Theater der Zeit

Bericht

Die „Illusion des Lebens“

Wie die Kunst des Puppenspiels ermöglicht, Medizin neu zu denken1

Die Figurentheater-Künstlerinnen Marina Tsaplina, Jules Odendahl-James und Torry Bend berichten von ihrer Kooperation mit dem medizinischen Studiengang „Reimagine Medicine“ an der Duke University. Um der Krise des Gesundheitswesens in den USA zu begegnen, erarbeiten sie mit den Medizinstudent*innen künstlerische Experimente, in denen die Achtsamkeit auf den eigenen Körper und die Empathie gegenüber anderen gestärkt werden.

von Marina Tsaplina, Torry Bend und Jules Odendahl-James

Erschienen in: double 40: Good Vibrations! – Resonanzen im Figurentheater (11/2019)

Assoziationen: Wissenschaft Puppen-, Figuren- & Objekttheater

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„Die Pädagogik des Leidens steht im Gegensatz zu Verwaltungssystemen, die Leiden nicht abbilden können, weil sie von den Bedürfnissen des Körpers abstrahieren. Wenn aber die Verletzlichkeit des Körpers und der Schmerz in den Vordergrund gerückt werden sollen, dann brauchen wir eine neue Sozialethik.“
Arthur Frank, The Wounded Storyteller

Der medizinische Sektor in den Vereinigten Staaten ist in der Krise. Burnout von Ärzt*innen weitet sich zur Epidemie aus, wenn 46% der Mediziner von „physischem oder mentalem Kollaps durch Überarbeitung und Stress“ berichten.2 Der Appell„Ärzte, ihr sollt euch selbst heilen“ war mit Blick auf die Sicherheit der Patient*innen und des gesamten Berufsstandes noch nie dringender als heute.3 Der amerikanische Gesundheits- und Pflegesektor wird geplagt von festgefahrener rassischer und ökonomischer Ungleichheit und Geschlechterungerechtigkeit. Als Reaktion darauf wurden in den letzten dreißig Jahren Proteste von Patient*innen- und Behindertenorganisation laut, die eine Stärkung der Selbstbestimmung in der Krankheitserfahrung einfordern.

Aber wie können wir Individuen dazu auffordern, sich selbst zu heilen, in einem System, das keinen Spielraum dafür bietet? Es handelt sich um eine systemische Krise, die alle Facetten des Gesundheitswesens im 21. Jahrhundert betrifft: das Wegrationalisieren von Pflegediensten, Pfleger*innen und Ärzt*innen, das Negieren von Körpern und Stimmen der Patient*innen. Die profitgierige Gesundheits-Industrie reduziert Menschen zu biologischen Einheiten, gesetzlichen Haftungen, Dollar-Zeichen und Verwaltungsbelastungen. Ärzt*innen sind trotz ihrer „top of the food chain“-Stellung nur mehr Aushängeschilder, ihre Selbstbestimmung wird von Bürokratie und der Technologisierung der medizinischen Anwendungen extrem eingeschränkt. Die kranken und zu pflegenden Körper werden zu Objekten, die im Rahmen der Versicherungsregularien untersucht, kontrolliert und kategorisiert werden. Hinzu kommt, dass die medizinische Ausbildung von künftigen Ärzt*innen und Pfleger*innen stark von der naturwissenschaftlichen Perspektive dominiert, wenn nicht sogar monopolisiert ist und eine vollkommen mechanische Sicht auf den Körper evoziert.

Im Sommer 2018 haben die Autorinnen dieses Textes das Unterrichtsmodul „Puppetry and Embodied Imagination“ als Teil des neuen Programms „Reimagine Medicine“ im Rahmen der vorklinischen Ausbildung für Bachelor-Studierende an der Duke University entworfen. Das Ziel dieses Programms ist es, die Persönlichkeit, die Praktiken und die philosophischen Grundlagen, die für die Arbeit im Kontext von menschlichem Leid, Verlust und Tod erforderlich sind, zu stärken.

Die zentrale Rolle der Künste bei der Bewältigung dieser Aufgabe wird durch Dr. Raymond Barfields Zusammenarbeit mit der Puppenspiel-Künstlerin und Aktivistin Marina Tsaplina bei der Entwicklung des Programms verdeutlicht. Das Puppenspiel wurde nicht nur für die Erforschung der kreativen Imagination oder des ‚storytelling‘ zum zentralen Mittel, sondern diente auch dazu, die Verkörperung selbst, die im Rahmen der Erfahrung, Diagnose und Therapie von Krankheit gemeinschaftlich entsteht, zu untersuchen. Wir begannen zu analysieren, wie die Praxis des Puppenspiels Präsenz, Aufmerksamkeit und Imagination kultivieren kann.

Form als Inhalt

Um eine „Illusion von Leben“ im Puppenspiel zu erschaffen, braucht es einen Vertrag zwischen Puppenspieler*in und Zuschauer*innen. Die Puppe ist ein materieller Hort für reine Imagination, wo Künstler*innen die Spielregeln setzen, indem sie die Anerkennung der Handlungen des Objekts – sein ‚Leben‘ – durch die Zuschauer*innen vorwegnehmen. Wenn die Illusion erfolgreich ist, dann wird das Objekt zu einem Subjekt, das in der Lage ist, eine Beziehung zu den Zuschauer*innen aufzubauen. Diese Identifikation führt zur Erfahrung von tiefgründiger Schönheit, Trauer, Lachen und Freude im Puppentheater. Wenn ihre poetischen Potentiale über die spezifische Erzählung hinaus aufgerufen werden, dann kann die gleiche Geschichte vielfache Lesarten beinhalten.

Wir haben anhand der wenigen Beispiele aus der medizinischen Literatur drei Bereiche ermittelt, in denen Puppenspiel im Gesundheitswesen eingesetzt wird:

1) um Informationen zu Gesundheit oder Medikationen zu vermitteln;

2) um Empathie und zwischenmenschliche Kommunikation an Pfleger*innen, Ärzt*innen und Studierende zu vermitteln;

3) um Repräsentationslücken zu füllen in den Erzählungen über Krankheit für Patientengruppen und für die weitere Öffentlichkeit, insbesondere in Bezug auf Individuen mit Behinderung.

Die beiden Puppenspielerinnen und Wissenschaftlerinnen Laura Purcell-Gates und Emma Fisher geben zu bedenken, dass „Puppen als materiell konstruierte Körper, ‚kulturelle‘ Konstruktionen ‚des behinderten Körpers‘ sowohl verstärken als auch brechen können.“6 Dementsprechend waren wir fest davon überzeugt, dass wir den überwiegend nicht-behinderten Körpern der Student*innen von „Reimagine Medicine“ nicht die ‚Illusion‘ eines Lebens in Krankheit gegenüberstellen sollten, in der das Objekt/die Puppe ein Mechanismus zur Darstellung von Behinderung wird. Stattdessen gingen wir davon aus, dass der Fokus auf die für das Puppenspiel wesentliche Konstruktion einer Illusion von Leben die Möglichkeiten bietet, den Körper und das Sein als Prozess zu begreifen, indem man die Schichten der Kunstform selbst nach und nach offenlegt. Dadurch gerieten fundamentale Vorstellungen von unserem Sein als ‚Körper in der Welt‘ überhaupt in den Blick.

Der poetische Körper

Wir begannen unsere Unterrichtseinheit nicht mit Puppen, sondern mit den eigenen Körpern der Studierenden. Die insgesamt 18 Stunden dauernde Workshop-Serie knüpfte ein enges Netz von verschiedenen theaterpädagogischen Ansätzen, die den Körper ins Zentrum stellen: Margolis-Methode, Linklater-Stimmtraining, Pochinko Clowns-Technik, Action Theater Improvisation und das Animationstraining des Sandglass Theater.

 Die Grundannahme war, dass Präsenz und Achtsamkeit Motoren der Imagination sind, die ein Bewusstsein über die persönliche Verkörperung kultivieren, durch das die Studierenden beginnen, die Geschichte (das Zeugnis) ihres eigenen Körpers und der Körper der anderen zu verstehen. Die Arbeit konzentrierte sich auf Praktiken in der Beziehung und dem Spannungsverhältnis zu uns selbst sowie zwischen uns und anderen; d. h. wir verorteten Imagination sowohl innerhalb des Körpers als auch durch ihn: den persönlichen und den kollektiven Körper, Mensch und Puppe, sozial und historisch.

Nach dreieinhalb Tagen Körperpraxis führten wir einfache Stabpuppen mit Schaumstoffkugeln ein, die an Trainingsformen des Sandglass Theater angelehnt waren. Die Aufgabe der Studierenden war es, über die eigene Atmung eine Beziehung zum Objekt aufzubauen, während sie ihre imaginative Reichweite ausdehnten, um durch das Objekt ‚wahrzunehmen‘ und eine Reaktion auf Stimuli zu entwickeln. Wir gaben ihnen ein einfaches Szenario an die Hand: eintreten, atmen, etwas sehen, darauf reagieren, abgehen.

Als zweite Puppenform gaben wir ihnen eine Reihe von Puppen mit Leder-Schnapp-Gelenken nach dem Design von Hansjürgen Fettig, die von mehreren Spielern geführt werden. Die Möglichkeit, die Körperteile der Puppe neu zu kombinieren und damit neue ‚Körperrealitäten‘ zu erschaffen, beleuchtete das Wesen von Krankheit/Behinderung und forderte von jeder Spieler*innen-Gruppe, eine neue Basis des Seins für die veränderten Körperformen zu finden, welche die Vorstellungen von ‚normal‘ oder ‚Standard‘ in Frage stellte. Der Einsatz von Schnapp-Gelenken war kein anatomischer ‚Trick‘, sondern offenbarte vielmehr die anatomische Funktion. Wir gehen davon aus, dass der gesunde Körper gegeben und transparent ist, bis er irgendwann einmal nicht mehr funktioniert und seine Konstruiertheit offen sichtbar wird. So wurde die ‚Geschichte‘, die wir erzählten, zu einer Bewegung zwischen verschiedenen Anordnungen von Kohärenz, und gerade in dieser Vermengung von Formen konnten wir das Leben finden.

Eine dieser Anordnungen von Schnapp-Gelenk-Puppenteilen wurde von den Studierenden nach einer Bewegungs-Meditation entwickelt, die aus ihren Körpern die entsprechenden Bilder hervorbrachte. Diese Visualisierungen wurden von Torry Bend und Marina Tsaplina in eine Sammlung von Design-Gesten umgesetzt: individuelle Puppenkörper-Teile, die dann zu vier Puppen komponiert wurden. Dies brachte die eigene Imaginationserfahrung der einzelnen Studierenden in eine greifbare Form, die in Beziehung mit den verkörperten Imaginationen anderer Studierender stand. Diese Puppen wurden so zum Ergebnis von Aushandlungen einer kollektiven Imagination, genauer: indem individuelle Konzepte in ein kohärentes Ganzes geformt wurden, das durch die Verwendung der flexiblen Schnappgelenke jedoch immer die Möglichkeit einer erneuten Durchkreuzung und Unterbrechung barg.

Holistische Medizin

Jede klinische Kommunikationssituation erfordert empfindliche Verhandlungen einer Definition von Realität zwischen dem, was das Pflege- und Ärztepersonal dem Patienten/der Patientin über den Zustand X erzählt, und dem, was die betroffene Person selbst von ihrem Zustand X versteht und in ihm erfährt. Diese Verhandlung zwischen den Patient*innen und den Ärzt*innen wird durch Puppenspiel erneut sichtbar. Für die Studierenden des Programms „Reimagine Medicine“ ist dieses komplexere Verständnis von Krankheit produktiv. In unserem Puppen-Seminar trifft nun die wissenschaftliche Materialität des Körpers, die die Studierenden durch Chemie und Biologie erlernen, auf ein metaphorisches Verständnis. Atem/Stimmarbeit, Clown-Übungen und Puppenspiel (wenn auch nur auf Basisniveau) kultivieren eine poetische Materialität; ein Zusammenschluss von Atem, Körper, Stimme, Gefühl, Denken und Imagination erzeugt Bedeutung. Diese neue Sicht auf Materialität stand nicht notwendigerweise im Dienst eines medizinischen Narrativs (z.B. mit Puppen eine Geschichte von Empathie zwischen Doktor und Patient erzählen). Stattdessen nutzten wir die Puppen, um Strukturen von Sein (allein und in Beziehung) hervorzuheben, die abstrakt und zerbrechlich sind, sogar in ihrer kompromisslosen Materialität. Wir zwangen die Studierenden zu fragen: Was befindet sich in diesem Objekt vor mir? Wie will es sich bewegen und sein? Das Ziel war es, die einzigartigen Wege aufzuzeigen, wie Objekte sprechen, wie sie mittels der ihnen eigenen physischen Bedingungen verhandeln, jenseits von Sprache. Dadurch wurden die Dynamiken, die man in klinischen Kommunikationssituationen findet, manifest und wahrnehmbar.

Wir forderten von den Studierenden, sich auf Verkörperung außerhalb eines offensichtlichen Klinikrahmens zu fokussieren. Die Puppen hatten keine Rollstühle oder Infusionsschläuche; es waren keine offensichtlich leidenden Körper. Stattdessen beobachteten die Studierenden ihren eigenen bewussten und unbewussten Atem, erzeugten eine kollektive Handlung ohne Worte, und bewegten den Puppenkörper von einer Stelle zur anderen, indem sie das Objekt außerhalb ihres Körpers, aber in Harmonie mit ihm manipulierten. Diese Übungen entwickelten in ihnen zunehmend und wiederholt ein Bewusstsein davon, was es heißt, ein ‚Körper in der Welt‘ zu sein. Sie nahmen keine Objekte zur Hand, um Geschichten über das Sein zu erzählen, sondern sie erschufen ein ‚ins Leben kommen‘. Eine kritische Intervention in die Praxis des Gesundheitswesens, auf sozialer Gerechtigkeit fußend, sieht so aus: Förderung einer kultivierten Achtsamkeit für die Person vor dir als ein menschliches Wesen wie du selbst.

Die Praxis der entkörperten Medizin hat im 21. Jahrhundert eine Krise des Gesundheitswesens und der Pflege erzeugt. Unser Fokus auf Puppenspiel und Physical Theatre-Praktiken als medizinisch-humanwissenschaftliche Forschungsmethode ist einzigartig für „Reimagine Medicine“. In der Schlussrunde unseres Seminars sagte ein Student: „Was ich hier mitnehme, ist, dass Ganzheit nicht bedeutet, dass es keine Gebrochenheit gibt.“ Wir fühlen uns ermutigt anzunehmen, dass derartiges Bewusstsein eines künftigen Arztes das Potential unserer Arbeit zeigt, nämlich die persönlichen, sozialen und bürgerlichen Brüche im Körper der Medizin zu heilen.

– Übersetzung aus dem Amerikanischen von Meike Wagner

1 Eine lange Version des Textes in englischer Sprache wurde in Puppetry International, Fall/Winter 2018, No. 44, veröffentlicht unter dem Titel „Attending to the ‚Illusion of Life‘: Reimagining Medicine Through the Art of Puppetry Practice“.
2 https://www.medscape.com/viewarticle/774827
3 https://catalyst.nejm.org/physician-well-being-efficiency-wellness-resilience/
4 https://www.theguardian.com/commentisfree/2018/jan/14/why-are-there-still-so-few-female-doctors
5 https://news.vice.com/article/why-are-there-so-few-minority-doctors-united-states
6 “Puppetry as reinforcement or rupture of cultural perceptions of the disabled body”, Research in Drama Education: The Journal of Applied Theatre and Performance (2017).

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