Theater der Zeit

Vorwort

Erschienen in: Theater unser – Wie die Passionsspiele Oberammergau den Ort verändern und die Welt bewegen (04/2022)

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Alle zehn Jahre hören die Menschen in einem Dorf in Oberbayern für eineinhalb Jahre auf, sich die Haare zu schneiden. Sie tun das, um die Kreuzigung Christi nachzuspielen. Das machen sie seit beinahe 400 Jahren. Was einigermaßen kauzig klingt, ist ein Ereignis von überregionalem Interesse und seit 2014 sogar „immaterielles Kulturerbe“: die Oberammergauer Passionsspiele. Fast eine halbe Million Menschen pilgern im Passionsjahr aus aller Welt ins Voralpenland, um sich dieses Spektakel anzuschauen. Und diese Spiele sind keineswegs eine in die Jahre gekommene Angelegenheit: Die Besetzung 2022 ist die jüngste in der Geschichte, die Motivation im Ort größer denn je.

Als ich das erste Mal hörte, dass es in einem Dorf namens Oberammergau ein Passionsspiel gibt, war ich elf Jahre alt. Es war 1990, das Jahr, in dem Christian Stückl zum ersten Mal Spielleiter war. Das wusste ich damals nicht. Ich saß mit meiner Familie in München im Biergarten. Am Chinesischen Turm im Englischen Garten. Eine Freundin meiner Eltern erzählte, sie werde im Sommer nach Oberammergau fahren, zu den Passionsspielen, die nur alle zehn Jahre stattfinden. Alle außer mir wussten, wovon da die Rede war. Ich habe nicht nachgefragt. Aber etwas ist hängengeblieben. Dieses „nur alle zehn Jahre“ und dieses „das ganze Dorf spielt mit“.

Bis ich die Passionsspiele selbst sehen sollte, vergingen noch zwanzig Jahre. Ich studierte. Theaterwissenschaft, Germanistik und Jüdische Geschichte, anschließend Kulturjournalismus. An die Passionsspiele dachte ich nicht mehr, die Spiele 2000 gingen von mir unbemerkt über die Bühne. 2010 dann arbeitete ich als 10 Theaterkritikerin, Christian Stückl war Intendant des Münchner Volkstheaters geworden. Mit ihm war Oberammergau wieder in meinen Dunstkreis gekommen, quasi der Berg zum Propheten, oder: die Spiele zur Kritikerin. Ich bekam eine Einladung zur Premiere. Es war Mai und es war kühl, als der Shuttle-Bus vom ZOB, dem Zentralen Omnibusbahnhof in München, abfuhr. Wir waren nicht eben elegant gekleidet, eher wie für eine Exkursion in die Berge, mit Skiunterwäsche, warmen Jacken und dicken Socken. Und genau das war es ja auch: eine Exkursion in die Berge. Auf der Garmischer Autobahn begann es zu schneien. Im Theater, das zwar im Zuschauerbereich überdacht, aber zur Bühne hin offen ist, war es bitterkalt. Am Eingang wurden rote Fleecedecken verteilt, die famos zu den Gewändern der Kardinäle passten, die neben uns im Zuschauerraum saßen.

Diese Premiere war eine ungemein feierliche Angelegenheit. Man spürte, dass dieses Dorf seit zehn Jahren darauf gewartet hatte, wieder die Geschichte vom Leiden Christi zu spielen. Ich hatte vorher nicht genau gewusst, was mich da erwartete, hatte mit einem Laienspiel im großen Format gerechnet. Womit ich nicht gerechnet hatte, waren (neben der unglaublichen Kälte) der Chor, das Orchester, die Ausstattung. Die Professionalität. Ich war überwältigt. Und ich, die ich zwar in der Grundschule den Religionsunterricht besucht hatte, aber einem eher religionsfernen oder religionsentfernten Haushalt entstamme, lernte eine ganze Menge über die letzten Tage im Leben von Jesus. Als dieser, gespielt von Frederik Mayet, am Ende eine gefühlte Ewigkeit halbnackt am Kreuz hing, während ich trotz des zweiten Paares Socken, das ich mir in der Pause im örtlichen Drogeriemarkt gekauft hatte, auf meinem Sitz zitterte vor Kälte, dachte ich, auch das gliche einem Wunder, wenn der keine Lungenentzündung bekäme.

Er war noch nicht vom Kreuz genommen, da war mir klar, dass ich mir dieses Spiel nicht noch einmal entgehen lassen würde, dass ich auch in zehn Jahren dabei sein wollte. Ich wollte herausfinden, was da los ist in Oberammergau. Warum sie alle so viel auf sich nehmen für dieses Theaterspiel. Was sie motiviert. Woher ihre Begeisterung kommt. Ist es die Religion oder das Theater, an das sie glauben und das sie zusammenhält? Woher kommt die Professionalität, mit der sie ihre Passion angehen? Was sind die Geschichten hinter den Spielen? Wie entstehen sie? Wie haben sie sich über die Jahrhunderte verändert? Wie den Ort?

Ungefähr ein Jahr vor der geplanten Premiere 2020 habe ich begonnen, die Vorbereitungen für die Spiele zu verfolgen, habe einen Blog für die Passionsspiele geschrieben, Proben besucht, mit vielen Menschen in Oberammergau gesprochen. Und je mehr sie mir erzählt haben, desto faszinierter war ich von all den Geschichten rund um diese jahrhundertealte Tradition. Davon, wie stark das gemeinsame Theaterspiel das Leben im Ort prägt. Wie die Menschen ihr Leben nach der Passion planen. Von der Relevanz, die sie hat. In diesen Tagen würde man sagen: Hier ist das Theater systemrelevant. Als im 17. Jahrhundert die Pest in Oberbayern und Oberammergau wütete, suchten die Dorfbewohner ihre Rettung im Theaterspielen. Sie gelobten, alle zehn Jahre das Leiden Christi aufzuführen, um von der tödlichen Krankheit verschont zu werden. Angeblich starb seitdem im Ort niemand mehr an der Pest. Und etwas von diesem Glauben daran, dass Theater die Welt retten kann, ist den Ammergauern bis heute geblieben.

Nun, da ich das schreibe, wurden die Passionsspiele 2020 abgesagt, verschoben auf 2022. Eine neuerliche Seuche hat die Proben zwei Monate vor der Premiere zum Erliegen gebracht: das Coronavirus. Denn Oberammergau, das ist das Gegenteil von Quarantäne, von sozialer Isolation: Oberammergau, das ist Theater, das aus dem Vollen schöpft. Wo es auf der Bühne alles gibt, und von allem jede Menge: Orchester, Chor, Alte, Junge, Kinder, Tiere … Ein Theater ohne Maß – und ohne Mindestabstand.

Kurz nach der Absage der Passion 2020 habe ich mit Christian Stückl telefoniert. Es war die Zeit des Lockdowns, als alle von einem Tag auf den anderen auf sich gestellt waren. Als alle möglichen Wörter auf einmal mit der Vorsilbe „Home-“ versehen wurden. Home-Office, Home-Schooling, Home-Entertainment. Als alles, was eigentlich draußen passiert, auf einmal zuhause stattfinden musste. Nur Home-Theater, das funktioniert eben nur bedingt (das wurde nach einer Weile Streaming-Euphorie deutlich spürbar). Und Home-Passionsspiele erst recht nicht. Der sonst nimmermüde und immer enthusiastische Regisseur klang bedrückt, traurig. Doch schon am Ende unseres Telefonats blickte er wieder nach vorn: Die Passion 2022 wird kein Nachholen der Passion 2020 sein. Wieder werden er und sein Team neu auf die Welt schauen, die sich gerade so stark verändert. Wohin wissen wir noch nicht. Die Gewissheit, dass es die Passionsspiele seit fast 400 Jahren gibt, dass sie die Reformation, die Spanische Grippe und zwei Weltkriege überlebt, allerlei Legitimationskrisen und noch mehr heftige Streitereien im Dorf durchgestanden haben, relativiert in diesen Tagen einiges. Es geht immer irgendwie weiter. Auch das ist eine Botschaft dieser Spiele, die aus einer heftigen Krise heraus entstanden sind und denen verschiedenste Krisen immer ein Motor für ihre Weiterentwicklung waren. Und so bedeutet das Schreiben dieses Buches in einer Zeit, in der die Welt stillsteht, auch Mut zu schöpfen. (Ostern 2020)

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