Vorwort
Erschienen in: Dialog 2: Roter Reis – Vier Theatertexte aus der Schweiz (10/2003)
Hans Mayer stellte seine Autobiografie vor. Für Wien. Für die Wiener literarische Gesellschaft hatte er eine Episode mit wienerischem Bezug ausgesucht. Hans Mayer erzählte gutgelaunt und launig, wie die Gruppe 47 in der Sitzung in Schweden 1964 Konrad Bayer fertig gemacht habe. Wie man ihm da Antisemitismus vorgeworfen hatte. Weil er seine Romanfigur „Goldenberg" genannt hatte. Und wie Konrad Bayer sich dann nur Wochen später das Leben genommen habe. Und dass man das schon in einen Zusammenhang setzen könne. Ja. Müsse. Hans Mayer ging auf der Bühne auf und ab. Erzählte. Heiteres Bedauern am Ende dieser Episode. Ich ging. Ein solches Jagd- und Ausleseverhalten ist eine der Bewertungsstrategien literarischer Texte. Schon bei der Gruppe 47 war das eine kriegerisch territoriale Erbschaft aus der Zeit davor. Heute wird ein derartiges Vorgehen neoliberal darwinistisch verbrämt. „Was wird sich durchsetzen", ist die Frage, auf die kein literarischer Text eine Antwort wissen darf. „Was hat eine Chance beim Publikum." „Was hat eine Chance beim Feuilleton." Die andere Strategie der Literaturbeurteilung ist das auratische Absondern. Auch hier liegt ein territorialer Vorgang vor. Der Text wird an einen unerreichbaren Ort verschoben. An einen unbetretbaren Ort. Der Text wird so unerreichbar gemacht. Unbetretbar. Sakrosankt. Beide Strategien kommen aus dem Jägerischen und der religiösen Überhöhung davon. Immer ist töten im Spiel. Im ersten Fall wird der Text durch „wirklich harte Kritik" zum Verstummen gebracht. Der Autor oder die Autorin werden vor den Text gezogen und sollen diese „wirklich harte Kritik" aushalten. Das müssten Autoren oder Autorinnen schon aushalten, heisst es dann. „Das gehört dazu, wenn man in die Öffentlichkeit geht." Diese „wirklich harte Kritik" erinnert an das kalte Duschen und die harte Gartenarbeit der sentimental autoritären Erziehung des 19. Jahrhunderts und danach. Die auratische Überhöhung lässt den literarischen Text in Weihe verstummen. Quasireligiöse Aufladung. „Lassen wir diese Texte einfach auf uns wirken", lautet dann die Verbannung des Texts in die Hermetik der Aura. Und so war es nicht weiter verwunderlich, als bei der Jurysitzung zur Auswahl zur MC6 der Satz fiel „Aber zuerst schiessen wir die Nieten hinaus." Dieser Satz fällt immer. In Literatur Jurys. Wahrscheinlich fällt dieser Satz in allen Jurys. Wahrscheinlich auch bei Miss Wahlen. Und immer geht es bei dieser „wirklich harten" Kritik um die Unfähigkeit, die Ablehnung zu begründen. Oder um den Unwillen, eine Begründung vorzulegen. Was sich bei der Gruppe 47 noch durch dogmatischen Gruppendruck herstellte, das endet heut in gen Himmel verdrehten Augen und tiefen Seufzern. Die Vertreibung aus dem Territorium Literatur, die meint dann immer den Autor oder die Autorin. Und das ganz persönlich, indem dieser Person der Zugang zu Ressourcen verweigert wird. Ressourcen. Das sind Preisgelder. Stipendien. Veröffentlichungen. Aufführungen ... Bei netter disponierten Juroren oder Jurorinnen verwandelt sich der Jagdaufruf in den Satz „Damit kann ich nichts anfangen." Undeklarierte persönliche Befindlichkeit wird in ein instrumental eingesetztes Kausaladverb „damit" verschoben, das an den Anfang des Satzes gestellt eine Finalkonjunktion mimikriert. „Damit" wird so eine Absicht des Texts, die gleichzeitig das Mittel bezeichnet. Der Text wird in eine Instrumentaladverbfinalkonjunktion verwandelt. In etwas also, das es gar nicht gibt. Eigentlich. Der Text wird auf der grammatikalischen Ebene in etwas verwandelt, mit dem dann folgerichtig nichts angefangen werden kann. Herrschaftsgrammatik kann sich auch nett aufführen. Es stellt sich die Frage, warum Urteile fällen, wenn das zu Beurteilende solche Mühe macht. Nun. Jurytätigkeiten werden bezahlt. Meist ziemlich gut. Und wenn man nur „Nieten hinausschiesst", dann wird die Mühe zur Aggressionsabfuhr. Also zur Psychohygiene von Juror oder Jurorin. Und. Ein Redakteur der FAZ erklärte mir einmal bei einer Jurysitzung, dass er das nur mache. Das Jurieren. Weil er um die Qualität der Literatur besorgt sei. Es geht um die Zugangsregelung zum Territorium Literatur. Es geht also auch um Macht. Es geht vor allem um Macht. Es ist eine der schwierigsten Unternehmungen beim Autor-Werden oder Autorin- Werden zu lernen, dass es diese „wirklich harte" Kritik gibt. Dass sie einen meint. Persönlich so. Und dass gelernt werden muss, wie es einem oder einer gelingen kann, die Würdelosigkeit dieser Literaturbetriebsvogelfreiheit von sich fernzuhalten. Es ist sehr schwierig, in einem Prozess des Suchens, Werdens und Entwickelns sich diesen Zensurabsichten zu entziehen. Wie kann es gelingen, diese Zensur in den notwendigen Augenblicken der Selbstzweifel nicht zu verinnerlichen. Wie bei den gefassten Absichten bleiben, wenn einem der Zugang zu den Ressourcen verweigert wird. Autor werden. Autorin werden. Das ist ein Prozess der Entzähmung von Gezähmten. Zu einer eigenen Sprache kommen, das heisst den Allanspruch an die Sprache zurückerobern, der im Sprechenlernen an die Verständlichkeit abgegeben werden musste. Zu einer eigenen Sprache kommen zu wollen, das heisst den Raum der vereinbarten Sprache zu verlassen. Das ist gefährlich genug. Die „wirklich harte" und darin nicht begründete Kritik wirkt da als Passage, die nur die Härtesten überstehen. Aber eben nur überstehen. Was an Texten möglich wäre, ohne diese literaturbetriebliche Urteilsverkündigungen, das können wir gar nicht wissen. Dazu werden wir ja auf das beschränkt, „was sich durchsetzen kann". In einer Schweizer Zeitung wurde die Frage aufgeworfen, ob Autoren und Autorinnen nicht ganz einfach verwöhnt würden. Vor lauter Förderung. Ob sie nicht alle zu Waschlappen würden, wenn ihnen nicht der eiskalte Wind des freien Markts von Anfang an um die Nase zischte. Auch diese Vorstellung geht von einem Erziehungsmodell aus, in dem die Gewöhnung an die sadistischen Episoden zu Verinnerlichung dieser Härte führen sollen. Bis Autoren oder Autorinnen abhängig von dieser „wirklich harten" Kritik sind und dann auch gleich immer ein Geständnis über die Verfehlungen ihrer Texte ablegen. Es gibt viele Möglichkeiten, Texte zu lesen. Es gibt alle Möglichkeiten, Texte zu lesen. Literarisches Lesen und eine Beurteilung daraus muss aber immer auf zwei Lesehaltungen aufbauen. Einmal muss der Text die Textintention entlang gelesen werden. Das bedeutet nur, die Person des Lesers oder der Leserin vom Text getrennt zu halten. Also sich eigene Projektionen auf den Text klarzumachen. Das wiederum bedeutet, dass die Person des Lesers oder der Leserin sich über sich selbst im Klaren ist. Zumindest so weit im Klaren, dass die eigenen Prägungen, Ansprüche, Wünsche und Verdrängungen bekannt sind und nicht in einem Prozess unwissentlicher Identifikation mit der Autorschaft eine Ablehnung des Texts konstruiert werden muss. Manchmal entsteht mir der Eindruck, Kritik an Texten setzt überschiessende sadistische Impulse frei. Für die wienerische Version dieses Vorgangs würde ich eine Verschiebung des Selbsthasses in diese Form aggressiv intimisierender grundsätzlicher Ablehnung von Texten annehmen. Immer ist das Schreiben von Texten auch das Durchbrechen des Auftrags, der Verkündigung schweigend zu lauschen. Immer ist jeder Text auch ein Einspruch gegen die, unsere Kultur beherrschende Schöpfungsgeschichte. In den USA hörte ich das offen ausgesprochen. Literatur, hiess es da. Literatur wäre die Anmassung, selbst einen eigenen Kosmos zu erschaffen. Das klingt herzig für unsere, darin etwas zynischere Kultur. Europäischerweise hat das Patriarchat sich mehr in die Philosophie geworfen. In den Geist. Und regiert da. Aber nicht weniger autonom als die fundamentalistisch religiöse Variante der nordamerikanischen Kultur. Und der Geist. Der ist sich selbst nicht wissend seinem Unbewussten und dem Über Ich vollkommen ausgeliefert. Alles und alle werden so als Fortsetzung von sich selbst gelesen. Und was nicht genauso ist, wird als minderwertige Form des Gleichen eingestuft. Mit den schlimmsten Folgen für die Literatur als Schlachtfeld sich an immer neuen Opfern erfrischenden Sadismen, die Expertise genannt werden. Kritikergrant. Das ist dann die Grundlage für Meinung und war selbst schon nur Meinung. Stammtisch ist das. Und wie beim Stammtisch immer sind die „Jungen" unfähig und erschlafft. Die „Alten". Die konnten es noch. Nostalgie. Reich-Ranickis Leseliste ist die Illustration dieses Vorgangs. Erst in der Reflexion der eigenen Projektionen wird die Bauform eines Texts überhaupt erst sichtbar. Nach der Befreiung von fixierten Vorstellungen, wie ein Text sein soll, ist Text auffindbar. Erst dann eröffnen sich die Intentionen dieses einen bestimmten Texts. Diese Selbstreflexion ist stete und nie endende Voraussetzung. Das Argument der Routine. Oder der Expertise. Das sind schon wieder die ersten Schritte in Auratisierung. In diesem Fall in die Selbstauratisierung des Kritikers oder der Kritikerin. Und. Der Text wird beim Lesen nicht mehr mitgedacht. Der Leser oder die Leserin kann nur sich und unwissentlich mitdenken. Der Kritiker oder die Kritikerin liest nur noch die eigene Aura in der Verabredung des Literaturbetriebs auf einen autonomen Textbegriff, in dem die kulturelle Beschränkung einer western white male supremacy je weiterkonstruiert werden. Geistige Landesverteidigung in nationalen Variationen ist das. Nach der Reflexion des Eigenen und damit Sichtbarmachung eines möglichen Anderen im Text muss noch einmal gelesen werden. Genau diese Schnittlinie den Text entlang muss festgestellt werden, ob das Andere eine Möglichkeit des Texts ist. Oder ob der Text sich in die Verabredung des Literaturbetriebs einordnet und in dieser Grundkonstruktion das Andere als Möglichkeit gar nicht zulässt. Und darin wiederum der Leser und die Leserin den autonomen Textbegriff wieder denken kann. Weiterdenken. Und die Erfrischung des Hegemonialen am hegemonialen Text ermöglicht wird. Es geht um die Frage, wie viel Autonomie ein Text in das Lesen von ihm zurückschreibt. Oder wie weit das Andere zu denken möglich ist. Das ist die Frage, die Literaturkritik zu beantworten hätte. Auf allen Ebenen. Bei der Literaturförderung ganz besonders.