Anfangen
von Clemens Özelt
Erschienen in: Lektionen 8: Neue Dramatik (10/2025)
principiis enim cognitis multo facilius extrema intellegetis – hat man den Anfang erfasst, so wird man auch das Übrige viel leichter verstehen.1 Cicero formulierte diesen Grundsatz zunächst in einer Gerichtsrede, Quintilian hat ihn später in sein Lehrwerk Ausbildung des Redners aufgenommen. Die zeitgenössische Literaturwissenschaft, die sich mit Textanfängen beschäftigt, kann dieser alten rhetorisch-hermeneutischen Maxime noch immer etwas abgewinnen. Denn Anfänge werden stets als neuralgische Stellen für das Textverständnis wahrgenommen. Für Peter-André Alt ist der Anfang zugleich „der Ursprung, aus dem das Ganze hervorgeht“2. Auch Monika Schmitz-Emans macht die Beobachtung, dass Anfänge „eine Grundlage […] schaffen“ und deshalb zu den wichtigsten Passagen „poetischer Autoreflexion“3 zählen. Anfänge leiten also nicht nur zum Nachfolgenden über, sondern geben Auskunft über die Beschaffenheit des Ganzen. So spricht vieles dafür, dass wir auch die Gegenwartsdramatik von ihren Textanfängen her besser verstehen.
‚Unsichtbarkeit des Dramenanfangs‘
Allerdings haben sich im Drama andere Muster des Anfangens ausgebildet als in Erzähltexten, die Schmitz-Emans und Alt ihren Überlegungen zugrunde legen. Andrea Polaschegg konstatiert eine größere Zurückhaltung, die zur „renitente[n] Unsichtbarkeit des Dramenanfangs“4 führe. Sie meint damit, dass Dramen seltener mit einem sprachlichen Paukenschlag einsetzen. Dem können sich Erzähltexte oft nicht einmal durch Verweigerung entziehen; beispielsweise beginnt...