3.2. Die Doppelfunktion des Blicks
von Sebastian Kirsch
Erschienen in: Das Reale der Perspektive – Der Barock, die Lacan’sche Psychoanalyse und das ‚Untote‘ in der Kultur (07/2013)
Aber noch einmal zu Petit-Jean. Es geht, wie gesagt, beim Blick letztlich immer um einen schockartigen, »tychischen« Moment, der die Selbstgewissheit und Selbstgenügsamkeit des Schauenden unterbricht. Der Blick durchschlägt das Bewusstsein, so wie umgekehrt der sogenannte Wachzustand dazu tendiert zu verdrängen und auszuschließen. In der Petit-Jean-Anekdote stellt sich dieses plötzliche Affiziert-Werden durch den Blick folgerichtig als ein Sich-ertappt-Fühlen dar – der junge Lacan wird sich unvermutet der Lächerlichkeit seines Handelns und seiner Position gegenüber den proletarischen Fischern bewusst. Darin liegt die analytische Kraft des Blicks. Nun kann sich der Blick in seiner Eigenschaft als Objekt a aber genausogut als unvermutete Faszination und rätselhaftes Gebanntsein durch eine unsagbare Qualität im Gegenüber äußern. Das heißt: Der Blick hat in gewisser Weise eine Doppelfunktion. Einerseits spiegelt er dem Subjekt den ihm vorgängigen gesellschaftlichen Zusammenhang zurück, trägt diesen ins Feld des Sehens ein und artikuliert ein unhintergehbares »Erblicktsein« jedes Einzelnen. Damit ist die soziale bzw. ethische Komponente von Lacans Blicktheorie angeschnitten, das »a in seiner sozialen Brechung« (BOa 119). Schockartig gibt sich im Blick die Verfasstheit des jeweiligen gesellschaftlichen Zusammenhangs zu erkennen, in dem das Subjekt steht und entsteht – deswegen die mögliche Identifizierung der Büchse mit der Position des Analytikers. Andererseits bricht mit...