Wütende zuerst
von Bernd Stegemann
Erschienen in: Wendungen: Wutkultur (08/2021)
Die Grenze, die durch Kränkung entsteht, teilt nicht nur die Individuen in Gruppen ein, sondern sie legt auch eine Hierarchie zwischen diesen fest. Und damit kommt man zum machtpolitischen Kern linker Identitätspolitik. Die Teilung in Opfer- und Tätergruppen folgt der gleichen Doppelgesichtigkeit wie die Begründung der Gemeinschaften als essentialistisch oder konstruiert. Nach dieser Logik kann die Kränkung immer nur von der Täter- zur Opfergruppe erfolgen. Die Frauen können die Männer nicht kränken. Der argumentative Zirkel, der hier angewendet wird, ist spektakulär. Denn die Bildung der Kränkungsgemeinschaft erfolgt über das Gefühl der Kränkung. Doch nicht jeder hat das Recht, gekränkt zu sein, denn das haben nur die Mitglieder einer Opfergruppe. So bedingen sich Kränkung und Opferidentität gegenseitig, und niemand vermag zu sagen, was hier Henne oder Ei ist. Man muss zur Opfergruppe gehören, um eine politisch verwertbare Kränkung vorweisen zu können, und man muss gekränkt sein, um zu einer Opfergruppe zu gehören. Der Hauptmann von Köpenick stand schon vor ähnlichen Problemen, als er vom preußischen Obrigkeitsstaat Papiere haben wollte, die seine Identität belegen: ohne Aufenthaltsgenehmigung keine Arbeitserlaubnis, ohne Arbeitserlaubnis keine Aufenthaltsgenehmigung. Damals wie heute hat also derjenige die Macht, der über die Entscheidung wacht. Wer zur Opfergruppe gehört, der kann durch...