Vom Glück, überrascht zu werden
Zur Lektüre von Teresa Doplers Monte Rosa
von Christine Wahl
Erschienen in: Recherchen 167: Dramatisch lesen – Wie über neue Dramatik sprechen? (05/2023)
Insgesamt werden im deutschsprachigen Theaterraum – also großflächig zwischen Wien, Bern und Berlin – pro Spielzeit ungefähr einhundertfünfzig neue Theatertexte uraufgeführt. Wenn man sie hauptberuflich alle liest, ist man – gemessen an der guten alten gewerkschaftlichen Vierzig-Stunden-Woche und bei entsprechend ordnungsgemäßem Abzug eines Urlaubsmonats – komplette sechs der 48 jährlichen Arbeitswochen allein mit dem dramatischen Lesen beschäftigt. Und wo ein ganzes Achtel der Jahreserwerbszeit in die Lektüre druckfrischer Theatertexte fließt – wobei das sogar eher noch tief gestapelt ist, weil es lediglich einen Durchschnittswert von neunzig Minuten pro Text einkalkuliert –, bleibt es naturgemäß nicht aus, dass man eine Menge aus ihnen erfährt: über die Kunst und über das Leben, über Gesellschaftstrends und Bühnenmoden, über die Debattenhits des Jahres und die Flops der Saison. Es gibt aufschlussreiche Recherchen, lohnende Analysen und gewitzte Figuren – alles in allem also: 225 Stunden quality working time.
Nur eine Sache passiert unter den genannten Umständen wirklich selten. Nämlich dass man ernsthaft überrascht wird. (Diesen singulären Nachteil bringt die wachsende Leseerfahrung wohl oder übel mit sich; da dürfte es den Dramatikerinnen und Dramatikern mit dem Verblüffungsquantum angesichts unserer Kritiken sehr ähnlich gehen.)
Teresa Doplers Monte Rosa war nun aber eine solche Überraschung.
Der Titel,...