Auftritt
Karlsruhe: Der verblichene Glanz des Geistes
Badisches Staatstheater: „Anna Iwanowa“ nach Anton Tschechow. Deutsch von Thomas Brasch in einer Fassung von Anna Bergmann. Bühne Volker Hintermeier, Kostüme Lane Schäfer
von Elisabeth Maier
Erschienen in: Theater der Zeit: Barbara Mundel – Stürzende Gegenwart (12/2022)
Assoziationen: Baden-Württemberg Badisches Staatstheater Karlsruhe

Der schwindsüchtige Mann flüchtet sich in seine Krankheit. Er ist Jude, hat sich für die Heirat von seiner Familie losgesagt. Nun ist er allein. Am Leben teilnehmen, das kann er längst nicht mehr. Seine Frau Anna Iwanowa sieht tatenlos zu. Die Gutsherrin genießt das Leben mit anderen Menschen. Sie liebe ihn nicht mehr, sagt sie. Die Karlsruher Schauspieldirektorin Anna Bergmann erzählt den großen Tragödienstoff „Iwanow“ von Anton Pawlowitsch Tschechow aus dem 19. Jahrhundert aus weiblicher Perspektive neu. Dabei interessiert die Regisseurin weniger Tschechows Blick auf den schwelenden Antisemitismus in Russland, als er das Stück 1887 schrieb. Da war er gerade 27 Jahre alt. In der bildgewaltigen Traumalandschaft arbeitet sie sich mit dem Ensemble an vertauschten Geschlechterrollen ab.
In dem großen Gesellschaftspanorama des russischen Dichters ist es Iwanows Frau Anna Petrowna, geborene Sara Abramson, die ihre Familie verlässt, um den Gutsbesitzer zu heiraten. Das bedeutet, dass sie ihre jüdischen Wurzeln aufgeben muss und zum Christentum konvertiert. In Bergmanns Fassung ist es der Mann, der für die Ehe mit Anna Iwanowa alles aufgibt. Sarah Sandeh zeigt das Sterben ihrer Liebe kalt und teilnahmslos. Für ihren todkranken Gatten hat sie weder Gefühle noch Geld, um eine Kur auf der Krim zu finanzieren. Im Morgenmantel schlurft Jannek Petri über die Bühne. Der Zerfall ist ihm anzusehen. Volker Hintermeiers Bühnenraum ist eine dunkle Ehehölle. Tierköpfe spiegeln die Ängste, in denen die Protagonisten gefangen sind. Schwere Gitterstäbe engen die Menschen ein. Lane Schäfers opulente Kostüme erinnern an den verblichenen Glanz einer Gesellschaft, die in die Krise driftet. Dem Regieteam gelingen große Tableaus, in die sich die seelischen Qualen eingebrannt haben. Bergmanns Theater der Traumabilder fasziniert und verstört.
Die Gutsbesitzerin Anna Iwanowa schlittert in den wirtschaftlichen Ruin, kann die Gehälter ihrer Arbeiter nicht mehr bezahlen. Die Gleichgültigkeit, mit der Sarah Sandeh diesen Niedergang zur Kenntnis nimmt, befremdet. Dass sie die Krankheit ihres Mannes so kaltlässt, erschüttert die Ärztin Jewgenia Lwowa, die Anne Müller mit verführerischer Klugheit ausstattet. Die Medizinerin, die sich um den todkranken Iwanow kümmert, verfolgt jedoch knallharte Eigeninteressen. Gnadenlos zieht sie die Strippen in dieser ausgelöschten Ehe, die nur noch auf dem Papier besteht. Diesen Kampf zelebriert die Schauspielerin grandios. Anna Iwanowna flüchtet derweil zu den rauschenden Festen auf das benachbarte Gut der Familie Lebedew.
Wenn eine Frau so ganz ohne Mitgefühl und Wärme ihren todkranken Mann verlässt, zertrümmert manches Klischee. Das ist die Absicht von Anna Bergmanns Dekonstruktion der Tragödie. Sie macht aus dem hochgebildeten Mann, der im Leben viel erreicht hat, eine Intellektuelle, der die eigene Existenz entgleitet. Die „überflüssigen Worte“ und die „überflüssigen Menschen“ rauben ihr Lebensenergie. Sarah Sandeh lässt ihre Rolle dennoch nicht im Burn-out versanden. Mit ihrem Suizid übernimmt ihre Anna Iwanowa am Ende doch noch die Verantwortung für die Schuld, die sie auf sich geladen hat. So entwickelt sich die Gutsbesitzerin doch noch zu der starken Frauenfigur, die sich nicht immer war. Großartig zeichnet die Regie diesen Prozess nach. So legt Bergmann meisterhaft jene Fesseln offen, die die Gesellschaft Frauen auferlegt.
Zu kurz kommt in ihrer Lesart dagegen die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus, der sich in der russischen Gesellschaft entlädt. In Thomas Braschs Übersetzung zeigt sich das in den verbalen Kämpfen des Ehepaars. „Halt’s Maul, Du Jude“, schleudert die Gutsbesitzerin ihrem todkranken Mann entgegen. Dieser Satz wirkt wie ein Stich ins Herz. Dass sich dahinter struktureller Rassismus verbirgt, macht Tschechow deutlich. Jannek Petri gelingt es nicht, seine Figur über den verlassenen Ehemann hinauszuheben. Da hat die Regie eine Chance vertan. Das Fremdsein in einer Gesellschaft, die Juden auf allen sozialen Ebenen ausgrenzt, geht in den Zimmerschlachten des Ehepaars unter. //