Die neuen Pietisten
von Bernd Stegemann
Erschienen in: Wendungen: Wutkultur (08/2021)
Die beeindruckend paradoxe Leistung der linken Identitätspolitik besteht also darin, dass sie es schafft, aus der individuellen Kränkung Gemeinschaften zu formen, die ihre Interessen wirkungsvoll durchsetzen und zugleich als ohnmächtige Opfer erscheinen. Damit hat sie ein erfolgreiches Gegenmodell zur rechten Identitätspolitik gefunden. Diese inszeniert sich mit großem Aplomb als gedemütigte Täter und löst dabei vor allem Widerstand aus. Ihre politische Wirkung steht diametral zu ihrem Selbstbild. Die rechte Identitätspolitik ist ein Scheinriese. Sie wirkt gewaltig und bewegt nichts. Die linke Identitätspolitik ist ein Scheinzwerg. Sie wirkt opferklein und bekommt gerade darum immer mehr Resonanzräume in der Öffentlichkeit.
Der Titel eines der zahlreichen Bücher, die aus der Opferperspektive Anklage gegen die Gesellschaft führen, bringt das Paradox schlagkräftig auf den Punkt: „Eure Heimat ist unser Albtraum“. 2019 erschienen, versammelt es eine Reihe von Stimmen der linken Identitätspolitik. Das Paradox des Titels besteht darin, dass eine Spaltung zwischen einem Autoren-Wir und einem „Eure Heimat“ behauptet wird, und dass zugleich das Wir der Autoren betont, dass sie selbstverständlich alle deutsche Staatsbürger seien. Nach dieser einfachen Feststellung könnte man das Buch wieder zuklappen, denn es gibt offensichtlich keinen juristischen Unterschied zwischen der Heimat der Deutschen und der der Autoren. Doch auf solche konkreten Fakten wollen...