg überhaupt gespielt wurde, und ganz bewusst ein Experiment.
Das klassische Königinnendrama zeigt Lange als Politkrimi voller Ränke und Intrigen, aber ohne Heldin. Im Ringen von Elisabeth, der Königin von England, mit der von ihr eingesperrten und schließlich zum Tode verurteilten Maria, Königin von Schottland, gibt es kein Gut und kein Böse, keine moralischen Überlegenheiten. Elisabeth (Mechthild Grabner) ist eine ohnmächtige Machtpolitikerin, die ihre Getriebenheit hinter Eiseskühle verbirgt. Maria (Zenzi Huber) gefällt sich in der Pose der Märtyrerin, selbstverliebt und arrogant. Wie sie zu Beginn dasteht, den Rücken zum Publikum, die Hand mit einem Blatt Papier zum Himmel gereckt, erinnert sie an die Freiheitsstatue von New York. Darunter macht es diese Maria nicht. Klar und reduziert ist Langes Inszenierung: Die klug konzipierte Bühne von Carolin Mittler zeigt einen gelblich gefliesten Raum, durch dessen schmale Spalten sich die Akteure bei jedem Auf- und Abgang zwängen müssen. In den Abgründen und Beobachtungsschlitzen manifestiert sich die Enge des Systems, in dem beide Frauen gleichermaßen gefangen sind.
Dieses System wird dann in der letzten halben Stunde zerlegt, als Schiller fast nahtlos in Jelinek übergeht und sich die Inszenierung in ein grellbuntes Spektakel verwandelt. Buchstäblich: Akkuschrauber, präsentiert wie Schusswaffen, lassen die Wände fallen. „Ulrike Maria Stuart“, 2006 skandalträchtig am Hamburger Thalia Theater uraufgeführt, ist die Abrechnung der großen österreichischen Grantlerin mit den 68ern und der RAF. Aus Elisabeth wird Gudrun Ensslin, aus Maria Ulrike Meinhof und aus dem Königinnendrama ein Zickenkrieg in Stammheim. Doch den Text trägt vor allem Jelineks Enttäuschung über den zu Popkultur und Phrasen erstarrten Aufbruchsgeist der 68er. Mit „Maria Stuart“ hat das wenig zu tun.
Die Idee, dem Schillerklassiker diese RAF-Revue als Coda anzuhängen, geht deshalb nicht recht auf. Doch sie unterstreicht die Ambition, mit der die beiden Intendantinnen angetreten sind. Provinz? I wo. „Großstadtniveau“ wollen sie bieten, sagen Lange und Unser. Schließlich würden sich in Marburg keine anderen Fragen an die Welt stellen als in irgendeiner Metropole: Wie kann das Theater in einer zerfallenden Gesellschaft die Menschen an ihr gemeinsames Menschsein erinnern? Wie kann es zum Ort der Demokratie werden, zum Lebens- und Begegnungsort für möglichst viele verschiedene Gruppen der Stadtgesellschaft? Und, im Übrigen, auch der Landgesellschaft: Als Landestheater gastieren die Marburger regelmäßig in Ortschaften, die auf Namen wie Biedenkopf oder Niederwalgern hören.
Trotz begrenzter finanzieller Mittel „maximal progressive Theaterversuche starten“: Das haben sich Lange und Unser vorgenommen. Und schon das zweite große Projekt zum Spielzeitauftakt konnte nur dank zusätzlicher Fördermittel realisiert werden: Die aus Georgien stammende Autorin und Regisseurin Nino Haratischwili, in diesem Jahr für den Deutschen Buchpreis nominiert, inszenierte ihr eigenes Stück „Radio Universe“ – eine sehr poetische Erkundung von Einsamkeit, Verlassensein und projizierter Sehnsucht, entstanden vor dem Hintergrund des russischgeorgischen Kriegs vor zehn Jahren. Mit dabei waren Schauspieler aus Marburg und Tiflis. Auf schwankendem Boden stehen sie, auf Wippen, die sie selbst durch ihre Bewegungen kippen lassen (Bühne Julia Bührle-Nowikowa), und sprechen in größter Selbstverständlichkeit zum Teil deutsch, zum Teil georgisch (mit deutschen Übertiteln). Das alles hat gelegentlich die Ruppigkeit einer Off-Theater-Produktion, doch es funktioniert. Ein mutiges, ein gelungenes Experiment. Es wird sicher nicht das letzte gewesen sein. //