Theater der Zeit

„Wenn keiner singt, ist es still“

Hannelore Kraus und ihr Kampf gegen das höchste Gebäude Europas

von Raimund Hoghe

Erschienen in: Recherchen 150: Wenn keiner singt, ist es still – Porträts, Rezensionen und andere Texte (1979 - 2019) (09/2019)

Assoziationen: Hessen Akteure

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Das ZDF präsentierte sie letzte Woche in der Unterhaltungssendung Na siehste als „die Frau, die drei Millionen Mark für eine Unterschrift bekommen könnte“. Dass sie diese Unterschrift nicht leisten will, „das bringt die Leute bis zur Raserei“, beobachtete Hannelore Kraus. „‚Warum nimmt die das Geld nicht?‘ fragen selbst Leute, die eigentlich eine bestimmte Vorstellungskraft haben. Die begreifen den Punkt nicht. Wir sind so auf die persönliche Interessenlage abgefahren, aufs Materielle, dass wir uns eine andere Haltung gar nicht mehr vorstellen können. Da sind wir zu eng, sehr zu eng. Wir müssen umdenken. Wir sind an einer absoluten Wende. Da ich zufällig in der Situation bin, dass ich nein sagen kann, muss ich das tun.“

Nein sagt Hannelore Kraus zu einem „Leitbild für die neue europäische Hochhausgeneration“, dem 268 Meter hohen Campanile, der „als neues, herausragendes Wahrzeichen der Stadt“ und höchstes Hochhaus Europas an der Südseite des Frankfurter Hauptbahnhofs entstehen soll. „Losgelöst von den herkömmlichen Normen des Hochhausbaues, beispielhaft für eine Bautechnologie des 20. Jahrhunderts, im Inneren und Äußeren internationale Maßstäbe setzend, eröffnet der Campanile neue Dimensionen in Architektur, Gebäudetechnologie und Nutzungskonzeption von Hochbauten“, schwärmten die Bauherren auf glänzendem Kunstdruckpapier.

Anders als ihre Nachbarn ließ sich Hannelore Kraus von den Visionen der Herren nicht beeindrucken. Daran konnten auch die immer höheren Summen nichts ändern, die ihr für die nachbarrechtliche Zustimmung zum Prestigeobjekt geboten wurden. Und ohne die Unterschrift der 49-jährigen Hausbesitzerin ist ein Baubeginn vorerst nicht möglich, denn: Ihr Haus würde im Schatten des Campanile stehen.

Doch geht es Hannelore Kraus nicht allein um das Stück Himmel, das ihr der Wolkenkratzer verstellen würde. Mit dem Campanile und seinen bis ins 66. Stockwerk reichenden Skyline-Büros, diversen Restaurants, Läden, Health Club und Luxushotel sieht sie unter anderem ungelöste Verkehrs- und Umweltbelastungen auf das alte Stadtviertel zukommen und seine soziale Struktur gefährdet. 75 Prozent der Gutleutbewohner seien Ausländer. Das Argument, „das Ganze werde nur gebaut, um unser Viertel aufzuwerten“, findet sie zynisch: „Das hat mit unserem Viertel nichts zu tun.“

„Nur keinen Streit vermeiden“, habe ihr Bruder früher immer gesagt. Die Kompromisslosigkeit, mit der sie jetzt gegen „dieses Potenzsymbol“ Hochhaus kämpft, sei für viele irritierend. „Nun war ich immer sehr selbstständig, unabhängig“, stellt Hannelore Kraus fest. „Ich kann mich verhalten wie ich will – ich bin von keinem abhängig. Das ist sicher nicht häufig, dass Leute in dieser Lage sind, aber ich bin es.“

Entsprechend unkonventionell verlief das Leben der Tochter aus gutbürgerlichem Hause. 1939 im Gutleutviertel geboren, arbeitete sie nach dem Abitur zunächst einige Jahre als Buchhalterin und studierte dann Soziologie. Nebenher hat sie noch im Hauptbahnhof gearbeitet. „Gegenüber Gleis 16 habe ich fünf Jahre lang Zeitungen verkauft. Das war eine irre Erfahrung – Trinkgeld von Bettlern und solche Sachen“, erinnert sie sich lächelnd und unterbricht sich: „Das ist eine andere Geschichte.“

Neben dem Soziologiestudium, das sie bei Theodor W. Adorno mit Diplom abschloss, besuchte sie noch die Akademie für Welthandel und bereiste fast alle Ostblockstaaten. Promoviert habe sie dann in Heidelberg in politischen Wissenschaften. Thema: „Die Vorstellungen des amerikanischen Kongresses über die Entwicklung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg“. Mit einem Stipendium geht sie nach Washington und New York und beschließt, im Ausland zu bleiben und zu arbeiten. Hannelore Kraus bewirbt sich bei verschiedenen Sonderorganisationen der Vereinten Nationen und wird sofort genommen für Afrika. „Dann war ich fünf Jahre in Nigeria und an der Elfenbeinküste – in der berühmten technischen Entwicklungshilfe.“

Ende der siebziger Jahre, bedingt durch die Krankheit ihrer Eltern, kehrte sie zurück nach Deutschland. „Meine Eltern sind dann gestorben, und ich hatte das Haus und das Hinterhaus in der Gutleutstraße.“ Vor sechs Jahren eröffnete sie dort eine kleine Pension. Als ich sie Anfang des Jahres zum ersten Mal traf, war sie mir als Pensionswirtin mit Grundsätzen aufgefallen. Auf Gäste, die nicht ohne Fernsehgerät auskommen könnten, verzichte sie gern, hatte sie beim Frühstück erklärt und die an japanische Einfachheit erinnernde Einrichtung der Zimmer unter anderem mit dem Hinweis begründet, dass Frankfurt so viele verschiedene Eindrücke zu bieten habe, dass sie nicht auch noch die Zimmer mit Tapetenmustern und bunten Bildern füllen müsse. Sie überlasse es lieber den Gästen, sich eine eigene Atmosphäre zu schaffen.

Das Faszinierende an der Pension seien für sie die Leute. „82 verschiedene Nationen hab’ ich da schon gehabt. Ich habe immer eine ziemliche Mischung, auch altersmäßig.“ So wohnten nepalesische Pfadfinder und sowjetische Akademiemitglieder ebenso bei ihr wie Schauspieler, Sänger und amerikanische Touristen. „Ich brauch’ die Abwechslung“, sagt Hannelore Kraus und hat sie auch bei ihren Mietern. Ihre Pension liegt über einer Beratungsstelle für ausländische Flüchtlinge und einem Kulturzentrum für Vietnamesen, im Vorderhaus hat sie unter anderem an eine Galerie und eine Anwaltskanzlei vermietet, und in ihrem unter Denkmalschutz stehenden dritten Haus finden neben alten Bewohnern und Ausländern auch noch ein Fischhändler und das Stadtteilbüro „Gutleut“ Platz, die Prostituiertenselbsthilfe „Huren wehren sich gemeinsam“ und eine ökumenische Anlaufstelle für Asiatinnen, die mit Deutschen verheiratet sind – „darunter Frauen, die per Katalog ausgesucht und nach Deutschland geschickt wurden“. Dass sie in zentraler Lage nicht gewinnbringender vermiete, sei für manche ihrer Bekannten unverständlich. „Die meinen: ‚Warum gibst du das nicht McDonald’s und ziehst woanders hin?‘“ Aber sie besteht auf Vielfalt, „weil die das Leben trifft“. Am Abend vor ihrem Na siehste-Auftritt, als sie mich ein Stück durchs Viertel führt und vorbeikommt am Geschäft eines 87-jährigen Friseurs, meint sie: „Eine tolle Ecke – die lassen wir uns nicht einfach kaputtmachen.“

Am allgemeinen Ausverkauf will sie sich nicht beteiligen. Dass sie deshalb auch schon mal als „schrullige Alte“ diffamiert wird, beeindruckt die 49-Jährige nicht. „Ich bin bei einigen nicht sehr beliebt. Aber das ist kein Punkt. Das sollte einen nicht weiter kratzen“, bemerkt sie und stellt fest: „Ich bin nicht an der Verhinderung des Fortschritts von Frankfurt interessiert. Ich bin begeisterte Frankfurterin. Ich will einfach eine neue Planung, bei der die Interessen der Bürger, der Umwelt berücksichtigt werden. Was mich aufregt: die grundsätzliche Korruptheit, die als Kavalierssache behandelt wird. Das ist ein Kardinalproblem, an dem wir kranken.“ Ihr Zorn richte sich auch nicht gegen die Investoren und Spekulanten. „Die machen ihren Job. Wo ich was gegen habe: die Politiker, die ihren Job nicht machen. Die sind anzugreifen. Was die in Bonn machen, das entzieht sich mir, aber hier an der Basis kann ich schon was sagen – und das muss ich auch. Wir haben die Demokratie und müssen jeden Tag dafür kämpfen.“ Sie tut es vehement. „Wenn ich einmal zornig werde …“, erklärt sie und hebt die Faust. In Rainer Werner Fassbinders Stück Der Müll, die Stadt und der Tod sagt Roma B.: „Wenn keiner singt, ist es still.“

Obwohl sie durch ihren Kampf gegen den Campanile Schlagzeilen machte, zahlreiche Interviews gab und mehrere Fernsehauftritte absolvierte, bei denen sie zum ersten Mal Puder auf ihre Wangen tupfen ließ, will sich die prominent gewordene Hochhausgegnerin nicht vereinnahmen lassen. „Ich bin in keiner Partei. Ich habe keine Anhänger.“ Früher habe man sie oft für eine katholische Lehrerin gehalten – „aber weder noch“. Um was es ihr geht: „Bestimmte Dinge, die ich für wichtig halte, die möchte ich weiterreichen. Ich hab’ weder Gelüste nach Macht noch den Wunsch, dass jemand auf mich achtet. Wenn aber eine Sache zu verteidigen ist und ich weiß, dass ich sie verteidigen kann, dann muss ich das auch tun. Dann muss ich da schon Stellung nehmen.“

Dass ihre Gegner versuchen, sie als „einsame Irre“, „profilsüchtig“ oder „Einzelgängerin“ hinzustellen, nimmt sie gelassen. „Ich hab’ den absoluten Rückhalt meiner Familie. Meine Geschwister stehen voll hinter mir und würden das genauso machen wie ich.“ Dass die auch in Bürgerinitiativen aktive Hausbesitzerin nicht unbedingt zur Kameraderie neigt, ist eine andere Sache. Eine bestimmte Distanz ist ihr wichtig. Mögen sich im Frankfurter Initiativenplenum alle anderen duzen: „Ich bin per Sie. Ich bin Frau Kraus, und damit hat es sich. Ich kann mit Leuten völlig solidarisch sein, ohne dass ich mich mit ihnen duze.“

Auch wenn sie von sich sagt: „Ich bin kein charismatischer Typ, dem die Leute nachlaufen“ – die bewundernden Telefonanrufe und Briefe nehmen zu. „Ich wünsche Ihnen Kraft und Glück“, schreibt eine Frau aus dem Ruhrgebiet, eine andere lobt „Ihr beispielhaftes Verhalten“. Verschiedene Initiativgruppen erklären sich solidarisch. „Frau Kraus hat die volle Unterstützung der Bewohner der umliegenden Stadtteile, die wie Frau Kraus Frankfurt als Wohnort erhalten wollen“, versicherte letzte Woche die Vorsitzende der Initiativgruppe „Westend“ in einem Leserbrief. Dass vor allem Frauen sie unterstützen und ihr Mut machen, wundert Hannelore Kraus nicht. „Frauen sind couragierter als Männer – das ist ja bekannt.“

„Wie es ausgeht, weiß man nicht“, meint Hannelore Kraus zum Kampf um den Campanile, dessen Baubeginn sie schon seit März verhindert hat. „Wenn man eine Sache ungebrochen verfolgt, hat man gewisse Chancen“, glaubt sie und lässt keinen Zweifel daran, dass der Kampf sich für sie schon gelohnt hat – auch ohne die ihr angebotenen Millionen. „Dass man mal Nein gesagt hat – das reicht schon als Grund, gelebt zu haben.“ In ihrem Sommerstück schreibt Christa Wolf: „Ein irres Gefühl, sagte Peter, wenn du wirklich kapierst, dir kann keiner was. Du bist, wenn du bloß willst, dein eigener Herr. Nur deine Gier ist es, die dich ankettet.“

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