Gespräch
„… ist sie immer noch da, die gute alte Gänsehaut“
von Charly Hübner und Hans-Dieter Schütt
Erschienen in: backstage: HÜBNER (01/2023)

HANS-DIETER SCHÜTT: Sie sind mit Leib und Seele ein Mann des Heavy Metal. Noch immer. Forever young?
CHARLY HÜBNER: Ich steh schnell in Flammen, und Dinge gibt es, da geht das Feuer nicht aus.
Heavy Metal ist so ein Feuer.
Ist Jugend. Die ich mitgenommen habe, ohne dieses melancholische Beharren …
… das ja irgendwann peinlich wird.
Ja. Wenn man mit siebzig noch immer vorgaukelt, man passe in die engsten Jeans. Aber!
Aber?
Ich spüre nach wie vor: Metal erzählt mich. Ich kann nur für mich antworten. Metal, das ist Seelenwanderung. Diese Heiserkeit, diese müden Knochen, du bist entseelt auf dieser Welt, kriegst dein Wesen nicht gebündelt. Lass sie doch hämisch krähen!
Mein Lieblingszitat über Musik stammt von Rilke: Musik liest dich irgendwo auf und setzt dich an einer anderen Stelle ab.
Oder setzt dich aus. An der unwirtlichsten Weltstelle: bei dir selber. Fernreise mit fliegendem Teppich. Lemmy Kilmister: „There is music that fucks you away from the first second and then you’re addicted for the rest of your life.“
„Wenn du glaubst, du bist zu alt für Rock’n’Roll – dann bist du es auch“, schrieb dieser Kilmister.
Er hat recht, aber ich fühle mich halt nicht zu alt. Wenn ich Lemmy und die anderen höre, ist sie immer noch da, die gute alte Gänsehaut. Der Sportler sagt, man müsse auf seinen Körper hören – und der Musikfan sagt, man müsse auch darauf hören, was der Körper hören will.
Die Gänsehaut, wo ist sie am stärksten?
Bei Motörhead? Overkill von 1979 – da ging nichts drüber. Es war so krude, aber auch so breit gefächert. Es war der große Sprung, das Album hat ein neues Spektrum aufgemacht – da kam der Rock ins Rollen. Man brauchte danach eigentlich nichts mehr von Motörhead. So eine Vollendung schon mit der ersten Platte!? Wie ging das?! Der lange Rest würde doch nur noch Spaß an der Freude sein. Dann kamen Bomber und Ace of Spades, mit diesem Album ging die neue Tür auf und Desperados betraten den von Hippies zerkifften Raum. Ace of Spades, das ist eine Platte, wie sie jede große Band zumindest einmal in ihrer Geschichte machen muss. Es war Motörheads Schwarzes Album, ihr Highway to Hell. Es brachte alles auf den Punkt, was die Gruppe bis dato war.
Einar Schleef sagte, von einer Gruppe gemeinsam sprechender Menschen gehe eine besondere Faszination aus. Auch von einem vibrierenden Konzertpublikum?
Na klar. Einander völlig fremde Menschen, die sich bei einem Rockkonzert zur Gemeinschaft verbinden, das hat für mich in den besten Momenten sogar was Heiliges.
Messe, Weihe, Rausch. Kollektivität der besonderen Art.
Sich als Rudeltier zu empfinden, hat eben nicht nur eine elende Seite. Gegen jedes Missverständnis: Ich brauche keine Ersatzreligion, und Musik ist doch für nichts bloß ein Ersatz, das wäre Herabwürdigung, Musik ist was sehr Eigenes. Ich will keinen Gottesdienst. Was ich ersehne: mit Musik eine coole Zeit zu haben.
Sie hören als Jugendlicher Paranoid von Black Sabbath und vergessen alles um sich herum: „Wieder knallt es mich durchs Lärmuniversum, und unter Schütteln, Hopsen und Zucken fliege ich frei zu den Sternen oder was weiß ich wohin.“ Dieses Lärmuniversum taucht immer wieder auf in Ihrem Buch über Motörhead, etwa wenn Sie über AC/DC schreiben: „Die strudelnden Soli aus den Zappelfingern von Angus Young, Bon Scotts Gekreische und die mächtige, schützende Wand des Klangs schossen mich wie durch einen Druckschlauch auf die andere Seite des Lärmuniversums.“
In der Bibliothek unseres Ortes las ich wie versunken, ich graste auch die Schallplatten ab. Aber da war leider nichts, was mich aus den Angeln hob. Nicht mal die Beatles. Aber AC/DC, herausgegeben von Amiga, das war’s!
Highway to Hell.
Für mich Freiflug zum Himmel.
Ein Himmel über welcher Welt?
Das Wohnzimmer daheim, Schrankwand und Clubsessel. Und all diese Schlagerparaden.
Die Beatles … Ein bisschen erschrocken war ich, wie Sie die abtun im Buch.
Ich bekenne, wie ungerecht das ist. Ich brauchte aber zu Pubertätszeiten nicht die musikalische Kompliziertheit, mir half nur – das Lärmuniversum.
Als Dammbruch.
Wie war denn meine Pubertät (lacht)? Was zeichnete sich da ab? Ich würde mich mit großen Hoffnungen in den Sport stürzen, ich spürte in mir einen wachsenden Ehrgeiz, vielleicht wollte ich mich mit Lust gegen das Einfach-so-Dahinleben wehren. Ich war angespannt, ich war ein brummiger Typ geworden. Und da meldete sich – wie auf Bestellung – das rettende Gegengewicht. Ich hörte Metal, ich hörte Punk.
Jung und düster.
Motörhead: „Spaß, Quatsch und Freiheit.“
Volle Dröhnung.
Am Ende stand mehr als Spaß.
Ja, vor allem bei Motörhead selbst. Am Schluss ist Lemmy verloren, haltlos, nackt und traurig. Der Abgesang von Lemmy Kilmister ist Blues. Etwa I Don’t Believe a Word. Oder Till the End.
Ein Ende im Blues.
Nee, falsch. Im Blues endet man nicht, man vollendet sich.
Sie waren Leistungssportler.
Ich wär’s gern geworden, ja. Handball, Leichtathletik. Hundertmeterlauf, Weitsprung. Aber ich musste aufhören. Das Herz war zu groß. Die Pumpe ging zu schnell hoch. Ich war infarktgefährdet. Das lag am schnellen Körperwachstum.
Die hundert Meter?
Einmal schaffte ich 10,9 Sekunden. Gern hätte ich auch Musik gemacht, aber: Zur wirklich ernsten Angelegenheit wurde mir der Journalismus. Auch ein Leben als Dolmetscher konnte ich mir vorstellen.
Journalismus? Wollten Sie Sportreporter werden?
Kriegsreporter. Ich wollte der Wirklichkeit auf die Spur kommen (lacht). Ich lache jetzt, aber es war ernst gemeint. Ich wollte nicht, dass in meinem Leben alles vorhersehbar bleibt.
Reporter sein, das ist romantisches Weltempfinden?
Na ja, manchmal überkommt dich die Kernfrage: Büro oder Antarktis.
Ihre Antwort?
Antarktis.
Büro geht auch – vorausgesetzt, man hat dort das Zeug zu einem Kafka.
Das hatte nur Kafka selbst. Als Junge bin ich übrigens einige Male nachts in den Wald bei Feldberg gegangen. Einer, der auszog, das Fürchten zu lernen. Was mich am meisten überraschte: Der Wald ist nachts heller, als man denkt. Und lauter auch. Und die Vögel singen nicht, sie brüllen (lacht).
Vor welchen Tieren haben Sie Angst?
Schlangen.
Weil Sie Kafka erwähnten: Von ihm bleibt die Erfahrung, dass ein Gefühl von Sinn sich nur dann einstellt, wenn man einer Leidenschaft folgt – die aber eben auch Möglichkeiten der Verzweiflung, der tiefen Furcht in sich birgt.
Deshalb Kriegsreporter: das Wahrheitsthema. Wie steht Wahrheit zur Wirklichkeit? Wie entsteht Wahrhaftigkeit in der Kunst? Nur durch Widerspiegelung? Wegen dieser Fragen mag ich Walter Kempowski und Uwe Johnson. Diese spröde, sture Art, Poesie mit präzisester Realitätsbeschreibung zu verbinden. Wie krieg ich die Zeit gefangen? Das ist die Johnson- und die Kempowski-Frage.
Bei Motörheads I Don’t Believe a World, vom 1996er Album Overnight Sensation, nennen Sie Kilmisters Wimmern „das Mantra eines erschöpften Weisen, der nicht mehr weiterweiß und in stupender Agonie für immer dahindriftet, und so driften auch wir über den Strahl der Zeiten, für die ich jegliches Gefühl verloren habe“.
Ist doch so, oder? Über dieses Gefühl jedenfalls bin ich im Buch auf die Idee jener Szene gekommen, in der Kilmister und Samuel Beckett gemeinsam im Ruderboot über den Breiten Luzin fahren.
Das passt, Kilmister und Beckett?
Der eine so radikal drin in der Droge, der andere so radikal drin in der Komik des Grauens, beide sind tapfer trotzige Abenteurer der Leere. Das passt!
„Beschreibung des Widerspruchs, den man empfindet, wenn die erlebte Wirklichkeit sich ganz anders darstellt als die erwartete Idee davon.“ Motörhead.
Und Rammstein, Tom Waits. Trocken, laut, schnell, kompromisslos. Druck machen mit einer Dröhnung. Beckett ist da immer mit im Boot.
Wenn man summiert, was Sie zu Metal gesagt und geschrieben haben, kommt ein einprägsamer Wortschatz zutage: dreckig, ironisch, selbstsicher, glücklich, stumpf, grimmig, rabiat, aggressiv, spöttisch, manchmal auch total humorlos, anklagend.
Jeder Mensch sucht nach etwas, das ihm die Welt auf Abstand hält. Das kann Rex Gildo genauso wie der Punk, Heiner Müller genauso wie Modern Talking.
Würden alle Menschen gleich sein, würde einer genügen.
Die Welt wäre friedlich, aber vermutlich tot.
Dieses Scharfe, Schroffe, Überwältigende – das ist nicht gerade heimelig.
Nee, ganz und gar nicht. Aber plötzlich bekommst du Sehnsucht danach. Also ich jedenfalls, ich bekam Sehnsucht danach. Ich begriff, ich bin ein Speedy, ohne das Zeug nehmen zu müssen. Du willst nichts begreifen, du willst alles erfahren. Und das Gefühl, dass du bei dieser Musik ’ne Erfahrung machst, das ist über all die Jahre geblieben.
Erfahrung. Was wollen Sie erfahren?
Das Dunkle. Mein Ding bei Musik ist nicht die warme, weiche Hand, die dich sucht. Was mich bei Metal mitreißt, ist diese Arroganz, um alles Geklemmte, alles Gedämpfte auszublenden. Bei Motörhead war das am radikalsten von allen. Lemmy Kilmister hat das bis zu seinem Siebzigsten durchgezogen. Bis zu seinem Tod. The other side of the world. Da stellt sich einer mit seinem ganzen Körper für eine These zur Verfügung: Es geht um Cash – bezahl bar, was du lebst. Lemmy ist der Mensch, der in keiner Lage so tun kann, als sei er nicht bei sich selbst. Der Körper erzählt: Ich habe Sehnsucht, ich stinke, ich verfalle, ich verwittere, keiner mag mich, es gewinnen immer die anderen – he, das ist doch Scheiße, und dann geh’n die Lautstärken hoch, und es brummt, und du jagst durch ein ganz andres Universum …
Das Lärmuniversum.
… und der Planet mit den sogenannten Spießern driftet ab.
Sterne, Sterne, Sterne, schreit der Mensch, aber verreckt werden muss unten, wo keinem ein Gestirn aufgeht.
Ein Chaos mit Möglichkeiten ist dieser Lemmy, der gestorben, aber nicht tot ist. Exzessiv bleibt dieses Erbe, überall, wo das Saubere, Geschmackvolle, Gemäßigte befragt, attackiert werden soll.
Grölender Golem, maßlos im herrlichen Verrat am Feinen.
Schmiert den Leuten lauten Schmutz ums Hirn.
Völlige Verausgabung für die Dialektik von König und Kreatur, Mensch und Maschine, Mann und Monster.
Völlige Verausgabung, ja. Und das Gemüt hängen lassen wie einen ausgewrungenen Lappen.
Wie sagten Sie vorhin? Nicht die Hand suchen, die wärmt?
Eine Metapher.
Die Familie natürlich ausgenommen.
Na klar, keine Frage! Aber: Ich bin spröde, Lina dagegen hat ein Riesenherz. Sie hat viel mehr Zugang zu den weichen Übergängen, die das Leben auch so hat und die es so sehr braucht.
Diese Liebeserklärung lassen wir unbedingt stehen.
Gern. Und ausgerechnet sie trifft auf so ’nen klippigen Mecklenburger wie mich. Um ein bisschen Barock bemühe ich mich, gewiss (lacht), aber das Innere ist und bleibt das Schroffe. Da sind wir wieder bei Motörhead und Mahler.
Motörhead – und Gustav Mahler?
Mahler ist auch einer meiner Paten. Die Aufnahmen mit dem Dirigat von Klaus Tennstedt, die Londoner Symphoniker, die höre ich oft und manisch. Der hat Sinn für die Brüche, die Einbrüche, die Wegbrüche in der, na ja, sagen wir: Seelenbewegung der Musik.
Tennstedt statt Karajan?
Karajan ist berühmt, ist riesig, Tennstedt ist atemberaubend. Karajans Mahler galoppiert mir zu sehr auf gerader Strecke. Kraft, Energie hat er, ja, aber für mich ist da zu viel Vorwärtsdrang. Karajan lässt die Lipizzaner durch die Arena tanzen. Aber wenn schon Pferde, dann ist Mahlers Musik das Pferd, das seitwärts ausbricht, immer wieder. Gefährdetes, gefährliches Leben. Mahler ist ein gieriger Musiker, ein Getriebener, nicht seltsam, mehr noch: einsam. Einsamst. Letztlich, und das schon ganz am Anfang: Die Erschütterung der Mutter über die Wahrheit dieses Sohnes. Junge, du bist ja nur Musik, Musik, Musik. Junge, leb! Versuch’s! Es gelingt ihm nicht. Er kann hilfesuchend aufsehen, aber aus dem Himmel rutschen ihm nur immer Töne ins Hirn, ins Herz, unter die Haut. Musik ist Leben! Wirklich? Ja. Was wissen die anderen, was weiß ein Fremder? Vertrau dich der Musik an. Vielleicht kann sie etwas, das du selber nicht kannst. Und? Schon bist du ein Gesteigerter.
Ich merke schon: Statt sich mit mir zu unterhalten, möchten Sie jetzt lieber Mahlers 3. Sinfonie hören.
Wir sprachen von Seethalers Buch über den Komponisten. Genau dieses Buch würde ich gern verfilmen.
Hübner-Zitat aus einem Programmheft, es geht um die Besessenheit: „… wie bei Mahler zum Beispiel, dass sich einer so verliert, dass er jeden Sommer in diese komischen Alpen düst, immer schwimmen, immer Bergwandern, immer komponieren. Schubert war ja auch so drauf, immer komponieren, in den kleinsten Stuben, trotz Krankheit. Diese Hyperaktivität an Produktion. Wenn du besessen bist von etwas, dann hast du kein Leid. Dann fällst du vielleicht mal um. Aber dann stehst du auch wieder auf und machst weiter. Du spürst, dass etwas zu Tode geritten werden muss.“ Sind Sie ein Besessener?
Ich will was kapieren, neugierig bin ich, das ist so in meinem Wesen drin. Das zieht dich natürlich rein ins Gewühl. Rundum interessante Reize, das Meer ist weit und überall sind neue Ufer. Kann sein, dass der Körper dich stoppt. „He, wir haben viel zu wenig Mann an Bord – wir haben nur vier Ruderer, brauchen aber sechzehn.“
Nicht umsonst heißt es, man sei mit Talent – geschlagen. Für Musik können wir jetzt andere Worte nehmen. Sprache oder Spiel, Schreiben oder Lesen.
Man muss es aushalten, sich zum Rätsel zu werden.
Wie wird man sich denn selber zum Rätsel?
Mein Eindruck: Indem man sich so wenig wie möglich belügt. Indem man auf die Wahrheit von Geschichten hört. Von gesungenen, geschriebenen, gespielten, gemalten, komponierten Geschichten, in denen es nicht geradlinig zugeht, sondern in denen was aus dem Ruder läuft.
Das sagt sich leicht. Mittelmaß rettet.
Ohne ein bisschen Mittelmaß kommt kein Leben aus, das stimmt. Ich bin der Letzte, der das bestreitet. Und klar kann man auch ein guter mittelmäßiger Unternehmer sein, der hat seine irdischen Güter, fertig ist der Lack. Das sage ich nicht zynisch, aber ich sag’s auch ohne jede Sehnsucht. Die Option entstand einfach nicht bei mir, da konnte ich machen, was ich wollte.
Sie haben es gar nicht erst versucht.
Ich weiß bei solchen Leuten nicht, wie viele ihrer vielen Pfennige sie irgendwann wirklich noch in Lebensfreude investieren.
Mittelmaß rettet. In Ihrem musikalischen Projekt mercy seat – winterreise mit dem Ensemble Resonanz koppeln Sie Nick Cave mit Franz Schubert und Wilhelm Müller. Das ist ein Abend über die Traurigkeit, die von großen Sehnsüchten ausgeht.
In Caves Wild Roses bringt ein Mann seine Geliebte um, auch Müller durchlebt eine tragische Liebesgeschichte. Im Mai, wo die Bäume sprießen. Wir haben die Schubert- und die Cave-Schraube zusammen noch etwas fester angezogen. Eine Zeile heißt „All beauty must die …“ Da kommt natürlich der Gedanke auf, wie lebensrettend es sein kann, als graue Maus zu leben, alles ist dadurch unaufgeregter, du hast nicht diese Hotspots von Glücklichsein und dann wieder diese krassen depressiven Schluchten.
Wieder: das Künstlerthema. Mahler!
Ja, dieser Geist der Überforderung und die absolute Hingabe. Der einen an Orte bringt, wo man eigentlich nichts verloren hat. Aber eigentlich doch, sonst würde man da ja nicht hinwollen. Aber es ist kalt da draußen und auch einsam, man wünscht sich eigentlich ab und zu mal eine gute Flasche Wein …
Sie sind ein Musikstöberer.
Wir hören viel Musik daheim. Im Lockdown haben wir uns das gesamte Miles-Davis-Œuvre reingezogen, immer wieder von vorne. Ich wurde immer glücklicher dabei. Kürzlich bin ich auf einen Australier gestoßen, C. W. Stoneking, ein Tasmanier, eigentlich eine Art Troubadour, ganz in Weiß, wie ein Schiffsjunge oben im Mastkorb, die Gitarre mit Blechkörper, das Mikrofon ein altes sowjetisches Modell, aber so berührend das Ganze, er spielt abgehangenen Blues.
Wie entdeckten Sie ihn?
Das ist nicht die Frage, Google und YouTube toppen jeden Kolumbus. Die Frage scheint zu sein, warum will man etwas entdecken. Nach meinem Buch über Motörhead hing ich im Tunnel und wusste nicht, wie ich wieder rauskomme.
Nach Monaten und Monaten Lärmuniversum.
Es brauchte einen seelischen Anschluss. Das war mit dem, was mir vertraut war, nicht möglich, außer Miles Davis. Und da tauchte dieser C. W. Stoneking auf, wie ein Matrose vom anderen Ende der Welt, er schuf die Brücke. Auch seelisch.
Die weiche Hand, nun doch … Sie haben mal Christian „Flake“ Lorenz von Rammstein zitiert: Ein böses System braucht böse Lieder.
Ja. Und damit kriegst du eine Nähe zu all dem Rest, den der Kapitalismus wegwirft. Aber wenn man genau hinhört und hinsieht, gerade auch bei Rammstein, dann kommen solche Wahrheiten doch auch ungeheuer humorvoll rüber.
Ist Theater für Sie auch Metal?
Im besten Sinne ja. Es ist der Spiegel dessen, wie man die Welt erlebt. Das ist überhaupt nicht lustig, aber genau da setzt sich der Witz rein, die Lakonie, die Weisheit, die drübersteht über all dem Schlamm, in dem du steckst und ruderst.
Sie sind erfolgreich, Sie stecken nicht im Schlamm und Sie rudern nicht.
So? Da wär ich mir nicht so sicher. Jeder ist auf seine Weise verwickelt und verwackelt.
Und ruft nach Gott.
Und lässt sich deshalb mit dem Deibel ein.
Wenn man Gott und Deibel aus der Kunst nimmt, bleibt wenig übrig.
Stimmt. Jeder hat seine Musik, die ihn mit Gott und Deibel ver bindet. Für mich trifft Heavy Metal zum Beispiel eben auch auf Gustav Mahler zu. Trauermarsch, 5. Sinfonie, Erster Satz. Was sind das für achtzehn Minuten! Dieses Getriebene, diese Heftigkeit der Verzweiflung.
In diesem Falle aber auch Humorlosigkeit.
Das stimmt allerdings. Doch die Energie, das Tempo, die sind da. Das ist Motörhead, das ist Speed. Und da spüre ich mich eben mehr, als wenn ich mich von irgendwas und irgendwem zukleistern lasse. Aber letztlich steht alles, was Ton und Stimme hat, gemeinsam im Raum. Jeder hat seinen musikalischen und sonstigen Mikrokosmos. Mir ist eben manches zu unschuldig. Ich lass mich lieber durchschütteln. Und Heavy Metal schüttelt dich ja wirklich, wenn du dich drauf einlässt, das ist wirklich nicht nett.
Da sind wir wieder bei den wunderbaren Möglichkeiten der Schauspielerei. Mal so, mal so!
Ich sag ja: Schön, wenn’s dir ins Fleisch geht. Der Karl Schmidt im Film Magical Mystery, das ist mit allen Fasern eine tranig bis trotzig isolierte Gegenwelt zu diesen Halligalli-Typen da draußen. Da merk ich beim Arbeiten, wie mich das wickelt, wie das reinwächst, das macht schon was mit dir. So, wie ich es beim Hausmeister in Hausen merkte: Die Dreharbeiten im permanenten Schummer und in der Nässe dieses gammligen Hauses lassen eine Kälte einziehen, die du nicht so einfach rauskriegst, auch wenn du später längst wieder im Hellen rumläufst.
Sie erwähnten den Sport. Was ist davon geblieben?
Hatten wir schon: der Sandsack.
Nur?
Na ja, und natürlich die Schläge dagegen (lacht).
Waren Sie ein braver Sonntags-Carsten? Sonntage mit Eltern können die Hölle sein.
Als Kind war ich natürlich ein glücklicher Sonntags-Carsten. Der Unfriede kam erst später. Sonntag! Da wurde die Familie rituell. Eltern und die drei Kinder quetschten sich zum Ausflug in den engen gelben Saporoshez, der Vater nannte das Auto Taiga-Wanze. Dieses Autofahren mit den Eltern am Wochenende, dieses mobile Gefängnis an den Rapsfeldern entlang, in den Ohren die westdeutsche Hitparade aus dem Radio, das setzte Keime für einen dringenden Aufbruch oder Ausbruch.
Ihre Eltern kommen aus sehr verschiedenen sozialen Welten.
Die Mutter war Enkelin zweier Mecklenburger Bauernfamilien, der Vater: bürgerlich, Apothekersohn aus dem Erzgebirge. Zwei Menschen, sie werden das, was du deine Eltern nennst. Mutter war das familiäre Nesthäkchen, die Familie lebte wie eine Dynastie im Dorf, fester Kern, fester Halt. Und dann kommt er, der Fremde, wie ein Italiener scheint er, der Sachse, und das, was so gar nicht zusammenzupassen scheint, kommt zusammen. Und dann gibt es diese lebenslange Arbeit am Zusammenhalt: Liebe, Gewöhnung, Konflikt, Kraft, Müdigkeit, Liebe, Fürsorge … Ein gottgleiches Rätsel: Wie überhaupt kommen Menschen zueinander? Wie finden sich Paare? Welche Zeit erhalten sie und welche Räume öffnen sich ihnen für wirkliche Gemeinsamkeit? Du verpasst an einem Morgen eine Straßenbahn, vielleicht verpasst du damit einen Schicksalspunkt. Mir fällt Manfred Krug ein, sein Lied Der Tag beginnt: Er sitzt am Morgen in der Straßenbahn neben einer jungen Frau, träumt vom Gespräch und von mehr, will sie ansprechen. „Doch als die Bahn anrollte / War alles, was ich sagen wollte, / Was ich mir vorgenommen / Unter die Räder gekommen. / Und sie sah mich nicht an. / Sie las den Roman.“
Gelesen habe ich in Ihrem Motörhead-Buch vom fünfjährigen Carsten, der im Kindergarten auf einen Stuhl steigt, angetan mit Fellweste und Sheriffstern, und den anderen Kindern „wild brabbelnd“ vom Geschehen draußen auf dem Hühnerhof berichtet.
(Lacht) Meine erste Bühne.
Stark finde ich, wie Sie Ihren jugendlichen Speed-Konsum beschreiben: „Als spätes DDR-Kind ist Speed mir erst untergekommen, als die wenigen, aber entscheidenden Plätze im Rauschministerium meines Hirns bereits an das Trio Nikotin, Koffein und Alkohol vergeben waren.“
Speed war nur kurz zu Besuch – war quasi chancenlos gegen die anderen drei Sirenen.
Was hörte man so, als DDR-Jugendlicher Ihres musikalisch etwas härteren Schlages?
AC/DC, Slayer, Ramones, Sex Pistols, Dead Kennedys, Die Toten Hosen. Aber auch DDR-Punk, Die Skeptiker, Feeling B die anderen.
Das Metal-Herz – wie gehemmt, wie vorsichtig musste es im Osten schlagen?
Wir galten als Freaks, wir wurden belächelt, wie wir da auf lächerlich wirkende Weise zu einer krass nervigen Musik tanzten. Wenn Dorfdisco war, brachten wir unsere Metallica-Kassetten mit, gaben sie dem DJ, und irgendwann kriegten wir dann unsere halbe Stunde: sieben, acht lustige Jungs allein auf der Tanzfläche.
Für Nichteingeweihte klingen die Namen dieser Bands wie Begriffe aus einem Atlas fernster Sternenwelten.
So geht es mir mit allem, was die Weiten des Funks, Souls und HipHops so in sich tragen – ferne Ozeane der Unterhaltung. Die Oma eines Freundes brachte manchmal, je nach Wunsch und Möglichkeit, das Hardrock-Magazin Metal Hammer von ihren Westbesuchen mit. Sie sagte am Kiosk immer: „Und noch einen Metallhammer bitte.“ Dort entdeckten wir all die langhaarigen und stacheligen Gitarrenritter.
Bis die Mauer weg war. Wie haben Sie den Abend des 9. November 1989 erlebt?
Versoffen und verpennt. Ich war im Karnevalsklub des Dorfes, bei der Generalprobe für den 11. 11. Die lief super. Das Bier danach auch. Der Abend wurde lang, keiner kam auf die Idee, Fernsehen zu gucken. Nur wenige Mitschüler waren am anderen Morgen zum Unterricht erschienen. Die anderen hatten sich schon mal in Richtung Westen aufgemacht. In der Bahn, mit der ich zur Schule fuhr, saßen zwei Trinker, stadtbekannt. Die unterhielten sich laut, dass sie heute nach Westberlin fahren würden. Na, dachte ich, noch so früh und schon so besoffen.
Zeitungen, Büros, Ämter und Schulen. Überall hing ein Foto von Honecker. Das war ein Bote der Ewigkeit, nicht wegzudenken.
Und plötzlich war der weg. Unglaublich. Und das ist lebenslang nur schwer zu toppen, wenn du als Siebzehnjähriger unerwartet in so offener Landschaft stehst. Dorf, Elternhaus, die ganze Ordnung um dich rum – da sagst du dir nur: Raus hier!, und die Welt antwortet einladend: Na, komm! Ost-Berlin, da wollte ich immer hin, und nun kam plötzlich sogar noch West-Berlin dazu.
Sie selber mussten 1989 noch zur Musterung.
Ich hatte zum Termin ein bisschen gesoffen. Ich fiel auf. Bei den Liegestützen sackte ich mit Absicht zusammen. Ich war schon beim ersten Anblick ein disziplinarischer Fall, also haben die mich fürs Frühjahr 1990 noch mal hinbestellt. Aber davor hat mich die Weltgeschichte gerettet.
Und jetzt kommt von Ihnen bestimmt der Satz: „Harald hatte zum Glück den Schlagbaum aufgemacht.“
Dem Harald bin ich sehr, sehr dankbar.
Oberstleutnant Harald Jäger, Grenzposten Bornholmer Straße – eine Ihrer erfolgreichsten Fernsehrollen. Wie war das, als dieser Harald Jäger bei den Vorbereitungen zum Film das erste Mal vor Ihnen stand?
Der stand nicht allein vor mir.
„Bornholmer Straße“
Wie? Wer denn noch?
Mein Vater und mein Onkel zum Beispiel. Die sah ich immer vor mir, als ich in Bornholmer Straße spielte. Männer aus dieser Generation, die ich von daheim kannte. Harald erzählte, ich hörte ihm zu und war – schon von seiner sächsischen Stimmlage her – voll drin im Sound der DDR, meiner DDR, Diese Leute kannte ich, Idealisten und Soldaten der Idee. An die Grenze in Berlin hinkommandiert, weil sie Berlinfremde waren. Sachsen und Thüringer.
Ortsfremde, abgestellt, um das „Eigene“ zu schützen.
Es hat nach dem Mauerfall …
Das klingt immer ein bisschen wie Schneefall, also wie was Sanftes. Stimmt denn das?
Sie wollen darauf hinaus, dass die Mauer nicht von allein zusammenfiel, sondern gestürmt wurde. Ja, Sturm – das wird den Menschen und ihrem Mut gerechter.
Gemeint sind die Bewegungen zuvor, auf den Straßen.
Da kommen wir zu dem, was ich sagen wollte. Es hat nach dem Mauerfall unablässig Debatten gegeben, wie das Wunder nur geschehen konnte, wieso es keine Gewalt gab, wieso diese – außer der nordkoreanischen – entzündbarste Grenze der Welt sich derart friedlich öffnete. Politologen, Militärexperten, sonstige Klugköppe analysieren sich noch immer schwitzend und grübelnd bis in ihre verdiente Pension hinein. Dabei gibt es einen einzigen Satz, der alles erklärt.
Die Spannung steigt. Warum fiel die Mauer?
Weil Harald die Grenze aufgemacht hat.
Weil Harald die Grenze aufgemacht hat. Klingt sehr banal.
Es geht nicht banaler, es geht aber auch nicht größer. Das Große ist ganz banal: Ein einzelner Mensch sagt: Jetzt! Weltgeschichte kennt viele gewaltige Reden. Aber sie kennt auch gewaltige zwei Worte: „Wir fluten!“ Haralds Worte.
Er hat diese Worte gesagt, und Sie spielen es, als begriffe er’s gar nicht so richtig.
Er sagt es unter Schmerzen! Etwas zu tun und es in dem Moment auch noch zu begreifen, das ist in bestimmten Situationen zu viel verlangt. Harald hatte einen Impuls – und Punkt. Aus purer Verzweiflung heraus. Ihm krümmte sich der Magen zusammen. Er konnte es selber nicht erklären, und es hätte keinen Sinn gehabt, ihn zu quälen. Frag den Tausendfüßler, wie er das macht, dass er gehen kann – sofort würde er stolpern und sich die Füße verknoten.
Wüssten die Vögel was von Ornithologie, könnten sie nicht mehr singen.
Harald sagte uns: „Ich sah die vielen Leute an der Grenze, und da dachte ich: Hoch den Schlagbaum!“ So’n Satz verbietet mir als Schauspieler jedes Pathos, jedes dramatische „Ich tu’s!“ Zwei Worte, zwölf Ausrufezeichen? Nee, unmöglich. Bloß keine Großaufnahme! Eigentlich weiß ich noch immer nicht, wie wir das filmisch gelöst haben. Es hat irgendwie funktioniert. Ich denke noch heute manchmal an Harald: Es wird, wenn man die Zeitgeschichte verfolgt, in einem fort theoretisiert, konzipiert, strategisch und taktisch überlegt, aber dann folgt ein einziger Mensch seinem Empfinden, und Welten stürzen um.
In der Szene, da Jäger den Befehl zur Öffnung des Schlagbaums gibt, sieht man nur Ihren Rücken.
Das Gesicht kann man sich doch ausmalen. Sollte ich die Augen weit aufreißen, sollte der Mund offen stehen? Nee, dann lieber der Rücken. Der steht in dem Moment für die gebeugte, gequälte Seele, sozusagen.
Herbst, Winter ’89, das waren Zeiten, da hing einem schnell die Zunge aus dem Hals.
Wie ein Schlitten, der von einem Viertausender hoch oben ins Tal gejagt wird auf unbekannter Piste, und nur die Mutigen greifen ein in die wilde Fahrt – alle anderen schauen staunend, bangend, was passiert, und die auf dem Schlitten versuchen nur, sich festzuhalten und nicht in die Tiefe zu stürzen.
Und Ihre Eltern?
Am 9. November? Sie saßen sprachlos vorm Fernseher. Tief getroffen, ungläubig. Is’ ja auch irre, ich hab’s angedeutet: Du wachst auf und dein Staat ist weg, sang- und klanglos, die Geschichte aber zuckt nur mit den Schultern: Was soll’s, es ist, wie es ist. Das musst du erst mal verkraften.
Man hat doch nie den notwendigen Bildungs- und Gefühlsstand für so eine harte Wende.
Du lebst inmitten der Dinge, wie sollst du gleichzeitig was wissen über das, was du lebst –alles verwickelt, verstrickt und versunken. Du drehst dich doch nicht um wie ein Archivar und fängst an, zu ordnen – wo alles rundum von neuen, aufregenden Zielen posaunt.
Irgendwann sind auch Sie das erste Mal in den Westen gegangen?
Knapp eine Woche nach dem Mauerfall, übrigens in der Bornholmer Straße, wo unser Film spielt. Ehrlich gesagt, war ich enttäuscht. Nichts Knallbuntes, nichts Glitzerndes.
Wedding.
Wedding, genau, aber das war doch nicht der erzählte Westen. Wo waren denn die Leuchtreklamen, überhaupt der Hauch von Las Vegas oder so. Wir sind dann zum Ku’damm, und da sah ich natürlich den Unterschied zu Feldberg-Carwitz. Mit meinem Begrüßungsgeld bin ich zu einer Losbude.
Und schon war’s weg.
Im Gegenteil. Ich hab gewonnen, hatte plötzlich doppelt so viel Kohle wie vorher und konnte mich einkleiden: echte Jeans, nicht mehr diese Ost-Dinger von VEB Jugendmode.
Es gibt in Ihrem Buch einen Satz, der mit klarem Willen nicht zum Punkt findet, gleichsam end-, also atemlos fängt er jene Stimmung ein, in der sich der Song Motorhead in Ihr Mecklenburger Gemüt wühlte. Ich muss diesen Satz jetzt vorlesen.
Halt ich aus.
„Umso beeindruckender ist für mich der immer wieder berichtete Report, dass seit den Tagen, in denen dieser Song als Ausdruck eines wilden Lebenswandels im Kopf des obersten ‚Motorhead‘ Ian Fraser ‚Lemmy‘ Kilmister wie ein nebenbei erzählter Witz für seine damalige Space-Rock-Band Hawkwind aufgeploppt war, selbiger für den Rest seiner Lebenszeit jenes Speed täglich konsumierte, bis ins hohe Rentenalter – was bei ihm als solches nicht galt, da er nicht in Rente ging, bevor er für immer ging –, er es aber, wie vertraute ehemalige Mitarbeiter berichten, immer nur gegessen hat, nicht geschnieft oder sonst was, nein: immer nur gegessen, in all den Zeiten seiner wilden Lebensreise, während er den Song Motorhead mit seiner Band Motörhead immer wieder zum Besten und zum Bersten gab und damit uns, der wild gewordenen Rasselbande von Anhängern, uns bleichende, schief grinsende Kasperköpfinnen und Kasperköpfe dazu brachte, wie verstrahlte Bienen und Wespen, Hummeln und Hornissen um unsere eigene Achse zu fliegen, immer schneller werdend, bis sich unsere Köpfe zu riesigen, sanft schimmernden Kürbislampions aufblähten, die wie an Halloween von innen zart leuchteten und nach außen grimmig grinsten – ein kollektiver doppelter Speed-Rausch also, angetrieben von Herrn Kilmister und seinen Motörhead-Genossen, der genau in dem Moment, in welchem unsere Kürbis-Kopf-Lampions zu fliegen begannen, ernüchternd endete, da diese Band Motörhead diesen Hawkwind-Song Motorhead schlicht und schnöde ausklingen ließ und wir nun, allein gelassen im Speed-Strahl, wie ein schwarzes Loch implodierten und von da an süchtig darauf warteten, wieder aufs Neue in die Mangel genommen zu werden, damit unsere nun wirklich sehr laschen und ausgetrockneten und hohlwangigen Gesichter im orangefarbenen Himmel des ewigen Sonnenunterganges an der fernen Westküste Kaliforniens, der Wahlheimat dieses Mister Kilmister, wieder erleuchtet würden und erneu zu fliegen begännen …“
(Lacht.)
Was denken Sie, wenn man zu Ihnen sagt: Ah, ein Ossi?
Mecklenburger bin ich, alles andere ist Medien-Kategorie.
Mecklenburg ist kaum eine Gegend der Elementarkräfte. Kein erloschener Vulkan, kein hoher Gipfel. Hier begegnest du einer Landschaft, die Verständnis hat für die innere Stimme des Menschen, die dich begleitet, die mit sicheren Händen die Abende in den Morgen hinüberführt.
Unterschreib ich. Dort weiß jeder viel von den Schönheiten des Gemäßigten, ein jeder weiß, dass der Raps seine Zeit braucht zum Wachsen.
Ein Land ohne dämonische Spannung.
Oder gerade umgekehrt – stille Wasser sind ja bekanntlich nicht flach. Ich stelle mir das so kindlich vor: Früher war da der Fürst, und da waren die Bauern. Reiche Bauern, arme Bauern. Es gab auf den Feldern und im Stall nicht diesen guten Ton der Bürgerstube, es störte kein eigenes, also auch kein verwirrtes Bewusstsein jenseits von Gott und Herzog. Bewusstsein brauchte der Bauer für das Wesentliche: Man las das Wetter, man wusste, was die Tiere brauchen, die Befehle kamen von oben und Punkt. Gott musste nur zur rechten Zeit Regenstrahl oder Sonnenstrahl sein, und schon hatte er gewonnen.
Ihr Leben auf dem Lande. Gehörte die Kirche dazu?
In unserer Familie nicht. Erst als der Staat bebte und bröselte, kriegte der Sonntag plötzlich einen neuen rituellen Aspekt: Unser Vater ging mit uns doch tatsächlich – in die Kirche. Wir Kinder guckten uns überrascht an: He, was war das denn! Na ja, wir sind mitgegangen. Unbekannte Lieder, unbekanntes Aufstehen und Wiederhinsetzen. Aha, das also war Gottesdienst. Wir grübelten: Was war nur in unseren Vater gefahren.
Kam da etwas Verdrängtes bei ihm zum Vorschein?
Ja, ist zu vermuten. Suche nach Halt. Erinnerung an etwas Beiseitegeschobenes. Ein Besinnungsversuch. Als er schon gestorben war, kam raus, er, der Genosse, war nie ausgetreten aus der Kirche. Vater war einer der Ersten in der jungen DDR, die der SED beigetreten sind.
Es erübrigt sich die Frage, ob Sie religiös erzogen wurden.
Wurde ich nicht.
Aber heißt das, in Ihrem Denken und Fühlen sei nichts Religiöses?
Ist doch aufregend, sich zu etwas in Beziehung zu setzen, das nicht zu erfassen, nicht zu begreifen ist.
Wie emanzipiert sich der Mensch von Gott?
Herr Schütt, das sind Fragen, die studiert der eine oder die andere lebenslang. Ist Gott Weg? Ist Gott Lösung? Und dann auch Erlösung? Ist Gott man selbst? Oder ist Gott nur eine große politische Story, um im Chaos Struktur zu schaffen? Mein Eindruck: Gott ist alles zusammen, und weil das aber zu abstrakt daherkommt, musste die machthabende patriarchalische Welt eine Papa-Figur erfinden, die uns sagt, wo es langgeht. Und wie jeder Teenager sich in gewisser Weise vom Papa verabschiedet, emanzipiert, so kann man sich also auch vom Papa Gott lösen – während man sich von dem Ganzen als solches nicht emanzipieren kann. Warum? Da das Ganze als solches auch ich bin! Und das käme ja dann eher einer Spaltung gleich als einer Lösung. Also kann die Emanzipation von Gott immer nur ein Wandel in Gott sein, und das ist dann schon die Aura der Schauspielerei – die Verwandlerei. Also ist Gott ein einziges großes Theater (lacht). Na ja – wie gesagt, manche studieren über das Leben hinaus zu dieser Frage.
Herr Hübner, was ist das: ein Dorf?
Kirche unbedingt. Dann Rathaus, Bäcker, Schuster, Kaufhalle, zwei Fleischer, Schule und Kindergarten.
Man kann sagen: Andere fühlten sich in der DDR umzingelt von einer Mauer, einer Grenze. Sie waren in Ihrer Kindheit und Jugend umzingelt von Wasser, Wald und Wiesen. Ein Paradies.
Unser soziales Netzwerk hieß: draußen. Nahezu ganztägig, bis zum Sonnenuntergang. Das Kesselmoor, die Stille, die Seen, etwa der Zansen oder der Breite Luzin. Das Versteckspielen im Hühnerhof oder in einer ausgehöhlten Eiche. Kletterübungen auf sämtlichen Bäumen. Wir wirbelten den Staub auf den Feldern auf, bewarfen uns mit Kartoffeln, mitunter auch mit Steinen, die wir für Kartoffeln hielten. Oder auch mal in voller Absicht mit ihnen verwechselten. In den Ferien schaufelte ich als Junge Korn oder habe in der Melioration gearbeitet, hab geholfen bei der Säuberung der Kanäle vom Schlamm und von Bisamratten. Bis zur Hüfte stand man im Wasser. So sparte ich mir den Kassettenrekorder zusammen, um Heavy Metal zu hören.
Bisamratten?
Die bevölkerten den Grund der Kanäle. Eine sprang mich an. Ich stand starr. Ein Bauer riss sie mir mit präzisem Schaufelruck von der Latzhose, sie flog weit aufs Feld. Regelmäßig wurde im Ort geschlachtet, Schwein oder Lamm. Ich habe immer gesagt, das ist hart, wenn du als Kind siehst, wie ein Tier zum Gegenstand wird.
Im Buch Motörhead schreiben Sie: „Leute ohne Deibelsblut kommen fixer unters Rad der Zeiten, un sie haben keen Humor.“ Das lassen Sie den Teufel sagen, mit dem Sie im mecklenburgischen Hullerbusch ins Gespräch kommen, schnell und reibungslos, als seien Sie verwandte Seelen.
Sind wir. Verwandte Seelen.
Was ist das: Deibelsblut?
Spielerisch sein! Das sein, worüber wir reden. Über Stränge schlagen. Sich nicht immer verstellen vor sich selber. Mal ausreizen die Dinge, auch wenn Warnschilder stehen. Aber klar: Spielerisch sein, das ist bei uns in Mecklenburg keine automatische Beigabe in der Wiege.
Wenige Deibel in der Familie.
Einer meiner Großväter hatte dieses Deibelsblut, die Eltern auf ihre Weise auch.
Gab es überhaupt stärkere musische Wurzeln in der Familie?
Ein Großvater war Apotheker, der trug Stöckchen, wollte hinein ins größtmögliche Bürgertum, der andere Großvater war Bauer, ein Kommunist. Musische Wurzeln … na ja, eine meiner Großmütter war Tänzerin, sie arbeitete sogar mit Gret Palucca zusammen. Und mein Vater war in seinem Herzen, wie man so schön sagt, eine „Rampensau“.
Also eigentlich auch: Deibelsblut.
Er gründete im Dorf den Karnevalsverein, hielt sehr gern Büttenreden – ist ja eigentlich ein Unding: Fasching in Mecklenburg! Er hatte große Sehnsucht, sich zu zeigen, indem er andere unterhielt. Es ist immer die Frage, ob das Leben dir bei diesem Wunsch entgegengeht oder ob es sich dir entgegenstellt. Wie stark bist du oder wie ohnmächtig, wenn die Sehnsüchte kommen?
DT-Schauspieler Christian Grashof erzählte: „Mein Vater war ein Filou, ein Hochstapler. Er war Kraftfahrer bei der Stadt, entsorgte die Fäkalien. Sonntags kämmte er sich die Haare mit Zuckerwasser, eine stundenlange Arbeit am Mittelscheitel, er steckte sich zwei Zigarren oder drei, vier Zigaretten ins Täschchen am Revers – es war der alte Anzug seines Vaters – und lachte. Rauchend ging er durch Löbaus Hauptstraße, und gern fragte er möglichst laut in den Sonntag hinein: ‚Parlez-vous français?‘ Mehr französisch konnte er nicht. ‚Guten Tag, gnädige Frau!‘ – solcherart Grüße verteilte der Fäkalienfahrer im Vorübergehen.“
Schöne, traurige Geschichte. Welche Rollen erfindest du dir? In welchen Spielplan klinkst du dich ein?
Warum ist die Geschichte traurig?
Weil dies die am weitesten verbreitete, die undankbarste Hauptrolle in der Welt ist: der unfreiwillige Kleindarsteller.
Kleindarsteller sind Sinnbildner. Sie erzählen das Theater auf besondere Weise. Das Kleindarstellerschicksal, würde Thomas Bernhard sagen …, hatte nicht auch jeder von ihnen an das unbestreitbare Talent geglaubt, daran, dass er gewiss bald zum Höhenflug ansetzen würde? Vielleicht besitzt ein Mensch dieses Talent wirklich, aber in einem bestimmten Moment seines Lebens, da sich für ihn viel hätte fügen können und müssen – just da hat ihn ein entscheidender Anruf nicht erreicht; ausgerechnet da hat ihn ein wichtiger Mensch nicht gesehen; und unglücklicherweise da ist ihm eine Strähne Glück aus der Stirn gefegt worden. Wer ins Theater geht undHamlet sieht, der höre genau hin, wenn zu Beginn, vor dem Schloss von Helsingör, der Wachsoldat Francisco in die Mitternacht hinein bibbert: „’s ist bitter kalt / Und mir ist schlimm zumut!“
Mehr sagt er nicht.
Aber vergessen wir mal Hamlet und denken fünf Akte lang nur an diesen einen dänischen Soldaten.
Dem schlimm zumute ist, und keinen rührt’s. Ja, wie vielen geht’s so.
Zweitbesetzung zu sein und darüber alt zu werden. Ziehst in Schlachten, die nicht die deinen sind. Bist Rand und darfst nie Vordergrund sein. Wenn die Textbücher verteilt werden, bekommst du nur ein mäßig beschriebenes Blatt. Musst auf der großen Existenzbühne stumm hinten stehen, obwohl auch du am liebsten an die Rampe rennen würdest. Musst aber gepflockt stehen bleiben wie so’n Baum. Das ist nicht wirklich lustig. So wird’s im Leben zur gefährlichen Grundregel: Spiel dich nach vorn! Rede dich nach vorn! Drängel dich nach vorn!
Wie reagierte Ihr Vater aufs Deibelsblut in Carsten?
So etwa drei Wochen vor seinem Tod kam raus: Er fand gut, was ich so trieb. Aber er war bis dahin still geblieben, keine Gefühlsübertreibung, kein Lob. In der „Deutschen Reihe“ auf der Berlinale lief Autopiloten, ein Film von Bastian Günther, ich spielte einen Vertreter für Badewannenlifte, ich zeigte meinem Vater den Katalog, er knurrte leise, und es sollte wohl ein lauter Jubelgesang sein: „Junge, ich bin stolz auf dich.“ Ich denke, er hätte so was am liebsten selber gelebt: ein Leben, in dem man seine Fantasie nicht unterdrücken muss; ein Leben unbeengt, undienerisch. Es ist ihm nicht gelungen, so sah er wohl in einer Mischung aus still getragenem Neid und ebenso still gefühltem Stolz auf seinen Sohn.
Und Ihre Mutter?
Sie nahm mich lange nicht ernst. „Mach was Kluges!“, lautete ihre Mahnung angesichts meines Komödiantentums. Einmal sahen meine Eltern Antigone in Frankfurt, wir spielten vor ausverkauftem Haus, hinterher bekannten beide, so schlagermäßig: „Wir haben alle geklatscht.“ Da klang Erstaunen, ja Ungläubigkeit mit.
Schauspieler und ihre Eltern als Publikum! Der erwähnte Christian Grashof begann seine Laufbahn am Theater in Karl-Marx-Stadt. Die Eltern erleben ihn in Kabale und Liebe. Die Mutter seufzte hinterher sehr besorgt: „Junge, du hast ja mächtig geschwitzt! Du, sag doch deinem Direktor, das nächste Mal soll das ein anderer machen, denn du schaffst das nicht, du machst dich ja fertig. Ich seh das doch!“ Oder die Eltern von Friedo Solter, ebenfalls DT, sie gehen extra ins Theater, um endlich mal ihren Sohn auf der Bühne zu sehen. Im dritten Akt irgendeiner Aufführung fragt die Mutter flüsternd den Vater: „Wann kommt denn endlich der Friedo?“ Die Antwort, zischend: „Er spielt doch schon die ganze Zeit!“ Die Mutter erwidert: „Nicht wahr, ich habe auch schon die ganze Zeit gedacht, das könnte er sein.“ – Noch mal zum Teufel in Ihrem Buch: Er ist „knochig und knorrig und gemütlich“. Der Teufel ist sechs Meter groß, hat lange rotschwarze Rastazöpfe und Krallen. Bei mir um die Ecke, auf dem Lande, gibt’s den Teufelsstein. Eine hilfreiche Adresse. Der Teufel ist der reizvollste Reiseführer auf Erden, er kommt aus uns und kennt unsere Untiefen. Die sind die Hölle. Du weißt nie genau, wohin der dich führt. Für mich war er im Buch der Trick, um Lemmy wieder lebendig zu machen.
Für ein fiktives Interview. Aber beim Festival im norddeutschen Wacken hatten Sie Lemmy Kilmister schon mal live erlebt.
Krass! Lemmy, der Gandalf des Rock ‘n’ Roll! Es hieß, er sitze in seiner Garderobe und lese Krieg und Frieden. Tolstoi und dann raus und Ace of Spades – trocken und groß!
Ace of Spades: „Wenn du gerne spielst, ich sage dir, dann bin ich dein Mann. Mal gewinnt man, mal verliert man, mir ist das alles gleich. Das Vergnügen ist das Spielen, ganz gleich, was du sagst. Ich bin nicht so gierig wie du, die einzige Karte die ich brauche ist: das Pik-As. Das Pik-As.“
Genau. Nach einer halben Stunde kam in Wacken leider der ehrliche, wahrhaftige, harte, traurige Schluss des Konzerts. Abbruch. Lemmy war sehr krank, und er verabschiedete sich von den Fans: „Sorry, guys, I have to stop now, before I’m dying.“
Sie arbeiten derzeit mit an einem mehrteiligen TV-Filmprojekt The Legend of Wacken. Sie sind Hauptdarsteller und arbeiteten am Drehbuch mit.
Wacken ist inzwischen eines der größten Heavy-Metal-Festivals der Welt und eines der Open-Air-Ereignisse Deutschlands. Mehrere Autoren schrieben für diesen Film Geschichten, wahre und erfundene. Dieses Festival in Schleswig-Holstein, das es seit 1990 gibt, war der Versuch einer Alternative auf Zeit – zum gesellschaftlichen Beton der Endachtziger.
Was war diese Zeit?
Für die Westdeutschen? CDU, Helmut Kohl, Wiedervereinigung. Bausparvertrag und wohldosierte mittelständische Sinnlichkeit – die bestand aus Karneval und Betriebsfeiern als wahrer Ausdruck von Heimat. Wir erzählen im Film von Jugendlichen, die lieber UK Subs, AC/DC, Accept oder Manowar hörten, als in die CDU einzutreten.
Wie berührt Sie dieser aufgeladene Begriff Heimat?
Die Heimat ist zu Hause am schönsten (lacht). Sie hat was mit Geborgenheit zu tun, das suche und finde ich nicht in politischen Konstellationen. Die nerven und belästigen eher. Weil das Ganze überall verbunden ist mit Kampfbegriffen und diesem elenden Rechthabenwollen auf allen Seiten, und eben auch mit reaktionären Denkweisen bis hin zur sehr brutalen Rechtsradikalität.
Ein Satz von Ihnen: „Man muss zur Kenntnis nehmen, dass es Menschen gibt, die sich völkisch verankern.“
Was die einen offen macht, macht anderen Angst. Lebensentwürfe stehen immer auch im Clinch miteinander. Wichtig ist, dass das nicht gewalttätig geschieht. Die Realität sieht leider anders aus.
Hat die Wende die Neonazis rübergespült?
Vom Westen in den Osten? Nee, die waren schon lange da. Die standen in Neustrelitz vor den Discos, Mitte der achtziger Jahre, und haben Reinheitsgebot gespielt.
Sie haben’s am eigenen Leib erfahren?
In Neustrelitz, da bin ich ab 1989 zur Schule gegangen. In einem Jugendclub bin ich sofort aufgefallen, die ungescheitelten langen Haare, die Jeansjacke, da wurde es schon zum Abenteuer, ein Bier zu bestellen. Das war Spießrutenlauf. Die Neonazis haben ohne Vorwarnung draufgedroschen. Du merktest sofort: Hier wird Gelände besetzt, Vorsicht, hier wird gnadenlos aussortiert. Gnadenlos hieß: mit Gewalt.
Neustrelitz. Das war auch Ihr Theater-Erweckungserlebnis.
Wir hingen nur rum, ich war 11. Klasse. Die Erfolgsinszenierung damals am Theater war Romeo und Julia, plötzlich kamen diese Schauspieler in unser Blickfeld, sie trugen venezianische Masken, ein ganz anderer, fremder Sound streifte uns. Diese Leute hatten lange Mäntel an, sie lachten und tranken und freuten sich über ihre Ideen: nicht lange überlegen – machen! Das gefiel uns. Diese Leute schmissen mit Büchern nur so um sich, und da flog eben auch mal ein Stefan Heym vorbei und so ’ne Sachen. Wir saßen in der Kantine von denen und bemalten Kassenzettel, die dort in Massen rumlagen, mit Bleistift. Spontane Skizzen, Comic-Szenen. Der Wirt sagte: Macht doch mal ’ne Ausstellung! Die Kantinenwände wurden umgehend zur schönsten Galerie.
Wie viele Bücher gab es daheim?
Lesen war nicht so angesagt. Mein Vater war ein Freund der Unterhaltungskunst, er liebte Schlager, Musicals, Operetten. Die leichte Muse half wahrscheinlich vielen Leuten, die Düsternis des erlebten Krieges aus den Seelen zu vertreiben. Die Therapien dieser Generation hießen Schweigen oder überbordende Aufbau-Euphorie. Auf jeden Fall galt für Menschen nach jener furchtbarsten Katastrophe die Parole, die man immer auch im zitternden Vorfeld schlimmer Zeiten hört: Hoppla, wir leben noch!
Die Drohung und die Folgen irgendeines Overkills.
Sehen Sie! Wie Motörhead. Genau.
Vergleichen Sie das wirklich miteinander?
Der eine mag den Kitsch, der andere Kilmister. Der steht als Monolith wie der Operettenbuffo.
Beides ist auf seine Weise Totalopposition gegen die Wirklichkeit?
Ja. Sie fragten nach Büchern. Nach dem Mauerfall, es war Abiturzeit, fiel mir ein Literaturkanon in die Hände, aufgestellt von Marcel Reich-Ranicki, es war eine Buchreihe, darunter auch Thomas Mann, Klaus Mann – der Vater funktionierte bei mir damals überhaupt nicht, der Sohn sehr wohl, Der Wendepunkt brodelte. Das war wie eine Brandung. Vor allem aber gab es in diesem Kanon einen Autor, dessen Namen ich noch nie gehört hatte: Uwe Johnson, Jahrestage. Das las ich, das ließ mich nicht mehr los, später dann auch Mutmaßungen über Jakob, Das dritte Buch über Achim. Ich traf auf Mecklenburg, ich traf auf dieses Spröde, das war mir so nah, aber es war bei Johnson auf eine Weise Literatur geworden, die ich zugleich als etwas total Fremdes wahrnahm. Ich glaube, ich las das erste Mal etwas, bei dem ich fühlte: Wenn du liest, geht es nicht darum, was zu greifen, sondern ergriffen zu werden, weiß der Deibel, wovon. Das also war ich, ein Abiturient in Wendezeiten: Ich las Uwe Johnson und Stefan Heym. Was noch? Von Heinrich Böll Der Engel schwieg, von Hermann Hesse Der Steppenwolf.
Sie trugen lange Haare damals.
Und ob! Bettelhippie-Look. In Prag schenkte mir ein Mann Rosen, er hatte mich von hinten gesehen und dachte, ich sei eine Frau. Also: lange Haare und Kopftücher. Oder Cowboyhut. Den hatte ich mir nach der Maueröffnung auf meiner ersten Türkeireise gekauft.
Wunderbar, wenn man sich angstfrei bewegen kann.
Da erst fängt doch nichtentfremdetes Leben an. Wenn du mit allem, was dich so unvollkommen macht, ungehemmt umgehen kannst, ohne Scheu. Herrlich, wenn man sich selber nicht mehr peinlich ist. Einmal, September war’s, ging ich mit meinem langen Mantel durch Feldberg zum Handballtraining, der Sohn des Gärtners sah mich und sagte: Du, Charly, Fasching ist im Februar. Mantel und Hut – das war meine Ansage an die Welt, meine Absage an sie.
Fred Düren, Legende am DT, fauchte als junger Schauspieler mit wehendem roten Kunstledermantel durch Ludwigslust.
Na also! Stil hat Tradition (lacht) … Nee, nee, Hübner und Düren, das ist: Staubkorn gegen Universum.
In Werner Herzogs Film Herz aus Glas wollen vier Männer ans Ende der Welt, um zu sehen, ob dort wirklich ein Abgrund ist: „Ja, und dann brechen sie auf, pathetisch und sinnlos, in einem viel zu kleinen Boot.“
Das kleine Boot war bei mir das besagte Landestheater in Neustrelitz. Dort lauerte der Zufall auf mich. Ich saß, zufällig, in der Generalprobe von Nikolai Erdmans Stück Der Selbstmörder, Regie: Thomas Bischoff, und ich war überwältigt. Was war das denn? Marc Hetterle, Sylvana Krappatsch, Henry Meyer – tolle Schauspieler. Total schräg, was die machten. Das war mein erstes bewusstes Theatererlebnis. Kumpels hatten mir gesagt, komm doch mal her, mach mit, das ist eine coole Truppe. Sozusagen die Laientheater- und Jugendklub-Phase. Nach dem Abitur bin ich dann Regieassistent dort gewesen – und spielte selber mit. Aber völlig irrwitzig war für mich die Vorstellung, so ein Bühnendasein könnte ein Beruf sein.
Ein Freund von Ihnen rezitierte eines Tages einen Monolog aus Hamlet – im Amphitheater von Ephesos. Das muss malerisch gewesen sein.
Malerisch? Das hat mich schwer beeindruckt. Mein Freund wollte Schauspieler werden. Er schwärmte ununterbrochen vom Theater. Und dann haute er diesen Shakespeare raus – he, dachte ich, was ist das denn! Das Amphitheater muss an die 25 000 Plätze gehabt haben. Er rezitierte laut, das war eine Art Test: Wie ist die Akustik auf so einem Platz der klassischen Weltkultur? Rundum Touristen, die haben applaudiert. Ich staunte, ich war begeistert.
1990, Ephesos. Auf in den Westen!
Wir sind damals, im Sommer, in die Türkei gefahren. Über Prag, wo das berühmte Bierlokal U Fleku zum Transit-Treffpunt reisender Ostler geworden war. Die kamen von überallher. Knödel, Bier und Schweinebraten, so wurde Freiheit buchstabiert. Schwejks legendäre Kneipe war unsere eigentliche Grenzstation zwischen Ost und West. Da trafen sich die Cliquen. Die Schleusenkammer sozusagen. Und: zwei Tage Tankstation. Dann ging’s weiter. Balkan, Türkei, überallhin Richtung Süden und Südosten. Ich hörte also meinen Kumpel mit seinem Hamlet-Urschrei und spürte so was wie ein Erweckungssignal. Das wurde immer lauter.
Coole Truppe Neustrelitz – was hieß das im Zusammenhang mit Thomas Bischoff?
Den Kern der Sache überblickte ich damals natürlich nicht. Nördlich von Berlin gelegene Theater waren eine Zeit lang Sammelpunkte junger Theaterleute, sie suchten nach ihrem Studium einen gemeinsamen Raum für ein bisschen Extravaganz und ungestörte Gruppendynamik. Anklam, Parchim, Greifswald. Dafür stehen bekannte Namen von Regisseuren: Adolf Dresen, Jürgen Gosch, Leander Haußmann, Frank Castorf. Es gab so eine ansteckende Lust an einer besonderen Atmosphäre zwischen den Leuten.
Castorf hat später gesagt: „Anklam war meine Route 66. Genau genommen ist die ganze Welt Anklam.“
So war das auch in Neustrelitz. Stark, wie Bischoff das Theater, na ja, das kann man so sagen: entnaturalisierte. Alles scheinbar Natürliche, Profane war ausgetrieben, Betonungen wurden gegen den Strich gesprochen. Also: weg von der sogenannten Normalität!
Theater ist doch aber letztlich auch – Normalität. Es besteht ebenfalls aus Verabredungen.
Stimmt, und Verabredungen bremsen immer auch. Aber wenn schon Verabredungen, dann lieber im Theater. Da lache ich mehr. Wenn ich das Unmögliche darstellen kann, wird das Leben erträglicher.
Welches Leben?
Ein Leben, das einem das Erlebnis offener Momente verweigert. Arbeiten, ohne dass es Folgen hat? Das darf man heutzutage gar nicht laut sagen: dass einem die Effizienz kein Kriterium ist. Das klingt äußerst fahrlässig in dieser Zeit, in der dauernd Rechnungen aufgemacht werden.
Das Theater lebt davon, dass es Eintrittskarten verkauft.
Aber im Grunde habe ich als Schauspieler nichts zu verkaufen, sondern nur was zu verschenken. Hat Jürgen Holtz so schön gesagt. Wir schenken den Leuten Ideen, wie man die Welt auch betrachten kann, und wir schenken Atmosphären. Bevor das Soziale uns prägt, was immer so hervorgehoben wird, geschehen Schwingungen zwischen den Menschen. Die berühren und formen uns genauso.
Wenn man ins Theater geht und nach der Vorstellung wieder rauskommt: Man hat nichts davon.
Aber man hat sich selber.
Thomas Bischoff, um den es leider still geworden ist, war ein Regisseur, hinter dessen Namen man Ausrufezeichen setzte.
Mir gefielen diese ausgestellten Fehler beim Sprechen von Theatertexten. Es war eine ganz eigene Form, sich den Kunstkanon anzueignen. Selbstbewusst dilettantisch. Da fühlte ich mich wohl.
Sie betonten Mecklenburg. Ost und West, ist das für Sie auch immer noch: Ost gegen West?
Das „Ost“ auf dem Dach der Volksbühne war für mich ein wichtiges Wahrzeichen Berlins. Schmutz, Wodka, Sturköpfigkeit, produktivste Faulheit, der Blitz in der Nacht, der Sand im Getriebe, der Fehler im System. Aber mit der Ideologisierung von Ost und West und den Unterschieden kann ich nichts anfangen. Auf wessen Seite bist du? Sag mir, wo du stehst! Blankes Elend, solche Fragen! Das hatte sich ja nach dem Guillaume-Skandal in Bonn noch mal verstärkt: Bekenn Farbe! Sei wachsam! Das ist die Mitgift einer Generation, in der Revolution und Gegenrevolution, Gut und Böse, Wahr und Falsch, Freund und Feind, Sieg und Niederlage zwei mit Gewalt besetzte Alternativen waren.
Die alles wollten und ins Nichts führten.
Und die in ihrer Absolutheit für Jüngere beizeiten abgewirtschaftet haben. Für mich auch. Ost-West, das ist Geopolitik. Ich bin kein Geopolitiker, in diese Richtung will ich also auch gegenwärtig nicht dauernd posaunen, ich sei aus dem Osten.
Aber!
Aber – und noch mal: Ich bin Mecklenburger, das macht die sonst so abstrakte Debatte sehr konkret.
Wie halten sich bei Ihnen Fern- und Heimweh die Waage?
Bin ich daheim, will ich raus, bin ich draußen, will ich zurück.
„Es gibt noch eine Welt woanders.“ Brechts Coriolan. Und in dem Zusammenhang: Die Zug-Metapher hat es Ihnen angetan. Sie zieht sich durch Ihr Buch. „Die Zeit rast und das kleine Licht des Lebens juckelt wie ein Vorortzug unaufhaltbar dahin.“
Bimmelbahn „Leben“ …
Wir sind auf Gleise gesetzt, die freie Wildbahn gibt’s nicht wirklich.
Das macht die Träume von Freiheit so spannend. So spannend, aber auch so relativ. Wir kommen in Fahrt oder nicht. Auch Abstellgleise gibt’s, Gras zwischen den Schwellen. Wer stellt die Weichen? Wir selber? Oder wer? Achtung, Zugdurchfahrt – an dir rauscht was vorbei, das hat mit Ferne, mit weiter Welt zu tun, und du selber stehst klein und starr als Punkt am Bahnsteig, ein Punkt, den der Fahrtwind wegpusten kann. Manchmal verstehen wir nur Bahnhof … Sie sehen, rund um den Zug lässt sich herrlich fabulieren.
„Kurz vor dem Speisewagen meines kleinen Lebenszuges haben sich ein paar Desperados eingenistet, die den Gang komplett versperren. Man muss über sie steigen, um weiterzukommen, und jeder Versuch wird lachend und johlend kommentiert. Diese knurrende Rasselbande ist die Band Motörhead.“ Wieder ein Buchzitat.
Ich sag ja: Lebenszug gleich Bummelzug (lacht). Mal sehen, wo’s mich noch hinführt.
Hamburg ist nicht Endstation?
Nein. Es kommt ja bei solchen Entschlüssen für einen Lebensort vieles zusammen: Familie, Kraft, Zufall, die momentane Sehnsucht, auch der Druck und die Auftragslage. Mal sehen. Ich find’s schon gut, fort zu sein, bis einem das bislang Eigene fremd wird. Bis man den, der man daheim war, nicht mehr ohne Weiteres versteht.
Woran denken Sie?
Vielleicht Barcelona, Marseille, Buenos Aires. Wo ich die deutsche Sprache nicht habe – so wird sie einem wieder schön.
Klar kann man das auch anders sehen: Überall ist nichts, aber daheim ist das noch am ehesten zu ertragen.
So wird man zum kosmopolitischen Patrioten (lacht).
Jetzt spricht der Schauspieler, der im Film Asterix und der Zaubertrank den Obelix synchronisiert hat.
Herrlich! Es gibt Kunst, in der Heldentum noch erträglich und aufbauend ist.
Obelix, das Musterbild des Patrioten, im Kampf gegen Rom.
Er ist so was wie der Weißclown in der französischen Clownerie. Aber ich denke jetzt eher an Jan „Monchi“ Gorkow von Feine Sahne Fischfilet. Die hab ich mal die nördlichsten Gallier genannt. „Monchi“ steht fest auf vorpommerschem Boden. Der geht da nicht weg. Das wilde Herz schlägt für den Ort, an dem man alt werden möchte.
Aber, um das zu bekräftigen: Heimat ist für Sie kein Idyll.
Auch diese Klinge ist zweischneidig. Das Heimelige im Wort Heimat ist das totale Idyll, und das Idyllische kann Heimat werden, wie meine Frau, ihr Sohn, meine Geschwister, meine Arbeitsfamilien und die großen Stillen im Süden Mecklenburgs. Aber das, was Heimat als geografische und politische Herkunft meinen will, ist kein Idyll, ganz und gar nicht. Der schöne, feste Boden hat Risse. Die Leute im Osten merken, wie man ihnen übelnimmt, dass sie letzten Endes doch nicht nur Kopien der Westdeutschen sein wollen. Das Bewusstsein dafür ist bei den Ostdeutschen erst langsam wieder wach geworden. Erst langsam spürte man: Man traf wieder auf die alte Rechthaberei. Diesmal bestand sie in der Heiligsprechung einer erfolgsorientierten Kapitalgesellschaft. Mehr und mehr ist so auch die Wut wach geworden. Und die aufzunehmen und zu benutzen, das ist rechter Politik auf bedrohliche, gespenstische Weise gelungen.
Deshalb hat Sie Feine Sahne Fischfilet interessiert? Wegen des Mutes zur Gegenwehr?
In erster Linie wegen der Energie, sich nichts gefallen zu lassen.
Feine Sahne Fischfilet, die Vorpommersche Punkband, über die Sie den Dokumentarfilm Wildes Herz drehten. Ein heftig dröhnender Antifa-Trupp. Ein biografischer Kreis, der sich schließt: Denn da sind Ihre eigenen Auseinandersetzungen mit Rechtsradikalen in Neustrelitz, da ist Ihre musikalische Nähe zum „Lärmuniversum“, und da ist Ihre vom ermatteten Zustand des Theaters genährte Sehnsucht nach Härte und Kraft. Die Gruppe singt in Richtung Polizei: „Eure Knüppel kriegt ihr in die Fresse rein, und danach schicken wir euch nach Bayern, denn die Ostsee soll frei von Bullen sein.“ Kein Wunder, dass der Landesverfassungsschutz hellwach wurde.
Das soll er ja wohl immer sein, oder?
Die Rede ging offiziell von „Vorpommerns gefährlichster Band“, von „rhetorischer Gewalttätigkeit“.
Wo Gewalt unterdrückt wird, ist sie am gefährlichsten. Deshalb gibt’s die Kunst. Das ist doch ein ganz altes Ding, ein jahrhundertealtes Ding: Kultur gegen das Staatliche. Kunst darf Gewalt thematisieren; Politik muss Gewalt verhindern.
Es spielte in unseren Gesprächen bereits eine Rolle: Ihre Eltern haben die Wende nicht gut überstanden.
Ich hab ja den 9. November 1989 beschrieben – der Zusammenbruch der DDR ist über sie gekommen wie ein Schicksalsschlag, das muss man schon so sagen. Es ist manchmal lebensentscheidend, ob man ein paar Jahre früher oder später geboren wird. Wie viel Kraft bleibt für einen Neuanfang? Wie viel Energie ist noch da für den neuen Lernstoff in der Schule des Lebens?
Die keine Ferien kennt.
Leider. Mein Vater hat sich noch einmal gestrafft und nach dem Ende der DDR alles in die Gastronomie geworfen. Obwohl er überhaupt keine Ahnung von den neuen wirtschaftlichen Verhältnissen hatte. Er kriegte ein Darlehen, das machte hoffungsvoll, aber er dachte und fühlte nicht sehr profitabel. Nach sechs Jahren musste er Insolvenz anmelden.
Er war Inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit.
Die Geschichte habe ich inzwischen oft erzählen müssen. Wahrscheinlich zu oft. Du merkst sofort, wie die Schablonen der Neugier rattern. Wir fuhren nach der Premiere des Films Das Leben der Anderen im Auto nach Hause. Ich spiele einen Stasi-Offizier, es gibt im Film Bilder von den Überwachungsmethoden, und plötzlich sagte mein Vater: „Solche Kameras hatten wir nicht.“ Meine Mutter auf dem Rücksitz nestelte nervös an der Fensterkurbel herum. Über das, was er da sagte, hatte er niemals offen mit uns gesprochen. Ein Jahr danach starb er.
Nichts geahnt, nichts gewusst?
Ich? In den neunziger Jahren verfolgten wir gespannt diverse Stasi-Outings, und mein Bruder und ich hatten nach und nach den Eindruck, dass es verwunderlich wäre, wenn der Vater nicht auch IM gewesen sei. Die Puzzleteile fügten sich nur langsam. Eines Tages war er mit uns Kindern in den Stadtpark gegangen. Wir steuerten auf die große Wiese zu, die ist von allen Seiten einsehbar. Warum? Das hatte er doch bisher nie gemacht. Mitten auf dieser Wiese hat er uns daran erinnert, dass er ja öfters auf Dienstreise gehe, und bei den Leuten, für die er das tue, könne er jetzt für immer arbeiten. Allerdings sei er dann nur noch an den Wochenenden daheim, aber es gäbe mehr Geld, und wir bekämen ein Auto. Natürlich wunderten wir uns, dass er uns das alles nicht zuhause im Wohnzimmer, sondern im Freien, auf einem gut einsehbaren Rasenstück mitteilte. Viel später erst war uns klar, dass er über die Aussichten einer Stasi-Laufbahn sprach.
In einem Interview haben Sie gesagt, erstmals im Herbst 1989 den Begriff Stasi gehört zu haben.
Nicht zu fassen, aber es ist wahr. Ich nahm an einer Demonstration teil, das Wort stand auf einem Transparent, ich musste mir das von einem Kumpel erklären lassen, der etwas älter war als ich. Natürlich kannte ich die Firma, Mielkes Club oder Horch- und-Guck hieß das bei uns im Dorf. Aber Stasi? Sagte mir nüscht. Auch die offizielle Variante nicht: Ministerium für Staatssicherheit.
Haben Sie Ihren Vater verurteilt?
In grundlegender Ablehnung konnte man sich doch schnell einig werden: So was wie er macht man nicht. Aber ich wollte nicht moralisch, mit so ’ner Überlegenheitspose rangehen, ich wollte verstehen. Mitte der fünfziger Jahre war er angeworben worden. Er gehörte damals zu jenen, die sich in Ahrenshoop in der Nähe des Kulturministers Johannes R. Becher „umhörten“. Die Stasi kann ich ablehnen, ich kann sie furchtbar finden, klar – aber welches Recht habe ich als Nachgeborener, undifferenziert über die Motive eines Menschen zu urteilen? Pauschale Verdammnis ist keine Gesprächsform. Im Hotel, in dem meine Eltern früher arbeiteten, hatten Leute wie Wolf Biermann, Eva-Maria Hagen, Christa Wolf gewohnt. Herberge und Stasi-Beobachtungsstation, so würde ich das bezeichnen. Natürlich hatte ich davon damals keine Ahnung, ich war sieben, acht Jahre alt. Die Ahnungslosigkeit blieb, lange. Leute gingen in den Westen, oder es hieß, sie seien abgeschoben worden. Ich verstand sowieso nur immer Bahnhof.
Verträumt.
Vertüddelt. Viele Dinge musste ich mit mir alleine ausmachen. Worüber geredet wurde, war der Dorfalltag: nicht viel los; eine Geburt bei den einen, ein Todesfall bei den anderen; na ja, und die Kirschbäume blühten in diesem einen Jahr später als sonst.
Wenn der Krankenwagen draußen mit Sirene vorbeifuhr, schauten sich die Alten in der Kneipe um und stellten beruhigt fest: alle noch da.
Ja, genau so. Der Volkspolizist, das war für den Jungen, der Carsten hieß, der Freund und Helfer. Im Dorf kam der auf mich und meinen Bruder zu und sagte: Na, ihr zwei beide. Und ging weiter. Der gute Mann, der ein bisschen aufpasste. Im Frühjahr 1989 änderte sich das. Da war ich beim Pfingsttreffen der FDJ als Delegierter des Deutschen Turn- und Sportbunds in Ost-Berlin. Da habe ich die Mauer und die bewaffneten Grenztruppen zum ersten Mal bewusst wahrgenommen. Finster dreinblickende Leute, die verhinderten, dass wir nach drüben gehen konnten. Was wir doch aber gern gemacht hätten. Diese Realität fühlte sich unangenehm an.
Ein Gespräch mit Ihrem Vater kam nicht zustande.
Nein. Geweint hat er. Der Film Das Leben der Anderen hatte ihm irgendwie die Zunge gelöst. Dann wieder Schweigen. Das war die Reaktion auf die allgemeine Stimmung.
Er bekam doch mit, was öffentliche Geständnisse für Folgen hatten. Wer sich outete, war sozial erledigt.
Angst öffnet keine Seelen.
Du wirst ganz schnell fertiggemacht.
Die Jahre nach der deutschen Einheit waren Auf- und Abrechnungsjahre. Verständlich, dass vor allem im Osten gekehrt wurde.
Na klar, logisch. Aber es gab in den Diskussionen einen Ton, eine bestimmte Art, da wusstest du genau, dass ein Gespräch nicht mehr möglich ist. Du gibst was zu, und plötzlich blickst du nur noch in lauter unschuldige Gesichter. Alles ist Unschuld, nur du bist es nicht. Das schafft Schweigen, Scham, Ratlosigkeit.
Wieso das väterliche Geständnis anlässlich des Films?
Ein innerer Drang? Katharsis durch den Film? Unbedachtheit? Plötzlich sieht er auf der Leinwand den eigenen Sohn, der da in so einem ganz anderen Leben rumspielt, das ihm selber doch auch gefallen hätte. – Staatssicherheit! – Ich bin heilfroh, solchen Zwängen nicht ausgesetzt gewesen zu sein. Er ist nicht aus ursächlich bösen Motiven da hineingeraten – man muss sich das vergegenwärtigen: Da wächst ein Mensch im Nazireich auf, er sieht um sich herum ein immer stärkeres Aufstampfen und Muskelrollen und Stiefelknallen, und er ist so ein schmächtiger Junge, dem die Kraft- und Siegerposen überhaupt nicht gelingen. Er kriegt keinen Anschluss, er bleibt überall draußen – wird Außenseiter, bleibt Außenseiter. Dann ist die Kriegsscheiße eines Tages vorbei, er ist nicht mal fünfundzwanzig, und der neue junge Staat sagt: Auf dich bauen wir, dich brauchen wir! Endlich bekommt ein Leben Vorschuss, endlich kriegst du Präsenz. Dieser neue Staat machte ihm Hoffnung, und also war er bereit, etwas für ihn zu tun. Er wollte Anerkennung, und auch der Staat kämpfte um Anerkennung. Da trafen sich also zwei – zur Anerkennungsgesinnungsgemeinschaft. Und Feinde gab es ja wirklich. Und dann war man so fokussiert, so vernagelt, dass man sich immer mehr Feinde erfand.
Das ist uns von den westdeutschen Achtundsechzigern überliefert worden: knallharte Fragen an die Väter. Wie knallhart fragend wurden Sie denn unmittelbar nach diesem Abend der Filmpremiere?
Knallhart war in der Sache nicht mein Ding. Ich hab versucht, mich zu erklären. Vater, hab ich ihm gesagt, was soll sein, du bleibst unser Vater.
Mehr nicht.
Ich hab gehofft, er erzählt. Der Wille zur Erzählung aber braucht Zeit. Die gab es nicht mehr. Fast alles blieb im Dunkel.
Sie haben den Tod Ihres Vaters als einschneidend bezeichnet. Wobei fehlte und fehlt er Ihnen?
Plötzlich, als keine Antworten mehr möglich waren, häuften sich die Fragen. Verrückt, oder? Aber ich glaube, das ist bei jeder Generation so. Es gibt die Weitergabe, und es gibt das Defizit. Da setzt doch auch der Sinn der Kunst ein. Reinleuchten in die Kluft zwischen Soll und Haben, Sein und Schein. Nichts übertünchen. Ich finde, es ist spannender, sich auseinanderzusetzen, als nur immer das Einigende zu betonen und drüberzuwischen über das, was Streit auslöst. Mann, was diese Generation der 1920 bis 1930 Geborenen so alles erlebt hat, erleben musste, gelernt hat, wieder vergessen musste, das ist doch ein unermesslicher Erzählstoff.
Man kann nichts wiedergutmachen, aber man kann zukünftig weniger falsch machen.
Deshalb: Gespräch. Die Menschen damals, im jungen 20. Jahrhundert, die wollten ein Leben und bekamen den Krieg. Die gerieten an Fronten, zwischen Fronten. Selten ein Ruheplatz hinter den Fronten. Wie oft standen die Menschen an einem Punkt, der Ende und Anfang gleichzeitig war. Kaum einer wusste, was ist Aufbruch, was Zusammenbruch. Die banalen Fragen waren mit einem Mal die ganz großen Fragen: Woher bekommen wir Kartoffeln, woher Kohlen? Der Blick aufs Düstere schafft die eigenen Sorgen nicht ab, aber er relativiert. Mein Vater musste schon als Dreizehnjähriger durch Sachsen ziehen, hin zu Verwandten, dort hat er gearbeitet, um etwas beizutragen für den Familienunterhalt.
Er hat Tagebuch geschrieben.
Unmittelbar nach dem Krieg. In diesen Eintragungen geht es um Hungern, Frieren und Wandern. Ich als Dreizehnjähriger hatte da ganz andere Lebensthemen: Mädchen und Musik.
Hat er Ihnen das Tagebuch gegeben?
Nee, das lag da so rum.
Es gibt das geflügelte Wort von der „Gnade der späten Geburt“, es stammt vom Publizisten Günter Gaus. Helmut Kohls Redenschreiber hat es ihm geklaut.
Wär ich zwei, drei Jahre früher geboren worden, hätte ich zur Wende gedient, mit der Kalaschnikow in den Händen. Ein Regisseur, mit dem ich oft zusammengearbeitet habe, stand im Oktober 1989 als NVA-Soldat auf der Straße in Dresden, während seine Mutter als Demonstrantin an ihm vorbeiging. In so eine furchtbare Lage bin ich nicht gekommen. Von bestimmten Themen und Zwangslagen bin ich verschont worden. Ich weiß nicht mal, ob ich die seelische Struktur zum Dissidenten gehabt und mich in der DDR in der Künstlerpose hätte verstecken können. Die Generation etwa meines Vaters, die musste folgen. Wir konnten folgen, mussten aber nicht.
So ein Glück hat nicht jede Generation. Man weiß nie, wie lange es dauert, dieses Glück.
Ich habe die „Vernehmungsprotokolle“ von Jürgen Fuchs gelesen, Stasi-Knast 1976/77, nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann. Da wird ein Mensch bei der Verhaftung nicht nur aus dem Auto geholt, sondern aus seinem Leben gerissen. Fuchs hatte in Jena Psychologie studiert, er erschrickt bei dem Gedanken, dass seine Vernehmer, wären sie nur etwas jünger, seine Kommilitonen hätten sein können. Von Mielke zum Studium geschickt. Wo wird Seelenkunde zur Manipulationstechnik? Wie wird psychologisches Instrumentarium zur Folter? Man beginnt gemeinsam einen Lebensabschnitt und steht sich plötzlich feindlich gegenüber, der eine mächtig, der andere ohnmächtig. Wo sitzt die Spinne, die dich fangen will? Wie unsichtbar ist das Netz, das auf dich wartet?
Das meint Opfer wie Täter. Wann habe ich im gesellschaftlichen Gefüge aufgehört, genau zu prüfen, den inneren Einwänden zu folgen, auch wenn die Überzeugung auf dem Spiel stand; wann habe ich aufgegeben, fremde Einflüsterungen als solche zu empfinden; wann habe ich nachgelassen, Verunsicherungen ernst zu nehmen; wann habe ich begonnen, unter Verweis aufs Große und Ganze eigene Beschädigungsspuren und solche am Großen und Ganzen hässlich schönzureden?
Das Netz, die Verstrickung … täusche sich niemand über die Gefahren im scheinbar Alltäglichen, Profanen, Undramatischen. In Dantons Tod hilft der eine Bürger einem anderen Bürger über eine Pfütze, denn „die Erde ist eine dünne Kruste; ich meine immer, ich könnte durchfallen, wo so ein Loch ist. – Man muss mit Vorsicht auftreten, man könnte durchbrechen.“
Es ist interessant, dass die zwei Bürger in genau dieser Szene über das Theater reden. Und dessen aufstörenden Möglichkeiten beschwören: „Haben Sie das neue Stück gesehen? Ein babylonischer Thurm! Ein Gewirr von Gewölben, Treppchen, Gängen und das Alles so leicht und kühn in die Luft gesprengt. Man schwindelt bey jedem Tritt … Aber gehn Sie ins Theater, ich rat es Ihnen!“
Alles so leicht und kühn in die Luft gesprengt? Heute? Von wegen.