Vorwort
von Barbara Engelhardt und Andrea Zagorski
Erschienen in: Arbeitsbuch 2008: Stück-Werk 5 – Neue deutschsprachige Dramatik im Porträt (07/2008)
Als 1997 das erste Arbeitsbuch Stück-Werk bei Theater der Zeit erschien, stand die deutschsprachige Dramatik vor einem Aufschwung, der sich als ungemein fruchtbar für das Theater erweisen sollte: Junge Theaterautoren eroberten sich die Bühnen zurück, von denen sie in den Zeiten radikaler Klassikerlesarten lange verbannt waren. Seit zehn Jahren nun haben sie sich zurückgeschrieben, werden gespielt, gelesen, mit Stückaufträgen versehen, als Hausautoren an die Häuser geholt oder schreiben mit an projektbezogenen Texten, die sich nur bedingt vom szenischen Bühnengeschehen abkoppeln lassen. So sind die Autorinnen und Autoren heute auf verschiedenste Weisen im deutschsprachigen Theater präsent. Weil aber das Theater immer wieder auch auf Moden setzt, zu denen das Schielen auf Uraufführungen oder gar „Ur-Lesungen" gehört, ist die deutschsprachige Dramatik in stetem Wandel und ihre Fülle auch einer gewissen Schnelllebigkeit geschuldet. Elf Jahre nach dem ersten Stück-Werk folgt deshalb nun der fünfte Band dieser Reihe, diesmal nach der Devise: 39 (Dramatiker/-innen) unter 40 (Jahren) mit mindestens drei Uraufführungen bis Ende der laufenden Spielzeit 2007/08. Weil Lesungen hier nicht einberechnet werden, taucht mancher Name nicht auf - sogar solcher Autoren, die regelmäßig in szenischen Lesungen vorgestellt werden oder mit ihren ersten Stücken gleich für Furore sorgen, wie Darja Stocker oder der ebenfalls mit dem ersten inszenierten Stück zu den Mülheimer Theatertagen eingeladene Ewald Palmetshofer. Wären diese Auswahlkriterien aber nicht gegeben, ließe sich ein solches Buch nicht auf einen leserlichen Umfang eingrenzen. Denn auch in rein quantitativem Sinne hat sich seit 1997 viel getan: An Nachwuchs mangelt es der deutschsprachigen Dramatik nicht, wohl auch deshalb, weil sich die Ausbildungsstätten und -formen für Dramatiker/-innen multipliziert und professionalisiert haben. Und so kann auch dieses Stück-Werk kein lexikalisches Unterfangen sein, das Vollständigkeit behaupten will. Vielmehr gilt es mithilfe von Einzelporträts junger, tatsächlich auch gespielter Theaterautorinnen und -autoren ein möglichst detailliertes Bild davon zu zeichnen, welche Impulse für das zeitgenössische Theater heute von der Dramatik ausgehen können, welche Fragen und Inhalte die Autoren gemeinsam umtreiben oder auch voneinander unterscheiden, welche Formen, Sprachen oder Arbeitsweisen sie jeweils kennzeichnen.
Wer sich in der zeitgenössischen Dramatik wirklich orientieren will, wird um die Lektüre der Stücke nicht herumkommen. Denn häufig werden nur die neuesten Stücke von den Theatern und Medien wahrgenommen, ohne die „Werkgeschichte" der Autorin bzw. des Autors zu berücksichtigen. Konkret bedeutet das: Wenige Stücke werden nachgespielt, ältere Texte versinken einfach in Vergessenheit, auch wenn sie - im Sinne einer allzeit geforderten „Nachhaltigkeit" - sich überzeugend aktuell zur Gesellschaft heute verhalten. So sind bei den Namen, die seit etlichen Jahren für „junge" Dramatik stehen, einige Stücke zwar immer mal wieder auf deutschen Bühnen zu sehen - etwa einzelne Texte von Lukas Bärfuss, Martin Heckmanns oder Marius von Mayenburg. Im Grunde aber treibt der Theatermarkt mit seiner Nachfrage das Angebot häufig unsinnig in die Höhe. Gerade jüngere Autoren machen immer seltener die wichtige Erfahrung verschiedener Inszenierungen eines Stücks, die dessen ästhetisches oder thematisches Potenzial unterschiedlich ausloten würden. Gleichzeitig treibt der Theaterbetrieb den Produktionsdruck mächtig hoch: Zwar sind gerade Stückaufträge seitens der Theater ein wichtiges, auch finanziell nicht zu unterschätzendes Moment in der Laufbahn eines Dramatikers,
häufig aber sind sie mit einem Zeitplan für Schreiber (und Regisseur) verbunden, der noch die kreativsten Autoren in Schwierigkeiten bringt. Jedenfalls ist dies einer der Kritikpunkte, die eine ganze Reihe von Dramatikern, Verlegern und Theaterschaffenden im Sommer 2007 zu einer „Wunschliste" bzw. öffentlichen Erklärung zusammengeführt haben. Eine der Initiatorinnen dieser um mehr Dialog mit den Theatern
ringenden Petition ist die Dramatikerin Katharina Schlender. In einem Gespräch (TdZ 10/07) warnt sie vor den Folgen der aktuellen Arbeitsbedingungen für Dramatiker: „Größere Stoffe, die mich jetzt interessieren würden, lassen sich nicht schnell bearbeiten. Theater erhoffen sich von den Autoren ‚Stückburgen‘, geben aber oft Verhältnisse vor, in denen meist nur ‚Texthütten‘ entstehen können."
Die Spannbreite thematischer und formaler Merkmale der einzelnen, in diesem Band porträtierten Autorinnen und Autoren ist weit. Tatsächlich aber fällt auf, dass wenige Stücke sich derzeit bewusst mit politischen Diskursen oder Ereignissen in ihrer historischen Komplexität auseinandersetzen. Abgesehen auch hier von Auftragswerken, die sich „einpassen" in einen konzeptuellen Spielplanschwerpunkt, um den herum ein Theater gern neben anderen Veranstaltungen auch ein neues Stück zum Thema ansetzt. Idealerweise bietet eine solche Einbindung eines Autors auch die wichtige Praxisnähe ans Theater, zumindest aber einen Dialogpartner in Person zuständiger Dramaturgen. Häufig jedoch konzentrieren sich die Dramatiker/-innen heute auf die ihnen persönlich, d. h. auch biografisch nahen Themenbereichen, problematisieren zwischenmenschliche Beziehungen (Familie, Paare) oder die Konfrontation des Einzelnen innerhalb eines sozialen Gefüges zwischen Vereinzelung und Selbstbehauptung. Identitätssucher bevölkern die Stücke, mal skurril, mal tragisch, mal gewalttätig. Die Schwierigkeit, einen Platz in der Gesellschaft zu finden, seine Eigenarten leben zu können, treibt Protagonisten jeden Alters um. Und wo Ideale und Zukunftsperspektiven nur noch als Leerstelle beschrieben werden, lassen sich die Identitätssucher umso mehr auf sich selbst zurückfallen. Als Thema ist dies generationsübergreifend, auch sind die Übergänge zwischen „Jugend"- und „Erwachsenen"-Theater fließender geworden und schreiben zahlreiche Dramatiker (u. a. Kristo `S´agor, Thilo Reffert) selbstbewusst auch für ein junges Publikum. Übrigens auch solche, die wie Juliane Kann oder Anja Hilling eine dezidiert künstliche oder lyrische Sprache keineswegs einem „Jugendthema" unterordnen.
Sprache und Form bleiben ein wesentliches Erkennungsmerkmal vieler der ganz jungen Autoren, wie Gerhild Steinbuch, Dirk Laucke, Nora Mansmann oder Johannes Schrettle. Das fällt auf, nachdem in den vergangenen Jahren eine Nähe zum Well-made Play erkennbar war, die in Stadttheater-Inszenierungen häufig eher schrill-komisch unterstrichen wurde als konterkariert. Überhaupt scheint die gängige Inszenierungspraxis nicht immer auf Gegenliebe seitens der Dramatiker/-innen zu stoßen, gerade weil sie so manche formale Rauheiten der Texte abschleift. Darin allerdings den einzigen Grund zu sehen, warum einige Autoren - Gesine Danckwart oder Nuran David Calis zum Beispiel - ihre Texte gleich selbst inszenieren, ginge wohl zu weit. Wohl aber begeistern sich viele Dramatiker zunehmend für die Team- oder Projektarbeit. Die dabei entstehenden Texte beweisen eine Selbständigkeit und damit auch Nachspielbarkeit, die sie von Inszenierungsprotokollen unterscheiden. Die vielfältige Gestalt formaler und sprachlicher Art, die sich bei den hier vorgestellten Stücken abzeichnet, lässt sich nicht in Tendenzen fassen. Sicherlich aber drängt sich manchmal der Eindruck von übergreifenden Moden auf, es lassen sich Vorbilder und „Schulen" erkennen - und nicht nur die Berliner Universität der Künste mit ihrem Studiengang „Szenisches Schreiben", sondern auch ambitionierte Autorenwerkstätten an Theatern. Dennoch gewinnt man den Eindruck, die Fülle zeitgenössischer Theatertexte sei so disparat wie reich an durchsetzungsfähigen Stimmen, die im Theater gehört werden wollen.
Nicht zuletzt deshalb will auch ein solches „Handbuch" Stück-Werk bleiben. Als solches behauptet es keinen Überblick über die gesamte deutschsprachige Dramatik - allein das alterspezifische Auswahlkriterium der hier Vertretenen ließe das nicht zu. Statt Jugendlichkeit gegen die bereits über Vierzigjährigen, mehr oder minder auf den Bühnen angekommenen Autoren als Trumpf auszuspielen, gilt es zunächst einmal, eine nachwachsende Generation ganz ohne medialen Hype ernst zu nehmen. Denn wo Porträts und Beschreibungen erste Leseeindrücke wiedergeben, eine Sichtweise auf einen Autor begründen und den Blick vom aktuellen Projekt auf die Hintergründe früherer Stücke weiten, soll in erster Linie neugierig gemacht werden: auf die Lektüre der Stücke an sich, die inszeniert sein wollen und dafür ein interessiertes, kundiges Publikum verdienen.
Barbara Engelhardt | 1968, ist Publizistin und Festivalkuratorin, lebt in Straßburg
Andrea Zagorski | 1970, ist Projektkoordinatorin für den Bereich Gegenwartsdramatik und Übersetzung am ITI