Einleitung
von Annette Menting
Erschienen in: Schauspielhaus Chemnitz – Zwischen Zeiten und Räumen (01/2025)
1.1. Schauspielhaus Chemnitz
Diese Arbeit betrachtet die wechselvolle Geschichte des Schauspielhauses Chemnitz in multiperspektivischer Weise, indem Architektur und theaterkünstlerische Praxis miteinander verbunden werden.1 Sowohl Entwurfsprozesse der Spielorte als auch exemplarische, dort praktizierte Aufführungsweisen aus den letzten fünfzig Jahren werden untersucht. Die Spielorte und Aufführungen entwickelten sich in vielschichtigen, kulturellen und gesellschaftspolitischen Kontexten der DDR-Zeit, den ersten postsozialistischen Dekaden und der Gegenwart, zwischen verschiedenen Zeiten und Räumen. Heute befinden sich Schauspiel und Figurentheater erneut in einer Übergangssituation, da ihr gemeinsames Haus bauliche Veränderungen erfahren soll und die Theater Chemnitz zugleich im Kontext der Kulturhaupt- stadt Europas 2025 stehen.
Ein umfassenderes Forschungsprojekt zu „Architektur und Raum für die Aufführungskünste“ bildet den Rahmen dieser Darstellung – insofern sind übergreifende Fragen zum Theater ebenso von Interesse wie spezifische Aspekte des Schauspielhauses Chemnitz. Die Untersuchung konzentriert sich nicht allein auf eine Zustandsaufnahme des Gebauten, sondern zugleich auf Konzepte, Gebrauchsweisen und Transformationen. Damit rückt nicht nur das spätmoderne Theaterhaus von Rudolf Weißer in den Fokus, das in einem einzigartigen urbanen Kontext steht: als Anbau an ein Altenpflegeheim und umgeben von einem Stadtpark. Zugleich erweitert die Beobachtung von Architektur und Raum als Prozess eine objektorientierte Perspektive und bezieht verschiedene Akteure, Praktiken und zeitliche Bedingtheiten ein: Wie verlaufen Entscheidungsprozesse bei der Konzeption eines Theaterhauses und wer beeinflusst seinen Entwurf? Welche Bedeutung haben Rahmenbedingungen wie das Bauen im Bestand und der Denkmalschutz für die Konzeption von Spielstätten? Wie verhalten sich Architektur, Verortung, innere Raumordnung und die Aufführungsformen des Theaters zueinander? Welche Wandlungsfähigkeit haben die Spielorte und welche Relevanz hat dies für die theaterkünstlerische Praxis? Welchen Einfluss hat die Errichtung von anderen Kulturbauten wie Musiktheatern, Kulturhäusern oder Museen auf die Entwicklung von Spielstätten in der Stadt? Zu welchen Aneignungsformen und Szenografien kommt es in Interimsspielstätten und bei Umnutzung von Bestandsräumen? Diese Fragen zielen, über Erkenntnisse zum Schauspielhaus Chemnitz hinaus, auch auf Situationen von Spielstätten und Räumen für die Aufführungskünste an anderen Orten.
Zeitlich umfasst diese Darstellung die Geschichte, Gegenwart und Perspektive des Schauspielhauses. Seine Entwicklung wird für den Zeitraum von 1945 bis heute skizziert: mit der Zerstörung des alten Städtischen Schauspielhauses, den Interimsspielorten im Adventhaus und im ehemaligen Festsaal des Altersheims, dem Theaterbrand vor der Uraufführung von Volker Brauns Tinka, dem Wiederaufbau und der Rekonstruktion des Hauses sowie den Interimsspielstätten theater oben und Stadthalle. Mit Blick auf die Erweiterung des Spartenangebots durch den Einzug des Figurentheaters in das Schauspielhaus wird auch die Geschichte der kommunalen Puppenbühne in die Betrachtung eingebunden. Angesichts der Fragestellungen werden in dieser Arbeit die Zeiträume der 1970er- bis 1980er-Jahre sowie seit den 2010er-Jahren akzentuiert. Dabei werden in der Zusammenführung von Standorten, die Orte der Theaterentwürfe und der verschiedenen Spielstätten einschließen, die Nutzungs- und Planungsprozesse als Bewegung des Theaters durch die Stadt nachgezeichnet.
Ein thematischer Schwerpunkt sind die Entwurfsprozesse des Theaterhauses für Karl-Marx-Stadt, die zugleich seine außergewöhnlichen Entstehungsbedingungen erschließen. Hierzu werden verschiedene Stränge verfolgt: Die städtebaulichen Konzeptionen mit wechselnden Verortungen für einen Theaterneubau in den Aufbauplanungen des Stadtzentrums seit Mitte der 1950er-Jahre blieben letztlich reine Absichtsbekundung. Die drei Exkurse zum Architekten Rudolf Weißer, zum Institut für Kulturbauten und zur Stadthalle Chemnitz binden Akteure und Aktanten ein, die in den 1970er-Jahren prägend für die Konzeption des Schauspielhauses waren. Die Entstehungs- und Planungsprozesse zu Wiederaufbau und Rekonstruktion nach der Brandkatastrophe und der realisierte Bau werden hinsichtlich seiner Publikums- und Aufführungsräume untersucht, insbesondere des Foyers, der Spielorte Große Bühne, Foyertheater, Probebühne, der Bühnentechnik und Produktionsbereiche. Zur Einordnung der baulichen Maßnahme werden der zeitbedingt konnotierte Begriff Rekonstruktion und die Rezeption des Theaterbaus in der DDR ausgeführt. Die wechselnden kulturpolitischen Strategien in der DDR zeigen sich in dem 1980 fertiggestellten Theaterhaus: Während die Stadthalle programmatisch als innovatives Kulturhaus entstand, wurde das Schauspielhaus quasi als Schwarzbau außer der Reihe üblicher zentralistischer Planwirtschaft errichtet. Dies führte zu produktiven Spannungen zwischen Erneuerungswünschen und Rekonstruktions-Auflagen – mit dem Ergebnis von spezifischen räumlichen Situationen wie der Vorbühne mit Chemnitzer Ecke, die inzwischen identitätsstiftendes Merkmal ist.
Die gegenwärtige Situation des Schauspielhauses wird in einer Fotoserie dargestellt: der städtische Umraum, die Lage am Altersheim und im Stadtpark, die Räume im Inneren vom Foyer bis zu den verschiedenen Bühnen, ihrer Technik und Magazine. Eine ausführliche fotografische Erkundung zu Ort und Architektur hat Louis Volkmann durchgeführt, dessen Fotoserie durch Aufnahmen von Juliane Henrich ergänzt wird; sie hat auch eine kleine Serie zum Exkurs Stadthalle erstellt. Die anschließende Zustandsaufnahme widmet sich der Topologie der Spielstätten, den Städtischen Theatern Chemnitz als Kulturinstitution und insbesondere dem Schauspielhaus mit seiner Präsenz als Kulturbau, der sich in den rund 40 Jahren seit seiner Fertigstellung merklich gewandelt hat. Beispiele hierfür sind Transformationen wie die Ein- und Anbauten von Theater-Club, Kleiner Bühne des Figurentheaters sowie die Umnutzung der Probebühne als Spielort Ostflügel.
Im Zentrum der Untersuchung steht die Wechselwirkung von Raumkonzeption und Aufführungspraxis. Um das Verhältnis und die Anordnung von Spiel und Publikum zu betrachten, werden exemplarische Aufführungen von Schauspiel und Figurentheater in verschiedenen Spielorten skizziert. Parallel zu Quellen- und Archivrecherchen wurden dazu Gespräche zur Theaterarbeit geführt und somit der theaterkünstlerische Gebrauch von Räumen durch die Akteure reflektiert. Mit Hartwig Albiro, dem Schauspieldirektor der 70er- und 80er-Jahre, Hasko Weber als Mitglied und Regisseur der Dramatischen Brigade und langjährigem Intendanten des Weimarer Nationaltheaters, Carsten Knödler als Schauspieldirektor, Gundula Hoffmann als Direktorin des Figurentheaters sowie Raj Ullrich als Technischem Direktor konnten Gespräche geführt werden, die zu den verschiedenen Themenfeldern ausgewertet und in die Publikation aufgenommen sind.
Zur Darstellung der Situation und Perspektive von Stadt und Theater werden themenbezogen die Kultur- und Stadtentwicklung der letzten zehn Jahre in Chemnitz resümiert, die deutlich von der Bewerbung und dem Status Kulturhauptstadt Europas geprägt sind. Auch die jüngsten baulich-räumlichen Konzeptionen und Entwicklungen des Schauspielhauses seit den 2010er-Jahren sind eingebunden, denn für das Haus besteht dringender baulicher Handlungsbedarf wie bei zahlreichen bundesdeutschen Theatern. Daraus entwickelte sich auch die Diskussion um einen Neubau im Zentrum nahe des Theaterplatzes, womit seinerzeit zugleich die dezentrale Lage des Schauspielhauses verhandelt wurde. Inzwischen steht das Haus unter Denkmalschutz und die stadtpolitischen Schwerpunkte haben sich verlagert, so dass sich mit der geplanten Sanierung und Modernisierung der spätmodernen Theaterarchitektur von Rudolf Weißer neue Aspekten verknüpfen. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Interimssituation von Schauspiel und Figurentheater im Spinnbau wird zugleich die Bedeutung des Theaters als vielschichtiger Kulturort und Impulsgeber für die Stadt und das Industriequartier Altchemnitz aufgezeigt. In einem Gespräch mit dem Programm-Geschäftsführer Stefan Schmidtke wird die Perspektive des Theaters im Kontext der Stadt Chemnitz als Kulturhauptstadt Europas 2025 aufgezeigt. Über die Fallstudie und den spezifischen Kontext hinaus versteht die Publikation sich auch als Beitrag für die vielschichtigen Diskurse zu Spielstätten, Aufführungsorten und zur Theaterarchitektur.
1.2 Architektur und Raum für die Aufführungskünste
Diese Arbeit entstand im Rahmen des transdisziplinären DFG-Forschungsprojektes „Architektur und Raum für die Aufführungskünste“ von Barbara Büscher und Annette Menting, das Fragen nach dem Zusammenhang zwischen Theater als Bereich der Aufführungskünste und Theater als Ort und Gebäude nachgeht.2 Wir fragen danach, wie sich der Zusammenhang zwischen Architektur und urbaner Verortung der Spielstätten, zwischen deren Raumordnung im Inneren – als Gefüge unterschiedlich funktionaler Räume wie als Schau- und Spielanordnung – und den in und mit ihnen agierenden Präsentationsformen und szenischen Praktiken beschreiben und differenzieren lässt. Ein Strang unseres Projektes beschäftigt sich mit den Topologien von Spielstätten ausgewählter Städte. Dabei haben wir den Gegenstand unserer Untersuchung von genuinen Theaterbauten auf die Vielzahl unterschiedlicher Orte und Gebäude in einer Stadt erweitert, die mit Aufführungen bespielt werden, und beschreiben ihre Differenzen in Architektur, Raumausstattung und Programmierung. Dass wir bei der Untersuchung von Szenen der Aufführungskünste die Fokussierung auf Theater überschreiten, trägt einer Entwicklung Rechnung, die sich zunächst in den Produktions häusern der freien Szene und in einigen wenigen Stadttheatern manifestierte, deren Programme von der Öffnung in andere Künste und von diskursiven Formaten zeugen. Erweitert man in dieser Weise die Perspektive, ist aufgrund der Vielzahl und der mit unterschiedlicher Genauigkeit dokumentierten Häuser, Orte und Räume nur eine exemplarische Untersuchung weniger Beispiele möglich. Die Arbeitshefte verstehen wir als einen Baustein in der Fortschreibung von Geschichte(n) und in der Analyse von Praktiken zeitgenössischer Aufführungskünste zwischen Theater, Performance, Tanz, Musik/Theater, visuellen und medialen Künsten. Und wir verstehen sie als einen Baustein zur jüngeren Architekturgeschichte und der Analyse aktueller kultureller Infrastruktur, die Spielstätten in ihrer Verortung im Stadtgefüge beschreibt.3
Aus dem Projektbereich Architektur und Stadt werden in den Arbeitsheften urbane Topologien und Orte für die Aufführungskünste vorgestellt. Sie geben Einblick in das baulich-räumliche Spektrum unterschiedlicher Aufführungsorte, so dass beobachtet werden kann, wie die Künste sich in den Stadtraum bewegen und Zugänge zu diesen Räumen geschaffen werden. Die Fallstudien recherchieren und betrachten exemplarische Spielstätten wie das Schauspielhaus Chemnitz, das Doppeltheater mit Staatsoperette und Theater Junge Generation im Kraftwerk Mitte Dresden und das Produktionshaus Kampnagel Hamburg. Dabei werden neben dem realisierten Bauwerk auch die Entwicklungs- und Planungsprozesse sowie die Gebrauchsweisen untersucht, um zu beobachten, inwiefern die Raumpraktiken als konstitutive Gestaltungsparameter sowohl aus Sicht der Architektur als auch der Aufführung verstanden werden. Perspektiven für die zukünftige Entwicklung sind eingebunden, da in den letzten Jahren eine Intensivierung von Entwurfs- und Bauaktivitäten in diesem Bereich festzustellen ist. Die Recherchen zu diesem Arbeitsheft #5 Schauspielhaus Chemnitz haben in den letzten Jahren etappenweise stattgefunden und wurden im Sommer 2024 abgeschlossen.
1 Chemnitz hieß Karl-Marx-Stadt in dem Zeitraum vom 10.5.1953 bis zum 1.6.1990; hier wird die Stadt Chemnitz genannt, wenn der Zeitraum übergreifend gemeint ist.
2 Das transdisziplinäre Forschungsprojekt „Architektur und Raum für die Aufführungskünste“ wird gefördert von der DFG 2016–2025 und geleitet von Barbara Büscher, Theater- und Medienwissenschaftlerin, und Annette Menting, Architekturhistorikerin und -kritikerin.
3 Bisher erschienen: Arbeitshefte #1, 2 und 4 von Barbara Büscher und Verena Elisabet Eitel zu den Produktionshäusern #1 Forum Freies Theater Düsseldorf, #2 PACT Zollverein Essen, #4 Hellerau, Europäisches Zentrum der Künste Dresden; Arbeitsheft #3 Urbane Topologie Chemnitz und Arbeitsheft #5 Schauspielhaus Chemnitz von Annette Menting. In Planung: Arbeitshefte zu Staatsoperette und Theater Junge Generation im Kraftwerk Mitte Dresden und dem Produktionshaus Kampnagel Hamburg.