3.3 Über das Zusammenwirken verschiedener Wahrnehmungsmodalitäten
von Theresa Schütz
Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)
Wie inzwischen bereits mehrfach akzentuiert, zeichnet sich die Szenografie immersiver Theateraufführungen dadurch aus, von den Zuschauer*innen multisensorisch erfahren zu werden. Die Mikrokosmen sind als Erfahrungsräume eingerichtet, die vom navigierenden Publikum in körperlicher Eigenbewegung mit allen Sinnen, aus verschiedensten Blickwinkeln und/oder als kinästhetische Erkundungen erschlossen, gespürt, gerochen, geschmeckt und gefühlt werden können. Dadurch haben wir es zuschauerseitig mit äußerst komplexen, multisensorischen Wahrnehmungsereignissen zu tun. Denn die Erfahrungsräume von SIGNA oder Punchdrunk adressieren nunmehr auch gezielt jene Sinne – das Haptische, Gustatorische und Olfaktorische –, die traditionell in den meisten modernen europäischen Theaterformen weitgehend vernachlässigt wurden. Damit ist die These verbunden, dass gerade diese sinnlichen Dimensionen dafür verantwortlich sind, dass Aufführungen immersiven Theaters von Zuschauer*innen nachhaltiger und zuweilen intensiver erinnert werden können, da sich die über die Bewegungen im Raum und das multisensorische Spüren gemachten Erfahrungen im Körpergedächtnis ablegen. Josephine Machon, die mit ihrem Konzept der synaesthetics bereits auf dieses für eine immersive Theateraufführung als »live(d) embodied event« (Machon, 2013, S. 83) spezifische In- und Miteinander-Wirken verschiedener Sinne, Sinneswahrnehmungen und Sinnstiftungsprozesse (sense-making/making sense) begrifflich zu reagieren versucht hat, vertritt überdies die These, dass »immersive theatre«, gerade weil es die in den Künsten zuweilen unterrepräsentierten Sinne (schmecken, fühlen, riechen) privilegiert, Zuschauer*innen qua ganzheitlicherer Sinneswahrnehmung auf die kulturelle und normative Verfasstheit der Fünf-Sinne- und den mit ihnen verbundenen Wahrnehmungs-, Empfindungs- und Wissensordnungen hinzuweisen vermag (vgl. ebd., S. 111ff.).
Auch auf dieser Ebene ist also von einer Polyperspektivität zu sprechen, insofern in den Erfahrungsräumen alle menschlichen Sinneswahrnehmungen beständig nebeneinander (mit-)wirken und permanent auf Bedeutungsgenerierungsprozesse Einfluss nehmen. Immersive Theateraufführungen operieren mit der gleichzeitigen Stimulation multisensorischer Wahrnehmungseindrücke, die zuweilen auch als Überforderung empfunden werden kann, z. B. wenn bei Punchdrunks Sleep no more die Wahrnehmung des Soundscapes so dominant wird, dass die zahlreichen visuellen und haptischen Wahrnehmungseindrücke der Szenografie von Ersterer überlagert werden, schlicht weil die menschliche Aufmerksamkeit eine begrenzte Ressource ist. Auf diese Weise kann das der Aufführung zugrunde liegende immersive Dispositiv bestimmte Wahrnehmungen eben situativ modulieren und damit transindividuelle Wirkungsweisen begünstigen. Denn mit bestimmten Sinneseindrücken sind mitunter auch bestimmte kulturell geformte Gefühlsordnungen und Emotionsrepertoires verbunden, die situativ entsprechend reaktiviert werden können. Sei es z. B. durch das Reichen von Süßwaren oder eines alkoholischen Getränks in SIGNAs Wir Hunde, sei es durch das Anstecken eines Rings in Sleep no more, sei es durch den raumgreifenden Duft einer frisch köchelnden Gemüsebrühe in Mankers Alma, sei es durch die Rhythmik und Wiederholung eines chorisch vorgetragenen Liedes in SIGNAs Das Heuvolk oder durch die aufflackernde Bilderwand mit rassistischen Darstellungen Schwarzer Menschen in 3/Fifths.
Dieser wirkungsästhetischen Dimension der multisensorischen Theaterform wohnt zudem inne, dass nicht mehr nur die visuell wahrnehmbaren Dinge Zeichencharakter erhalten können, sondern dass auch Düften, Geschmacksereignissen und haptischen Qualitäten dieses Potential zukommen kann. Gleichzeitig bilden alle diese Sinneseindrücke in ihrer phänomenologischen Dimension die zentralen wahrnehmbaren Referenzpunkte für die prozesshafte Konstitution von Selbst- und Weltverhältnissen auch jenseits der fiktiven Inhalte.
James Frieze schlägt in der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Band Reframing Immersive Theatre mit Referenz auf Anne Bogarts Viewpoints-Technik für die Analyse immersiver Theateraufführungen einen »nine-dimension approach« (Frieze, 2016, S. 6) vor, ohne ihn selbst durchzuführen. Er sieht vor, die Parameter »bodily, technological, spatial, temporal, spiritual, pedagogical, performative, textual, social« (ebd.) je einzeln zu adressieren. Und während Alison Oddey und Christine White verschiedene Modes of Spectating schlicht im Sinne verschiedener Medien, die bei der Rezeption zum Einsatz kommen, denken (Oddey/White, 2009, S. 13), fächert Gordon Calleja seine Theorie des »Player Involvement Models« über separate Einzelbetrachtungen kinästhetischer, räumlicher, geteilter, narrativer, affektiver, spielerischer Involvierungsstrategien auf, die alle gleichzeitig und gleichermaßen auf den Spielenden einzuwirken vermögen (vgl. Calleja, 2011). Um der Komplexität der Polyperspektivität immersiver Theateraufführungen und ihrer vielfältigen Strategien der Publikumsinvolvierung gerecht zu werden, werde auch ich in den Analysen aus heuristischen Gründen jeweils nur einzelne Aspekte (olfaktorische, soundbasierte, handlungsbezogene, figurenperspektivische, räumliche sowie berührungsbasierte Involvierungsstrategien) adressieren, wissend, dass die Intensität der in Rede stehenden Arbeiten davon abhängt, dass diese Dimensionen alle relational zusammenwirken.