1.2. Ein anamorphotischer Küstenspaziergang
von Sebastian Kirsch
Erschienen in: Das Reale der Perspektive – Der Barock, die Lacan’sche Psychoanalyse und das ‚Untote‘ in der Kultur (07/2013)
Es gibt noch ein weiteres, prominentes Problem in Mandelbrots Buch, das auch Deleuze im Kontext der barocken Inflexion erwähnt (F 32) und das hier noch einmal kurz aufgegriffen werden soll: das Problem der »Länge einer geographischen Küste«. Es handelt sich um eine der meistzitierten Demonstrationen Mandelbrots, die die »fraktale Geometrie« eröffnet: die Vermessung der Küstenlinie Englands, ein Problem also, das der Kartographie entstammt (und insofern auch in Bezug zur Erfindung der staatlichen Konturen um 1600 steht). Dieses Beispiel ist nicht nur darum so bedeutend, weil sich die Rolle der Selbstähnlichkeit in der »fraktalen Geometrie« an ihm besonders anschaulich darstellen lässt, sondern auch, weil es auf eine Umdeutung des traditionellen Begriffs der Dimension führt, die in Leibniz’ Argumentation zum Raum bereits angelegt ist. Es geht um die Frage, wie die Länge einer Küstenlinie präzise angegeben werden kann, die ja unregelmäßig und häufig in extremen Schlangenkurven – Inflexionen mithin – verläuft. Man könnte nun zunächst einen Anfangs- und Endpunkt setzen und sagen, dass die Küstenlinie durch ihre Windungen auf jeden Fall länger sein muss als die Gerade, die diese beiden Punkte verbindet. Die Frage ist nur: um wie viel länger? »Das Resultat«, schreibt Mandelbrot, »ist außerordentlich seltsam: Die Länge einer Küstenlinie erweist...