Ausland
Kafka auf dem Balkan
Eine Reise mit dem Dramatiker Jeton Neziraj durch den Kosovo und Albanien
von Jakob Hayner
Erschienen in: Theater der Zeit: Wie es euch gefällt – Christian Friedel vertont Shakespeare (12/2016)
Das ist der Balkan. Hier passiert immer etwas“, sagt Gianina Cărbunariu. Wir sitzen an einem milden Abend in dem Innenhof des Teatri Kombetär in Albaniens Hauptstadt Tirana. Am Ende des Hofes befindet sich ein leeres Schwimmbecken, davor eine Grünfläche, im Hintergrund ragen hohe Bürotürme in die Nacht, neu gebaut oder noch im Bau. Die Anlage, in deren Hof wir uns aufhalten, wurde einst als Erholungsstätte errichtet – für die italienischen Militärs zu den Zeiten der Besatzung Albaniens durch das faschistische Italien unter Mussolini, erzählt Gianina. Wir sitzen, rauchen und trinken Peroni-Bier, welches in Plastikbechern ausgeschenkt wird. Die basslastigen Rhythmen des Deep House vermischen sich mit dem Ruf des Muezzin der nahegelegenen Moschee. An unserem Tisch sitzt auch Arben Kumbaro, er hat im letzten Jahr „Marat/Sade“ von Peter Weiss inszeniert, die Produktion reiste mit großem Erfolg über den Balkan.
Kurz zuvor hat es in dem leeren Schwimmbecken eine Protestaktion gegeben. An diesem Abend hätte eigentlich „Ein Theaterstück mit 4 Schauspielern ein paar Schweinen ein paar Kühen ein paar Pferden einem Ministerpräsidenten einer Milka-Kuh und ein paar einheimischen und internationalen Inspekteuren“ (siehe Stückabdruck ab S. 36) des kosovarischen Dramatikers Jeton Neziraj gezeigt werden sollen – eine kafkaeske Groteske über den Kosovo in einem Tony-Blair-Schlachthaus mit zahlreichen sprechenden Tieren, in der es auch um den Zustand der gegenwärtigen EU geht. Das Ensemble ist mit dem Bühnenbild und der Technik aus Prishtina angereist. Doch die Gruppe war gezwungen, die Vorstellung abzusagen, weil ihnen verweigert wurde, die Bühne einzurichten. Der Direktor des Theaters wird am Tag darauf von einem bedauerlichen Zwischenfall und Koordinierungsproblemen sprechen. Aus Protest zeigten die Schauspieler am Abend einen Auszug aus der Inszenierung, der Autor hielt eine kurze Rede. Jeton klagt die Dummheit und Kunstfeindlichkeit der Institution an und zitiert dabei aus seinem Stück: „Ein Esel im öffentlichen Amt?“
„Das ist der Balkan.“ Gianina, die rumänische Dramatikerin und Regisseurin, ist ebenso wie Jeton für das Festival My name is Balkan angereist, in dessen Rahmen zeitgenössische Dramatik aus Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Slowenien, Mazedonien, Bulgarien, Rumänien, Griechenland, Montenegro und Kroatien vorgestellt wird.
Tirana hat eine äußerst lebendige Kunst- und Kulturszene. Zur gleichen Zeit findet das Literaturfestival Poeteka statt, es gibt Lesungen und Performances. Am benachbarten Teatri Metropolit hat am Abend Roland Schimmelpfennigs „Die arabische Nacht“ Premiere. Auf der Terrasse eines Cafés macht mich Jeton mit seiner deutschen Übersetzerin Zuzana Finger bekannt, die das Literaturfestival besucht. Wir blicken Richtung Nationalmuseum, zu dem riesigen Bau mit Mosaik an der Front, zu sehen sind Partisanen, die rote Fahnen und Gewehre schwenken. Tirana war vor der Ernennung zur Hauptstadt im Jahre 1920 klein und unbedeutend. Heute ist die Stadt geprägt von den Bauten des italienischen Faschismus, der Zeit des Sozialismus unter Enver Hoxha und der Neugestaltung in den letzten Jahren. In direkter Nähe des Teatri Kombetär befindet sich das als „Piramida“ bezeichnete ehemalige Enver-Hoxha-Museum. Kinder rutschen die schrägen Wände hinunter und krabbeln wieder hoch.
Auf dem Weg von Albanien in den Kosovo fahre ich mit Jeton durch die Berge, die Ein-Personen-Bunker mit ihren typischen runden Betonformen aus der Hoxha-Zeit sind zahlreich in der rauen Gebirgslandschaft verteilt. Hoxha plante, das gesamte Land mit solchen Schutzräumen auszustatten, für den Fall einer Invasion. Heute verrotten viele von ihnen. Auf der neuen Autobahn, die Tirana und Prishtina verbindet, sind kaum Autos unterwegs. Albanien und der Kosovo sind eng verbunden, politisch, administrativ, sprachlich, kulturell – auch wenn es eine Auflage der internationalen Gemeinschaft war, dass die Nationalflagge des Kosovo (sechs Sterne auf blauem Grund über dem Umriss des Staatsterritoriums; der EU-Flagge nicht unähnlich) nicht an die Albaniens (schwarzer Doppeladler auf rotem Grund) erinnert. In den ländlichen Gebieten sieht man Pferdekutschen und kleinbäuerliche Häuser, in den Städten deutsche Autos und Werbung für den Neubau eines Fünf-Sterne-Luxus-Hotelkomplexes. Banner der Telekom und der Deutschen Bank prangen auf den Hügeln vor der Stadt. Neben den zahlreichen albanischen Flaggen mit dem Doppeladler sieht man ab und zu auch deutsche, häufiger aber amerikanische Fahnen.
Es war 2007, als sich der damalige Präsident der USA, George W. Bush, umjubelt von Zehntausenden Albanern in Tirana für die Unabhängigkeit des Kosovo aussprach. Bei der Fahrt in das Zentrum winkt uns sein Vorgänger Bill Clinton als Statue zu. Über den gleichnamigen Boulevard geht es in die Stadt, wo es auch eine Xhorxh-Bush-Straße gibt. Im Kosovo hat man nicht vergessen, wem man die Unabhängigkeit zu verdanken hat. Das sei auch eine Frage in seinem neuesten Stück, erzählt Jeton. „Warum mögen die Albaner Amerika mehr als die Amerikaner selbst?“, heißt es dort. Gespannt wird der Wahlkampf zwischen Donald Trump und Hillary Clinton verfolgt, den Namen Clinton hat man hier in bester Erinnerung. Von Trump hingegen erwartet man sich keine Unterstützung. Im Kosovo, so Jeton, treffen immer noch die verschiedenen Machtsphären aufeinander, die russische, die türkische, die europäische, die amerikanische. Der Kosovo hat, seit dem Nato-Krieg gegen Serbien und der Unabhängigkeit, immer im Zentrum internationaler Aufmerksamkeit gestanden.
In „Ein Theaterstück mit 4 Schauspielern“ geht es Jeton um die aktuelle Situation des Kosovo. Große Teile der Bevölkerung und der politischen Elite wollen in die EU, der Kosovo gilt offiziell als „potenzieller Beitrittskandidat“. Doch was ist mit der EU? Wollen die Briten diese nicht gerade verlassen? Diese skurrile Situation, dass im Westen zerfalle, worauf man im Osten hoffe, sei der Ausgangspunkt des Stückes gewesen, sagt Jeton. Zudem gibt es im Kosovo, trotz der EU-Rechtsstaatsmission EULEX, so zahlreiche Probleme, dass das Land teilweise als eine Art failed state gilt. Korruption, organisiertes Verbrechen, Armut, Arbeitslosigkeit, mangelnder Schutz von Minderheiten wie Serben und Roma prägen das Land, aber auch die Ausbreitung des Salafismus, unterstützt durch Geld aus Saudi-Arabien und Katar. Ehemalige Angehörige der Befreiungsarmee des Kosovo (UÇK) haben die ökonomische und politische Macht übernommen, ganze Wirtschaftszweige sind in der Hand weniger Ex-Militärs. Hashim Thaçi, Mitbegründer und Kommandeur der UÇK, ehemaliger Ministerpräsident und Außenminister und amtierender Präsident des Kosovo, droht beispielsweise eine Anklage vor einem internationalen Sondergericht wegen Kriegsverbrechen, auch seine Beziehungen zur organisierten Kriminalität sollen untersucht werden.
In Prishtina regiert seit dem vergangenen Jahr ein Bürgermeister der politischen Partei „Selbstbestimmung!“ (Vetëvendosje!), die sich sowohl gegen Korruption als auch gegen eine internationale Kontrolle des Kosovo wendet. Sie repräsentiert vor allem eine junge Generation, die angesichts der ökonomischen Aussichtslosigkeit außerordentlich frustriert ist; Tausende junge Menschen verlassen jährlich das Land. „Ein Theaterstück mit 4 Schauspielern“ thematisiert die Probleme und Ursachen: die Idiotie der Bürokratie, die Aussichtslosigkeit, die Korruption. In der Inszenierung von Blerta Neziraj heften sich die Schauspieler Fotos der Gesichter der bekanntesten Politiker des Landes ans Gesäß (darunter auch das von Thaçi), das junge Publikum brüllt vor Lachen. Jeton war früher künstlerischer Leiter des Teatri Kombetär in Prishtina, er wurde entlassen, unter anderem weil er ein Gastspiel in Belgrad gegeben hatte, was für die Nationalisten eine unverzeihliche Provokation darstellte. Jeton hat auch, bis zum heutigen Tage, mit Kritik an den Zuständen im Kosovo nie gespart.
Der Premierenabend in Prishtina ist von einer anarchischen Lust an der Subversion durchzogen. Eine Band ist auf der Bühne, AC/DC und Jimi Hendrix werden angespielt. Zusammen mit den Schauspielern bringt die Regisseurin Blerta Neziraj eine Performance auf die Bühne, deren Unmittelbarkeit und Anspielungsreichtum vom Publikum freudig angenommen werden. Am Ende erhebt sich der ganze Saal mit kräftigem Applaus. Das absurde Porträt des Kosovo trifft die Gegenwart. Anregungen habe er von Ionesco und Kafka erhalten, erzählt Jeton, die auch ihre Wirklichkeit zur Kenntlichkeit entstellt haben. Wir stehen vor dem Theater und schauen auf den Mutter-Teresa-Boulevard, den ehemaligen Tito-Boulevard. Das ist die Vergangenheit des Balkans. Die Zukunft ist unklar. //
„Ein Theaterstück mit 4 Schauspielern ein paar Schweinen ein paar Kühen ein paar Pferden einem Ministerpräsidenten einer Milka-Kuh und ein paar einheimischen und internationalen Inspekteuren“ ist auf den folgenden Seiten abgedruckt.