Theater der Zeit

1. Faden und Netz

von Charlotte Wegen

Erschienen in: Recherchen 163: Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny im Spiegel von Mythos und Religion – Eine Untersuchung der Opernwerke Ariadne auf Naxos und Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (05/2022)

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Auf den ersten Blick mag es vielleicht erstaunen, dass die vorliegende Arbeit zu ihrem Gegenstand die Analyse zweier Opernwerke wählt, die in der Literatur so bislang noch nicht zusammengedacht worden sind. Dieses Staunen gilt allerdings nur dem ersten, nicht aber dem zweiten Blick:

Ariadne auf Naxos1 und Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny2 implizieren nämlich in der Tat einen Zusammenhang, der eine wissenschaftliche Beschäftigung mit den Texten bzw. dem Text, wie er sich aus der Analogie ergibt, lohnenswert macht. Warum die vorliegende Arbeit sich also mit zunächst erkannten, später dann offengelegten Verbindungen zwischen Ariadne auf Naxos und Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny auseinandersetzen wird, geht in erster Linie aus der Feststellung hervor, dass beiden Opernwerken in ihren unterschiedlichen Auslegungen vorrangig ein kulturpessimistisches, wenn nicht gar kapitalismuskritisches Timbre beschieden wird.

Es handelt sich dabei um ein Textverständnis im Sinne des semplice: Überdeutliche Textzeichen werden in eine naheliegende Deutung gebettet, die sich kaum des Verdachts bemüßigt sieht, hinter der oberflächlichen Textebene vielleicht noch eine weitere textliche, gleichsam subversive Spur zu vermuten.

So einleuchtend diese Lesart von Ariadne und Mahagonny im ersten Moment ihrer jeweiligen Betrachtung auch erscheinen mag, so schnell erschöpft sie sich in einem exegetischen Ansatz, der neben einer Abbildtheorie zudem eher auf autorenbezogenen Assoziationen als innertextlichen Merkmalen zu gründen scheint. So sei im Falle der Ariadne im Hinblick auf Werkgeschichte und Briefwechsel un- bestritten, »daß die vom deutschen Kaiser praktizierte Form des ›Mäzenatentums‹ eines der Hauptangriffsziele des Autorenpaares Hofmannsthal und Richard Strauss war«3, was nicht selten dazu verleitet, das psychisch-intellektuelle Unbehagen der beiden Autoren gegenüber Wilhelm II., diesem »mit staatlicher Macht ausgestattete[n] Usurpator unter den Kunstrichtern«4, zu einem kulturkritischen Sujet der Moderne zu erheben.5 Und auch Bertolt Brecht, der in seinen Werken Gesellschaft und Kunst einer radikalen Kritik unterzieht, sieht sich als etikettierter Kommunist immer wieder der Meinung ausgesetzt, sein marxismusaffines Denken müsse sich quasi eins zu eins in seinem ästhetischen Tun niederschlagen. Statt eine wie auch immer geartete Ebene hinter dem Text anzunehmen, ist diese Arbeit dem Text als Prozess gewidmet und damit einem Text, dessen spezifische Dynamik sie im Folgenden zu begreifen versucht.

Beiden Opern – sowohl Ariadne als auch Mahagonny – wird ein vergleichbar tragisches Schicksal zuteil: Ihre Rezeption ist von der einstweiligen Behauptung bestimmt, die Autoren Hofmannsthal und Brecht hätten ihre jeweiligen Texte einer kultur- bzw. kapitalismuskritischen Sicht versprochen, die sich bei Ariadne vorrangig durch den Mäzen, dem »Willen dessen, der bezahlt«6, und in Mahagonny am Beispiel eines sozialen Zusammenhangs, »in dem sich das Leben allein nach den Gesetzen des Marktes zu richten hat«7, verwirklicht sieht.

Ausgehend von der Beobachtung, dass Ariadne und Mahagonny auffallend häufig in den Kontext einer konventionellen Kultur- bzw. Kapitalismuskritik eingebunden werden, entstand die Idee, sich wissenschaftlich mit diesen beiden Opernwerken gerade im Hinblick auf dieses eine, sie verbindende Element auseinanderzusetzen. Es handelt sich in der nachfolgenden Untersuchung also um eine Arbeit, deren Gegenstand es sein soll, sich gerade mit den innertextlichen Voraussetzungen von Ariadne und Mahagonny zu befassen, die im Text wirksam werden respektive im einzelnen Text über den Text hinausweisen. Zugleich ist an diese Feststellung auch die These geknüpft, dass beide Operntexte auf einer anderen, übergeordneten Ebene durchaus kritische Bezüge zu einem Zeitalter herstellen, das in seinen spätkapitalistischen Ausformungen allen voran die Kulturproduktion bezeichnet. Ebenjener Themenkomplex – Kapitalismus und Kulturproduktion – wird in Ariadne und Mahagonny auf solche Art und Weise verhandelt, dass die Kritik von Hofmannsthal und Brecht nicht in ihrem bloßen Kritik-Sein stehen bleibt, sondern ihrer subversiven Hinterfragung gleichzeitig auch ein Ausweg im Sinne eines utopischen Potentials eingesprengt ist.

Diese beiden Beobachtungen bilden zusammengenommen die Grundlage dieser Arbeit. Sie setzt sich dabei maßgeblich zum Ziel, die konstatierte Analogie zwischen Ariadne sowie Mahagonny und einer impliziten Kultur- bzw. Kapitalismuskritik anhand folgender struktureller Besonderheiten der zwei untersuchten Libretti aufzuzeigen:
Sowohl Ariadne als auch Mahagonny beschreiben zwei Opernwerke, die von einem durchweg statischen Zustand gekennzeichnet sind. Verloren hangeln sich ihre Figuren an einem starren Handlungsgerüst entlang, das – ohne wirkliches Motiv und ohne richtige Konsequenz – in eine Leere, ein Nirgendwo, nachgerade in ein Nichts mündet. Die a-dynamische Form, die sowohl in Ariadne als auch Mahagonny weit über die gattungsspezifische Schwerfälligkeit einer prototypischen Opernstruktur mit ihren »zirkulären Arienformen, der gedehnten musikalischen Zeitstruktur und dem Artefakt des singenden Menschen auf der Bühne«8 hinausreicht, bringt jede dramatische Handlung noch vor ihrer Erstehung zu Fall. Im aufgelösten Nebeneinander von Zuständen ist die Handlung weder bei Ariadne noch in Mahagonny imstande, die für ihre Entwicklung notwendige Kraft aus sich selbst heraus hervorzubringen. Stattdessen ist ihr Fortgang geprägt von einer »Verflüchtigung des Stofflichen«9, die das verbindliche Gefüge eines Textes, seine kohärente Logik endgültig in eine undramatische Dekomposition zerfallen lässt.

Die Beliebigkeit, Austauschbarkeit, schlussendlich auch Gleichgültigkeit, mit denen die Protagonisten in ihrem jeweiligen Tun verfahren, die Resultate ihres unreflektierten Treibens bilden gleichzeitig Primärmerkmale der noch darzustellenden Kulturproduktion im Spätkapitalismus ab: All diese Symptome, die eine stillstehende, ja entleerte Zeit anzeigen, finden in Ariadne und Mahagonny entsprechende, wenngleich unterschiedlich gestaltete Versinnbildlichung, deren nähergehende Betrachtung nicht nur eine librettistische Form, sondern auch ihr besonderes Verhältnis zur Gegenwart nicht nur im Sinne der klassischen Moderne10, sondern auch darüber hinaus beschreibt.

Entstehungsgeschichtlich sind beide Texte, wenngleich sie zum Libretto bestimmt und nicht als Drama konzipiert wurden, der klassischen Moderne zuzuordnen, jener literarischen Epoche, die Peter Szondi in seiner Theorie des modernen Dramas11 umrissen hat und die von 1880 bis 1950 – von manchen literaturwissenschaftlichen Theorien auch nur als Zeitraum zwischen 1880 bis 1930 abgesteckt12 – andauern sollte. So wurde dem Epigonentum in der Literatur ab 1880 eine Mannigfaltigkeit neuer Dramenformen entgegengesetzt, die in ihrer Zeitlichkeit auch jener stilistischen Pluralität entsprach, die für die literarische Moderne des deutschsprachigen Raums bis 1950 beispielhaft gewesen sein muss.13

In diese auch unter historischen Gesichtspunkten bewegte literarische Epoche fallen sowohl Ariadne als auch Mahagonny. Ihr jeweiliger Entstehungsprozess bzw. die faktische Dokumentation ihrer Genese sollte sich dabei weder bei Hofmannsthal/Strauss noch bei Brecht/Weill ganz linear und chronologisch vollziehen. So stellte das Auftragswerk Ariadne zunächst ein als Verbindung konzipiertes Gattungskonglomerat zwischen musikalischem Divertissement des Opernaktes Ariadne auf Naxos (ohne Vorspiel) und einer Zwischenszene von Hofmannsthal und Molières Ballettkomödie Le Bourgeois gentilhomme dar14, das – 1912 in Stuttgart mit mediokrem Erfolg uraufgeführt15 – seine bis heute überlieferte Werkfassung erst im Jahre 1916 durch ein in seinen Grundzügen verändertes Libretto erhalten sollte.16 Gleichermaßen modifikativ ist denn auch die Arbeit an Mahagonny erfolgt, hatte Brecht, der im Gegensatz zu seinem Komponisten Kurt Weill17 die librettistische Arbeit an Mahagonny im Wesentlichen bereits 1927 als abgeschlossen betrachtete18, doch noch einige erkennbare Umformungen des Textes bis zu seiner Leipziger Uraufführung 1930 vorgenommen.

Im Hinblick auf die nachfolgenden Untersuchungen von Ariadne und Mahagonny werden drei in ihrer Definition als heterogen zu bewertende Termini einen besonderen Stellenwert einnehmen: Mythos, Religion und Kulturproduktion, so lauten die Schlüsselbegriffe, die sich teilweise bereits im Titel dieser Arbeit vertreten sehen. Dabei ist zunächst der Bemerkung Vorschub zu leisten, dass die Bespiegelung des Mythos in Ariadne respektive der Religion in Mahagonny sich auf Mythos und Religion als literarisch gestaltete Textformen beziehen, welche in ihrem Versuch, Vertrauen in die Welt zu bringen, jenes besondere Weltverhältnis begründen, das das kollektive Selbstverständnis wesentlich geprägt haben muss. Im Beispiel der Ariadne wird konkret auf die Geschichte der kretischen Königstochter Ariadne rekurriert und damit auf eine schier unergründliche Frauenfigur in der antiken griechischen Mythologie, deren Enigma bis in die Gegenwart reicht.19

In der Mahagonny-Oper indes kommen eine Vielzahl von textlichen Innuendi zum Tragen, die auf biblische Passagen des Alten wie auch des Neuen Testaments anspielen und damit auf prototypisch gründende Ereignisse und Handlungen des Christentums als Religion bildsymbolisch referieren. Damit einher geht auch die Feststellung, dass die Bezüge, die in Ariadne und in Mahagonny hergestellt werden, deshalb unterschiedlich gestaltet sind, weil sie bereits in ihrer Beschaffenheit die prägende Differenz zwischen Mythologie und Religion eröffnen. So wenig wie der Mythos nur Mythos und Religion halt Religion ist, so wenig wie die mythische Ariadne-Erzählung im Libretto Hofmannsthals den verhandelten biblischen Motiven20 in Brechts Mahagonny gleichgesetzt werden kann, so wenig ist auch das jeweilig angewandte literarische Verfahren der Autoren Hofmannsthal und Brecht einfach auf eine Stufe zu stellen. Wenn diese Arbeit also jene zwei Thesen entfaltet, dass beide Libretti zum einen wie auch immer geartete mythische respektive religiöse Phänomene anzeigen, denen zum anderen eine kultur- bzw. kapitalismuskritische Dimension innewohnt, dann soll im Zentrum die Frage stehen, welche textlichen Aspekte von Mythos, Religion respektive der Differenz von Mythos und Religion im Text aktualisiert werden. Die Bezeichnungen Mythos und Religion, aber auch Kulturproduktion bilden ein begriffliches Instrumentarium, das es näherhin behutsam und im Bewusstsein der ständigen Vorläufigkeit begrifflicher Fixierungen zu bestimmen gilt.21

1 Ariadne auf Naxos ist eine Oper von Richard Strauss. Das Libretto schrieb Hugo von Hofmannsthal. Ariadne auf Naxos ist dabei in »1 Aufzug nebst einem Vorspiel « gegliedert. Beide – Aufzug und Vorspiel – sind jeweils einaktige Opern. Die Uraufführung der Erstfassung fand am 25. Oktober 1912 in Stuttgart, im Kleinen Haus des Hoftheaters statt. Die Neufassung indes ereignete sich vier Jahre später, am 4. Oktober 1916 an der Wiener Hofoper. Vgl. Rolf Fath: Reclams Opernführer, Stuttgart 2010, S. 737 – 741. Die Oper wird im Folgenden mit Ariadne abgekürzt. Als Textgrundlage wird die von Rudolf Hirsch, Clemens Köttelwesch, Heinz Röllekee und Ernst Zinn herausgegebene Kritische Ausgabe sämtlicher Werke von Hugo von Hofmannsthal verwendet. Für das Libretto von Ariadne entsprechend: Hofmannsthal, Hugo von: [Ariadne auf Naxos. Oper in einem Aufzuge nebst einem Vorspiel. Neue Bearbeitung], in ders.: Sämtliche Werke, Bd. XXIV [Operndichtungen 2], hrsg. v. Manfred Hoppe, Frankfurt/M. 1985, S. 7 – 48 (im Folgenden mit Sigle SW plus Band und Seitenzahl angegeben).

2 Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny ist eine Oper in 3 Akten. Den Text verfasste Bertolt Brecht. Die Musik komponierte Kurt Weill. Die Uraufführung von Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny am 9. März 1930 in Leipzig bzw. seinem damaligen Opernhaus Neues Theater sorgte für einen »gewaltigen Skandal«. Vgl. ebd., S. 923 – 926. In dieser Arbeit wird die Oper nachfolgend in der Kurzform Mahagonny bezeichnet. Als Textgrundlage wird die von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus-Detlef Müller herausgegebene Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe verwendet. Für das Libretto von Mahagonny entsprechend: Brecht, Bertolt: [Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. Oper.], in: ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 2 [Stücke 2], hrsg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, Frankfurt/M., 1988, S. 333 – 389 (im Folgenden mit Sigle GBA plus Band und Seitenzahl angegeben).

3 Kohler, Stephan: »Galvanisierte Leiche oder Zeitstück im Kostüm? Hofmannsthal und Richard Strauss als Bearbeiter von Molières Le Bourgeois Gentilhomme, in: Renner, Ursula/Schmid, G. Bärbel (Hrsg.): Hugo von Hofmannsthal. Freundschaften und Begegnungen mit deutschen Zeitgenossen, Würzburg 1991, S. 143 – 162, hier: S. 162.

4 Ebd., S. 161.

5 Vgl. hierzu auch den Aufsatz von Lorenz Jäger, in welchem er Hofmannsthal in die Nähe einer Kapitalismustheorie rückt: »Hofmannsthals Werk ist als Ganzes im Gestischen ungemein prägnant, und es enthält eine außerordentlich variantenreiche Gebärdensprache des Geldes […] Von hier aus läßt sich seine Beschäftigung mit der Soziologie verstehen […] – sie beginnt sich in den neunziger Jahren als wissenschaftliche Disziplin zu konstituieren und zwar vor allem als Kapitalismustheorie.« Jäger, Lorenz: »Zwischen Soziologie und Mythos. Hofmannsthals Begegnung mit Werner Sombart, Georg Simmel und Walter Benjamin «, in: Renner/Schmid (Hrsg.): Hugo von Hofmannsthal, S. 95 – 107, hier: S. 95.

6 Klaus Zehelein über Ariadne in seinem Arbeitspapier von 1980, welches im Rahmen der Vorarbeiten zu deren Neuproduktion an der Oper Frankfurt in der Ära Gielen/Zehelein entstand und im Programmheft der Oper Stuttgart anlässlich der Premiere von Ariadne am 20. Mai 2013 abgedruckt wurde. Zehelein, Klaus: »Kunst als Börsenjobberei«, in: Richard Strauss: Ariadne auf Naxos. Oper in einem Aufzuge [1912] nebst einem Vorspiel [1916] von Hugo von Hofmannsthal, aufgeführt in der Reihenfolge ihrer Entstehung, hrsg. v. Oper Stuttgart, Spielzeit 2012/13, S. 49 – 55, hier: S. 49. Juliane Vogel beschreibt die Oper als Beispiel einer »Kapitalisierung der Zeit«, wo das Geld nicht nur Gleichschaltung auf der Ebene der Zeit, »sondern auch bei der wechselweisenden Verrechnung der (Gattungs-) Unterschiede« eine Gleichschaltung bewirke: »Nicht zufällig geht die Mischung des Heroischen mit dem Buffo-Element auf die Initiative des reichsten Mannes von Wien zurück.« Vgl. Vogel, Juliane: »Lärm auf der ›wüsten Insel‹. Simultanität in Hofmannsthals ›Ariadne auf Naxos‹«, in: Hofmannsthal. Jahrbuch zur europäischen Moderne 16 (2008), S. 73 – 86, hier: S. 74 f.

7 Thomsen, Frank/Müller, Hans-Harald/Kindt, Tom: Ungeheuer Brecht. Eine Biographie seines Werks, Göttingen 2006, S. 87.

8 Gostomzyk, Swantje: Literaturoper am Ende des 20. Jahrhunderts (= Perspektiven der Opernforschung Bd. 17), Frankfurt/M. u. a. 2009, zugl. Diss. Univ. Hamburg 2007, S. 38.

9 Um Thomas Mann zu zitieren, ginge diese Verflüchtigung des Stofflichen, »bis zu dem Grade [geht], daß schließlich fast nichts als ein artistisches Spiel von Ton und Geist übrigbleibt. War das Verfall? Er selbst [Fontane, Anm. C.W.] scheint es dafür gehalten zu haben. ›Das Buch‹, schreibt er über ›Poggenpuhls‹, ›ist kein Roman und hat keinen Inhalt‹«. Mann, Thomas: [Der alte Fontane], in: ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, Bd. 14.1, hrsg. und textkritisch durchgesehen v. Heinrich Detering unter Mitarbeit von Stephan Stachorski, Frankfurt/M. 2002, S. 245 – 274, hier: S. 262.

10 Die klassische Moderne, die sich in ihrer Begrifflichkeit aus zwei widersprüchlichen Elementen – dem Klassischen und dem Modernen – zusammensetzt, stellt nur scheinbar eine contradictio in adiecto dar. Vielmehr sind in der Bestimmung des Klassischen (in »klassische Moderne«) drei Ebenen erfasst, die erstens eine bestimmte historische Epoche kennzeichnet, zweitens eine kulturgeschichtliche Hochzeit im Sinne des Kanonischen beschreibt und drittens Werke umfasst, die eine bestimmte Formensprachlichkeit aufzeigen. Auch im Verständnis des Modernen sind neben der historischen Perspektive folgende Aspekte enthalten: Zum einen ist es die durch die Französische Revolution erlebte Zäsur in der Zeiterfahrung, welche in der philosophischen Betrachtung allen voran die Dezentrierung des modernen Subjekts bedeutete, und zum anderen handelt es sich hier um einen Epochenbegriff, der die Moderne aus ästhetikgeschichtlicher Sicht umschreibt. Im Anschluss an etliche »Querelles des Anciens et des Modernes«, jene Debatten um den Vorrang des Zeitalters Ludwigs XIV. gegenüber der Antike, entbrannte in der Literatur ab 1880 erneut ein Streit um den nunmehr systematisch verstandenen Begriff der Moderne, für die die rivalisierende Beziehung zwischen Naturalismus und Ästhetizismus als die zwei prägenden Strömungen dieser Zeit idealtypisch gelten kann. Siehe dazu Sprengel, Peter: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870 – 1900, München 1998 sowie Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900 – 1918, München 2004. Für die literarischen Werke der Weimarer Republik siehe Weyergraf, Bernhard (Hrsg.): Literatur der Weimarer Republik 1918 – 1933, München/Wien 1995.

11 Siehe Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas (1880 – 1950), Frankfurt/M. 2013.

12 Weitestgehender Konsens herrscht in der Forschung hinsichtlich der Frage, wann genau die literarische Moderne ihren periodischen Anfang hatte. Zu einschneidend ist der neu formulierte Wille einer Formensprache, die sich ganz bewusst vom Epigonenbewusstsein und der damit verbundenen Verdinglichung von Formen absetzen sollte. Das faktische Ende der Periodisierung dagegen wird nach wie vor kontrovers diskutiert. So ist jene Auffassung, die die Epoche abschließend auf das Jahr 1930 eingrenzt, in ihrer Argumentation vorrangig politisch motiviert: Mit Beginn der nationalsozialistischen Diktatur 1933 setzte auch eine radikale Kulturpolitik ein, die der kulturellen Entwicklung ein unmittelbares Ende bereitete. Das gesamte Ensemble der Künste – nunmehr mit dem Stigma ›entartet‹ versehen – konnte seine Errungenschaften durch die Moderne nur sehr mühevoll nach dem Zweiten Weltkrieg wiedererwerben und unter nicht minder großen Anstrengungen seinen Stellenwert im ästhetischen Bewusstsein rehabilitieren. Problematisch an dieser vorgenommenen Periodisierung ist, dass sie – statt von der Parallelität verschiedenster ästhetischer Verfahren auszugehen – ihren Begründungszusammenhang in historischen Epochenbegriffen und damit literaturgeschichtlich gesetzten Zäsuren (das Jahr 1918, 1933 und 1945) sucht und weiterhin bestehende Kontinuitäten kategorisch ausschließt. Literarische Strömungen müssen nicht zwangsläufig mit politischen Systemen in ihrer jeweiligen Entwicklung kongruieren. U. a. deshalb geht diese Arbeit von einer klassischen Moderne im Zeitraum 1880 bis 1950 aus. Siehe hierzu Schäfer, Hans Dieter: Das gespaltene Bewußtsein. Über deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933 – 1945, München/Wien 1981, S. 55 – 71. Über das Bild der Literatur aus den dreißiger und vierziger Jahren hält Schäfer fest, dass man in dessen Nachzeichnung auf eine außerordentliche Heterogenität stoße, die er den »›Tumult aller Stile‹« nennt. Jene »Zerfaserung in personale Ausdrucksformen« habe schon in der Weimarer Republik eingesetzt. Vgl. ebd., S. 58.

13 Wenngleich der Begriff der Moderne in seinen verschiedenen Bedeutungsebenen oftmals nebulös bleibt, so soll er hier zunächst aus der historischen Perspektive jene Epoche bezeichnen, die seit dem 18. Jahrhundert mit kultur-, gesellschafts- und geistesgeschichtlichen Neuerungen konnotiert ist und die auch als Synonym für den Epochenbegriff der Neuzeit von der Renaissance bis zur Gegenwart angeführt werden kann. Unter literaturgeschichtlichen Gesichtspunkten wird diese Zeit um 1880 von einem radikalen Stilwandel der literarischen Strömungen und damit einhergehend einem Stilpluralismus begleitet, die u. a. im Naturalismus, Symbolismus, Impressionismus, Fin de siècle, dem Futurismus, Expressionismus, Dadaismus und dem Surrealismus ihren Niederschlag finden sollte.

14 Vgl. Strauss, Richard/Hofmannsthal, Hugo von: Briefwechsel. Mit 7 Abbildungen und 6 Notenbeispielen, hrsg. v. Willi Schuh, München/Mainz 1990, S. 116 f. (im Folgenden mit Sigle BW und Seitenzahl angegeben).

15 Siehe die Rezension von Alfred Kerr, der sich ratlos darüber zeigt, was in Ariadne von 1912, in dieser »Hofmannsthal’schen Schwächebekundung« vorgeht: »Sobald Molière zu reden aufhört und jener anfängt, sobald Ariadne zu opern beginnt: sobald wächst eine Langweiligkeit auf alle Versammelten; grauenvoll […] Das Vermengen des Ernsten, das nicht ernst, mit dem Heiteren, das nicht heiter ist … Apart Gemachtes und nicht Gekonntes. Trostlos.« Kerr, Alfred: [Der Ewigkeitszug], in: ders.: Gesammelte Schriften. Die Welt im Drama, Bd. 2, Berlin 1917, S. 336 f. Ernst Krause schreibt dazu: »Molières ›Bürger als Edelmann‹ und das anstelle der türkischen Zeremonie gedachte Divertissement ›Ariadne auf Naxos‹ nach der Dichtung Hofmannsthals ergaben 1912 einen Theaterabend, bei dem trotz glänzender musikalischer und szenischer Voraussetzungen die Wirkung des einen Werkes dem des anderen im Weg stand. Gewogen und zu schwer befunden! Die Farce von dem ›Bourgeois Gentilhomme‹ Molières gekuppelt mit dem Bleigewicht einer mythologischen Oper – das vertrug sich schon damals nicht. Der Wiener Dichterästhet Hofmannsthal wollte zuviel, als er die drei Schichten ineinanderschob: das gesellschaftskritische Spiel um den albernen Pariser Emporkömmling Jourdain, die Stegreif-Harlekinade der ›Ungetreuen Zerbinetta mit ihren vier Liebhabern‹ und die mystische Verwandlung der trauernden Ariadne.« Krause, Ernst: Richard Strauss. Gestalt und Werk, Leipzig 1955, S. 368.

16 Doch auch die überarbeitete Fassung der Ariadne, die 1916 unter Franz Schalk in Wien uraufgeführt wurde, sollte die Welt weder bezaubern noch überraschen: »Sie schalt oder schwieg, so daß der enttäuschte Dichter wieder einmal unsicher wurde und von einer ›widernatürlichen Verbindung des Toten mit dem Lebendigen‹ sprach …« Ebd., S. 374.

17 »Eine Oper, die zwei Urheber hat, hat auch zwei Werkgeschichten.« Knopf, Jan: »Zur Entstehungsgeschichte der ›Mahagonny‹-Oper«, in: Hennenberg, Fritz/ Knopf, Jan (Hrsg.): Brecht/Weill »Mahagonny«, Frankfurt/M. 2006, S. 293 – 309, hier: S. 293.

18 So schreibt Jan Knopf: »In der Werkgeschichte Brechts, und dies gereicht der Forschung nicht zur Ehre, steht Mahagonny an falscher Stelle. Das Libretto der Urfassung liegt im Dezember 1927 abgeschlossen vor: Mahagonny. Oper in 3 Akten von Kurt Weill. Text von Bert Brecht. In der chronologischen Folge seiner Werke hat folglich Mahagonny vor und nicht nach der Dreigroschenoper zu stehen, wie es in allen Brecht-Ausgaben der Fall und entsprechend von der Forschung übernommen worden ist.« Ebd.

19 Einen rezeptionsgeschichtlichen Überblick des ›Ariadne-Mythos‹ liefert da beispielsweise Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart, das die wiederkehrende Befassung mit dem Topos ›Ariadne‹ in geschichtliche Epochen gliedert sowie den ›genre‹-spezifischen Bereichen Musik, Tanz, Bildende Kunst, Literatur, Theologie und Philosophie zuordnet. Siehe Schlesier, Renate: »Ariadne«, in: Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart, hrsg. v. Maria Moog-Grünewald (= Der neue Pauly, Supplemente, 5), Stuttgart 2008, S. 140 – 150.

20 An dieser Stelle sei erwähnt, dass die verhandelten biblischen Bezüge ein spezifisches literarisches Verfahren darstellen, das bei Brecht zur Anwendung kommt, und nur in diesem Sinne, als Verfahrensform, nicht als Glaubensbekundung zu lesen sind: Brecht wird die Bibel also als Geschichten und nicht als Wahrheit Gottes verstanden haben. So hätte er Heideggers »›Philosophie ist ein Handaufheben gegen Gott‹« zugestimmt, »trotz der Tatsache, dass die Bibel zu seiner Lieblingslektüre zählte«, wie Sebastian Kleinschmidt im Vorwort von Brechts Glaube feststellt. Vgl. Kleinschmidt, Sebastian: »Vorwort«, in: Brechts Glaube. Brecht Dialog 2002. Religionskritik, Wirtschaftsfrömmigkeit, Politische Theologie, hrsg. v. Sebastian Kleinschmidt und Theresa Hörnigk (= Recherchen 11), Berlin 2002, S. 7 – 10, hier: S. 7.

21 Für die Darstellung des Bedeutungswandels, den der Mythos-Begriff im Laufe von Geschichte erfahren hat, siehe Horstmann, Axel: »Der Mythosbegriff vom frühen Christentum bis zur Gegenwart«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 23 (1979), S. 197 – 245. Horstmann nimmt dabei zum Ausgang seines Aufsatzes die Beobachtung, dass das gestiegene Interesse an ›Mythos‹ und ›Mythologie‹ im 20. Jahrhundert eine nur noch exemplarisch fassbare Literaturfülle hervorgebracht habe. Vgl. ebd., S. 197. Zur Definition des Begriffes ›Mythos‹ schreibt Gerhard Plumpe: »Es gibt Begriffe, deren Suggestivkraft Indiz einer vermeintlichen Sinnfülle ist, die sich semantischer Beliebigkeit verdankt. Zu ihnen zählt das Wort ›Mythos‹. Man darf unterstellen, daß bereits der Versuch einer strengen Definition Widerspruch hervorrufen wird; gerade als schlechterdings undefinierbarer Begriff produziert ›Mythos‹ die ihm eigene Faszination.« So seien Ausdrücke dieser Art von oppositioneller Qualität, denn sie riefen den Glauben hervor, in ihnen gegen das nur zu gut Definierte und damit Konventionelle den Anspruch des Zukurzgekommenen, Übersehenen, Ausgegrenzten geltend machen zu können: »Die polemische Intention führt dazu, daß man in solchen Ausdrücken die Konturen des Kritisierten stets besser zu erkennen vermag, als den Umriß der alternativen Setzung selbst.« Obwohl derlei Ausdrücke eine Bedeutungsspur besitzen, entziehen sie sich der Definition und werden so nicht nur offen für die potentiell universale Verwendung, sondern sehen sich wegen ihrer Polyvalenz als primäres Medium der Kritik sodann scheindefinitorisch eingeengt. Vgl. Plumpe, Gerhard: »Das Interesse am Mythos, Zur gegenwärtigen Konjunktur eines Begriffes«, in: Archiv für Begriffsgeschichte XX (1976), S. 236 – 253, hier: S. 236. Ein Mythenverständnis, das ebenfalls vom ›Mythos‹ als einem variant zum Einsatz kommenden Begriff ausgeht, lässt sich bei Manfred Frank finden: »Wie in jeder Wissenschaft, so wird auch in der Mytho-logie (also: in der Wissenschaft von den Mythen) der Gegenstandsbereich (die Mythen) festgelegt durch Vorentscheidungen, die auf der Ebene der Theorie und nicht der Erfahrungswirklichkeit fallen: Die richtige Mythendefinition gibt es darum so wenig wie die richtige Definition des Menschenwesens.« Frank, Manfred: Kaltes Herz. Unendliche Fahrt. Neue Mythologie. Motiv-Untersuchungen zur Pathogenese der Moderne, Frankfurt/M. 1989, S. 96. Und auch Claude Lévi-Strauss bemerkt: »There is no logic, no continuity. Any characteristic can be attributed to any subject. « Der Mythos ermögliche alles. Vgl. Lévi-Strauss, Claude: Structural Anthropology, trans. from the French by Claire Jacobson and Brooke Grundfest Schoepf, New York 1963, S. 208.

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