Magazin
Das Theater des Wirklichen
John Le Carré: „Der Taubentunnel. Geschichten aus meinem Leben“. Ullstein Verlag, Berlin 2016, 383 S., 22 EUR.
von Holger Teschke
Erschienen in: Theater der Zeit: Wie es euch gefällt – Christian Friedel vertont Shakespeare (12/2016)
Eine Empfehlung für John Le Carrés grandioses Erinnerungsbuch „Der Taubentunnel“ in Theater der Zeit? Hat der je fürs Theater geschrieben? Ja, auch das hat der „Großmeister des Spionageromans“, wie ihn die Times feierte, getan. Aber sein Stück „Endstation“ fand sich selbst anlässlich seines 85. Geburtstages auf keinem Spielplan. Dafür werden seine Romane seit dem legendären „Der Spion, der aus der Kälte kam“, immer wieder neu verfilmt, zuletzt „A Most Wanted Man“ mit Philip Seymour Hoffman und Robin Wright. Filmgeschichte schrieb vor allem die Darstellung des George Smiley durch Alec Guinness, dem der Autor in seinen Erinnerungen ein ganzes Kapitel widmet. Ein Kapitel, von dem die Theaterkritik mal wieder lernen könnte, wie man die Arbeit eines Schauspielers beschreibt: mit der gleichen präzisen Detailkenntnis und kritischen Empathie, mit der sich ein Schriftsteller seinen Figuren nähert. Aber das ist nicht der einzige Grund für diese Empfehlung.
Ein ebenso bemerkenswerter findet sich in den vier Kapiteln, die Le Carré unter dem Titel „Das Theater der Wirklichkeit“ versammelt hat und in denen er von der Entstehung seines Romans „Die Libelle“ berichtet. Der Thriller erzählt die Geschichte der jungen englischen Schauspielerin Charlie, die nach einer Reihe von Anschlägen in Europa vom israelischen Geheimdienst angeworben wird, um in den inneren Kreis des palästinensischen Terrornetzwerks vorzudringen. Für dieses Buch ist Le Carré zwischen 1981 und 1983 in den Nahen Osten gereist und hat sich dort unter anderem mit Jassir Arafat getroffen. Die Beschreibung dieser Begegnung allein lohnt schon die Lektüre. Ebenso interessant für Theaterleute ist das Phänomen, dem der Autor bei dieser Recherche schon lange vor der Erfindung des postdramatischen Theaters auf der Spur war: Was passiert mit einer Schauspielerin, die plötzlich im wahren Leben eine Rolle spielen muss, deren Konstruktion und Absicht ihr bewusst ist, die sie aber trotzdem spielt, weil ihr auf der Bühne der Glauben an den Sinn ihres Spiels seit Langem abhandengekommen ist? Wird aus der Rolle ihres Lebens der Verrat an ihrem Beruf oder lernt sie gerade durch das ebenso bewusste wie riskante Spiel, dessen Sinn dem Prüfstand der Realität auszusetzen?
John Le Carré hat diese Frage bei fast allen seinen Protagonisten von Alec Leamas bis Günther Bachmann gestellt. Was kann ein Mensch tun, um im großen Spiel von Wahrheit und Lüge Distanz zu bewahren und nicht im Räderwerk der Mächte aufgerieben zu werden? Eine Frage, die schon Sophokles und Shakespeare fasziniert hat und von der Le Carré für das 20. Jahrhundert in seinen Büchern auf erfahrungsreiche und komplexe Weise erzählt. Seine Erinnerungen stehen seinen Romanen darin nicht nach und geben einen großartigen Einblick in jenes „Theater des Wirklichen“, das auf unseren Bühnen viel zu selten zu sehen ist. Und weil Drehbücher im Theater ja immer noch Mode sind – warum nicht auch die nach John Le Carrés Thrillern? //