Theater der Zeit

Editorial

Editorial

von Amelie Deuflhard

Erschienen in: Kampnagel Hamburg. 40 Jahre Widerspruch – Workbook zum Jubiläum (07/2024)

Applaus auf Kampnagel
Applaus auf KampnagelFoto: Anja Beutler

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»Never demolish. Always transform, with and for the inhabitants«


Dieses Credo beschreibt die Herangehensweise des Architekturduos Lacaton & Vassal an den größten Transformations­prozess des Kampnagel-Geländes, seitdem die ehemalige Kranfabrik 1982 zum Kunstgelände wurde. Genau an dieser Schnittstelle zwischen den letzten 40 Jahren, dem aktuellen »State of the Art« und den kommenden 40 Jahren ist das vorliegende Buch entstanden. Es beschreibt die Geschichte eines Fabrikgeländes, das in den 1980er Jahren durch das Schauspielhaus und Teile der Freien Szene Hamburgs umgenutzt wurde. Heute ist Kampnagel eines der wichtigsten Produktionszentren für internationalen Tanz und Performing Arts in Europa und hat sich auf den Weg gemacht, auch baulich eines der modernsten zu werden. Seit 2020 ist Kampnagel eines der vier Staatstheater Hamburgs und das mit zumindest dem impliziten Auftrag, ein neues Modell von Staatstheater zu entwerfen. Kampnagel ist traditionell ein Haus mit international-avantgardistischem Programm, agilen Produktionsstrukturen und flachen Hierarchien, lokal wie international hochgradig vernetzt. Aktuell wird hier eine Institution erprobt, die auf Basis des Freiheitsstrebens der Anfänge eine Vision für die Zukunft entwickelt.

Nicht umsonst trägt dieses Buch den Titel »Vierzig Jahre Widerspruch«: Kampnagel hat sich in seiner Geschichte niemals im Affirmativen angesiedelt, sondern immer versucht, Gegenwart zu hinterfragen – künstlerisch, gesellschaftlich und politisch. Kampnagel ist damit zu einem Ort geworden, von dem Haltung und Stellungnahme erwartet wird – auch zu Krisen der Gegenwart. Unsere Künstler*innen sind Spezialist*innen für die Welten und für die Gesellschaften, in denen sie leben. Durch die internationalen Künstler*innen, Denker*innen, Handelnden und Communities, die auf Kampnagel zu Hause sind, werden ganz selbstverständlich unterschiedliche Positionen und Perspektiven auf die Bühnen gebracht. Künstler*innen sollten und dürfen frei denken und spekulativ Zukunft entwerfen. In einer Zeit, in der sich offene Diskurse immer weiter verengen, ist dies wichtiger denn je. Kampnagel hat sich künstlerisch stets in der Zukunft positioniert, musste aber seine eigene Zukunft über viele Jahre erkämpfen – diese Kämpfe sind in Geschichte und Selbstverständnis Kampnagels eingeschrieben. Heute beherbergt Kampnagel in seinen sechs Hallen vierzig Jahre Performance- und Tanzgeschichte. Sie hat sich verewigt in den Mauern, im Stahl, auf dem Gelände und selbstverständlich auch in den Menschen, die auf dem Gelände arbeiten. Längst prägt die Theater- und Kunstgeschichte den Ort mindestens so sehr wie die vorherige Fabrikgeschichte.

Der Gründungsmythos von den Besetzungsproben und dem Anspruch auf eine freundliche Übernahme des Geländes ist außerordentlich wichtig für Geschichte und Gegenwart des Geländes, auch wenn er in mancher Hinsicht zu kurz greift: Kampnagel verdankt seine Existenz nicht nur den freischaffenden Künstler*innen, die damals einen Anspruch auf das Gelände formulierten. Mindestens ebenso wichtig waren die kraftvollen Unterstützer*innen, die sich zusammensetzten aus Festivalmacher*innen, Kurator*innen, Hippies, Veranstalter*innen, Galerist*innen und vielen mehr. Dazu kam eine große Unterstützung durch ein aufgeschlossenes Bürgertum, dem das Gelände durch die unterschiedlichen Nutzungen von Schauspielhaus und der freien Kunst- und Theaterszene ans Herz gewachsen war. Das Selbstverständnis, ein offener Ort für Viele zu sein, spiegelt sich bis heute in einem breiten und durchmischten Publikum. Seit vielen Jahren arbeiten wir künstlerisch-strategisch daran, das Publikum zu diversifizieren. Dahinter steht die Vision, Kunst nicht nur für die Eliten, sondern für möglichst viele zu produzieren, und damit ein Publikum zu produzieren, das im besten Fall die gesamte Stadtgesellschaft abbildet.

Das vorliegende Buch soll keine Enzyklopädie sein. Es dokumentiert einen Zwischenstand, der sich stetig weiterschreiben wird. Der Sammelband soll in das Denken, in die DNA von Kampnagel einführen: Lautes Denken. Spekulatives Denken. Multiperspektivisches Denken. Das Buch gräbt sich rhizomatisch tief in den Kosmos von Kampnagel und versucht, hierarchisches Denken zu vermeiden. Wie Geschichte erforscht wird, wie Geschichten erzählt werden, ist eine Frage der Perspektive. Unter diesen Vorzeichen haben wir verschiedenste Verbündete gebeten, an diesem Buch mitzuwirken, und hoffen, den Leser*innen damit einen vielgestaltigen Einblick in die Arbeit Kampnagels zu gewähren.

Das Buch gliedert sich in fünf »Workbooks«, die eher unabgeschlossene Arbeitsstände präsentieren als hermetische Prinzipien. Jedes Workbook befasst sich mit einem thematischen Feld als zentrale und dennoch fluide Koordinate unserer kuratorischen Arbeit. Die Bücher geben Inputs zur ART OF LOOKING BACK, zu RÄUMEN UND HETEROTOPIEN, zu KUNST ALS TARNUNG UND MAINSTREAMVERBESSERUNG, zu KOMPLIZ*INNENSCHAFT UND GASTGEBEREI sowie zur FANTASTIC INSTITUTION. Zwei Dramaturg*innen des Programmteams führen in die Felder ein, die anschließend von wichtigen Verbündeten aufgefächert werden.

Das erste Workbook mit dem Titel THE ART OF LOOKING BACK schaut zurück auf die Transformation der Kranfabrik zum Kunstort und macht sichtbar, wie konstituierend die Vergangenheit und Entwicklung des Ortes über unterschiedliche Stationen für die Gegenwart von Kampnagel ist. Dabei sind Forderungen der Anfangszeit nach politischem und kollektivem Arbeiten, besserer Zugänglichkeit des Theaters und Internationalisierung des Theaters heute relevanter denn je. Langjährige Wegbegleiter*innen wie Nikolaus Müller-Schöll, ehemalige Intendant*innen, She She Pop oder Trajal Harrell vermessen rückblickend Kampnagels Magnetismus, berichten von zarten und gewichtigen Anfängen, von künstlerischen Strategien, von Widerspruch und Regelbruch und von solidarischen künstlerischen Praxen.

Kaum ein Ort ist so geübt im Spagat zwischen notwendiger Institutionalisierung und der Freiraum-Mentalität des Anfangs wie Kampnagel. Zu Beginn war Kampnagel ein riesiger Möglichkeitsraum, offen für unterschiedlichste Bespielungskonzepte einer gerade erst entstehenden Szene. Bis heute werden nicht nur die Hallen, sondern das gesamte Gelände bespielt: Dafür stehen Formate wie das Migrantpolitan, der Avantgarden, der Onsen, ein künstlerisch bespielter Hamam oder unterschiedliche temporäre Schlafinstallationen. Dabei gehören Interventionen im öffentlichen Raum, in denen die Stadt zur Bühne wird, ganz selbstverständlich zum Kampnagel-Programm. RÄUMEN UND HETEROTOPIEN widmet sich daher das zweite Workbook. Künstler*innengruppen wie Raumlabor Berlin, Mobile Albania, Hannah Hurtzig, Jose Vidal oder der Geheimagentur kommen zu Wort. Sie haben in den letzten Jahren immer wieder temporäre Räume und kollektive Formate entwickelt, haben alternative Formen der Kollaboration und Wissensproduktion, des Lernens und Verlernens, des Zusammenlebens und des Feierns, des Erinnerns und des Rituals erprobt.

Das dritte Workbook beschäftigt sich mit KUNST ALS TARNUNG UND MAINSTREAMVERBESSERUNG. Es handelt von Strategien und Werkzeugen, Tricks und Kniffen, mit denen künstlerische Freiräume politisch genutzt werden können. Denn die Kunst ist frei und darf sich somit auch zum Ziel setzen, in die real-gesellschaftlichen Verhältnisse einzugreifen, oder schlicht reale Akteure zum Handeln zu bewegen. Das kann unter Umständen wirksamer sein, als bürokratische Pfade zu begehen, wie etwa das globale Aktionsbündnis »The Yes Men« anschaulich macht. Das Besondere an diesem Workbook ist, dass Sie als Lesende einerseits etwas über Kampnagels Performance-Geschichte erfahren, und gleichzeitig erfolgreiche Beispiele der Zweckentfremdung, strategischer Eskalation, des humorvollen Fakes und anderer solidarischer Instrumente lernen können. Dafür stehen Gruppen wie Gintersdorfer/Klaßen, Geheimagentur, God’s Entertainment, Baltic Raw, LaFleur und new media socialism. 

Im vierten Workbooks fragen wir uns: Was ist gelungene Gastgeberei? Wie kann man unterschiedliche Menschen beherbergen und willkommen heißen? Wie können wir unseren Raum vertrauensvoll für unterschiedliche Künstler*innen, Aktivist*innen und Communities, Geldgeber*innen, Medien und Politik zur Verfügung stellen? Im besten Fall sollen die Gäste auf Kampnagel früh kommen und lange bleiben: um Vorstellungen oder Weltlage zu diskutieren, um Freunde zu treffen, um zu feiern, zu essen und zu trinken, immer mal wieder auch an den langen Tafeln im Foyer. Die Verbundenheit mit unseren Gästen und Kollaborant*innen kann sich für bestimmte Vorhaben zur Kompliz*innenschaft ausdehnen – denn auf Kampnagel, man ahnt es, haben sich schon immer Banden gebildet. Mehr über die verbrecherischen Anteile unserer Arbeit, sowie die Anstrengung, die es bedeutet, Gastgeber*in zu sein, erfahren Sie im Workbook 4 mit Beiträgen unter anderem von Sibylle Peters, Ewe Benbenek, Holger Bergmann, Mohammad Abbasi und Monika Gintersdorfer.

Das fünfte und letzte Workbook wendet sich explizit der Zukunft der Institution Kampnagel und der Zukunft von Kunst­institutionen überhaupt zu. Was könnte eine FANTASTIC INSTITUTION sein? Künstler*innen und Autor*innen wie Dan Daw (im Interview), Suy Lan Hopmann, Jonas Zipf oder das Collectif FAIR-E verhandeln in spekulativer Manier und aus unterschiedlichen Perspektiven Praxen, Impulse und Visionen möglicher Zukünfte Kampnagels. Wie würde Kampnagel als Institution agieren, die komplett barrierefrei ist, als Institution, in der marginalisierte Tanzstile ebenbürtig neben den Etablierten stehen? Auf welche Art und Weise würde sich die Fantastic Institution uneingeschränkt und verantwortungsbewusst der Aufarbeitung ihrer Geschichte stellen? Wie würde ein Produktionshaus aussehen, das Gemeingut/Allmende ist und allen Nutzer*innen gehört?

Ein spannendes dickes Buch ist bedingt durch einen spannenden langen Prozess. An dieser Stelle möchte ich meinen Dank aussprechen an alle, die daran mitgewirkt haben: Im Zentrum stehen die Autor*innen, die zu diesem Buch beigetragen haben und inspirierende, teils beschreibende, teils analytische, teils sehr persönliche Beiträge zu Kampnagels 40-jährigem Bestehen verfasst haben. An den Beiträgen ist ablesbar, wie viele Bezüge und Verflechtungen auf dem Gelände entstanden sind und ganz sicher auch weiterhin entstehen werden. Ihr seid es, die Künstler*innen, Kollaborand*innen und Kompliz*innen, die Kampnagel prägen. Wir lernen von euch und tragen gemeinsam dazu bei, Perspektiven und Sichtweisen auf unsere Welt zu erweitern und damit die Welt zu verändern. Ohne euch wäre Kampnagel eine leere Hülle – ihr produziert Kunst, Gemeinschaft und Leben.

Ebenso danke ich allen weiteren Beteiligten an diesem Projekt: Kampnagels kuratorischem Team (Luise März, Alina Buchberger, Nadine Jessen, Lucien Lambertz, Anna Teuwen, Laro Bogan, András Siebold, Corinna Humuza, Kerstin Evert), dem Team der Öffentlichkeitsarbeit (Juliya Avetisyan, Daniel Kalinke, Siri Keil, Aileen Pinkert, Moaeed Shekhane, Emma Stenger, Hannah Trampe, Mariia Vorotilina). Ein großer Dank geht an den Verlag Theater der Zeit für die tatkräftige Unterstützung und die Geduld, allen voran an Harald Müller, Nicole Gronemeyer und Kerstin Bigalke. Ganz persönlich möchte ich mich bedanken bei der Kulturbehörde, besonders bei Carsten Brosda, für die Finanzierung des Buches, vor allem aber für die Anerkennung der besonderen Qualitäten von Kampnagel, für die Wertschätzung und die verlässliche Unterstützung gerade auch in Bezug auf die anstehenden Transformationsprozesse.

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