Theater der Zeit

Vorwort der Herausgeber

von Christian Holtzhauer und Hans-Jürgen Drescher

Erschienen in: Recherchen 105: Wie? Wofür? Wie weiter? – Ausbildung für das Theater von morgen (03/2014)

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Die deutschsprachige Theaterlandschaft ist in den vergangenen Jahren vielfältiger, offener, internationaler geworden. Insbesondere vom freien Theater ausgehend, haben sich neue Darstellungsformen etabliert, die heute ebenso unverzichtbar zu unserer Vorstellung davon, was Theater ist, gehören, wie die Auseinandersetzung mit den Klassikern der Theaterliteratur und der Ensemble- und Repertoirebetrieb. Zugleich hat sich die Art und Weise, wie wir Theater produzieren und wie die künstlerische Arbeit organisiert und sozial abgesichert wird, spürbar verändert: Die Zahl längerfristig angestellter Künstler* an den Theatern ist deutlich zurückgegangen, während die Mobilität innerhalb der Theaterlandschaft weiter zunimmt. Viele Theatermacher ziehen es vor, unabhängig von Institutionen zu arbeiten, müssen dafür jedoch oftmals prekäre Verhältnisse in Kauf nehmen.

Bildungseinrichtungen, die für künstlerische Berufe am Theater ausbilden, müssen auf diese Veränderungen reagieren. Sie müssen ihre Studierenden nicht nur auf das weitgefächerte Spektrum der verschiedenen bereits jetzt existierenden Theaterformen vorbereiten, sondern stehen zugleich vor der Herausforderung, zu antizipieren, wohin sich die Theaterlandschaft und die Beschäftigungsmöglichkeiten in den darstellenden Künsten noch entwickeln werden, um ihre Absolventen fit für das Theater von morgen zu machen. Denn wer über künstlerische Ausbildung für das Theater spricht, spricht immer auch über die Zukunft des Darstellens und Praktiken des Darstellens etwa in den neuen Medien oder im Film.

Wie also bildet man am besten aus? Weniger in der Hoffnung, konkrete Antworten auf diese Frage produzieren zu können, als vielmehr angetrieben von dem Wunsch, überhaupt erst einmal den Gedankenaustausch zwischen den öffentlichen Theaterhochschulen im deutschsprachigen Raum zu beleben, organisierten die erst vor wenigen Jahren gegründete Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg in Ludwigsburg (ADK) und die Dramaturgische Gesellschaft Berlin (DG) gemeinsam eine Konferenz zu den Perspektiven der Ausbildung in den darstellenden Künsten. Unter den Fragestellungen „Wie? Wofür? Wie weiter?“ trafen sich vom 4. bis zum 6. Oktober 2012 Dozierende und Studierende deutschsprachiger Theaterhochschulen, Theaterpraktiker, Experten aus anderen Disziplinen sowie Vertreter von Kunsthochschulen aus dem europäischen Ausland, um zu diskutieren, vor welchen Herausforderungen die künstlerische Ausbildung heute steht: Für welches Theater bildet man eigentlich aus – für welche Kunst also, aber auch für welchen Markt? Wie bildet man am besten aus? Welche Voraussetzungen, Fähigkeiten und Kenntnisse benötigen junge Künstler bereits jetzt – angesichts der verschiedenartigen Erscheinungs- und Produktionsformen von Theater, die wir bereits heute verzeichnen, sowie den daraus resultierenden Beschäftigungsverhältnissen? Wie ermächtigt man angehende Künstler, selbst herauszufinden, welcher Weg, welche Ästhetik, welche Arbeitszusammenhänge für sie die richtigen sind, und diese dann zu beschreiten, bzw. zu praktizieren? Wie begleitet man junge Künstler bei ihren ersten beruflichen Schritten? Mit welchen Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen kann man sie in ihrer künstlerischen Entwicklung unterstützen? Welche Auswirkungen haben schließlich die europäischen Harmonisierungsprozesse im Bereich der Hochschulbildung für die künstlerische Ausbildung?

Mehrere Beobachtungen erwiesen sich schließlich als ausschlaggebend für die Programmgestaltung der Konferenz: Zum einen das zunehmende Missverhältnis der Anzahl der Ausbildungsplätze für Theaterberufe zu den zu besetzenden Stellen, das sich besonders im Schauspiel bemerkbar macht. Allein die Hochschulen in öffentlicher Trägerschaft bilden mehr Absolventen aus – ganz zu schweigen vom Output der privaten Schulen –, als die Stadt- und Staatstheater aufzunehmen imstande sind. Zum anderen der Erfolg von Theaterausbildungsgängen wie Hildesheim und Gießen, die weder Regisseure noch Schauspieler im traditionellen Sinn ausbilden, deren Absolventen im Theaterbetrieb jedoch höchst erfolgreich sind. Über welches Handwerk, um einen im Verlauf der Konferenz heiß diskutierten Begriff aufzugreifen, muss ein Theatermacher also heute noch verfügen? Zum Dritten beschäftigte uns die Fülle an Anforderungen, die sich aus der gegenwärtigen Theaterpraxis ergibt, und die die Ausbildungsinstitutionen mitunter vor beträchtliche Zerreißproben stellt. „Breit“ versus „tief“ lauteten daher die Begriffe, die sowohl bei der Vorbereitung der Konferenz als auch in ihrem Verlauf immer wieder zum Einsatz kamen, um unterschiedliche Ausbildungsmodelle voneinander abzugrenzen und Antworten auf die Frage zu finden, wie Ausbildungsprozesse beschaffen sein müssten, die angehende Künstler umfassend auf das vorbereiten, was an Anforderungen in den nächsten Jahren auf sie zukommen könnte. Schließlich verstand sich von selbst, dass sich die Debatte um die Zukunft der Ausbildung in den darstellenden Künsten nicht aufs Theater beschränken kann – sondern neue Darstellungsformen und Berufsfelder in Rundfunk, Film, Fernsehen und vor allem in den neuen Medien ebenfalls berücksichtigen muss.

Die Ludwigsburger Akademie schien uns für die Ausrichtung der Konferenz der richtige Ort, ist sie doch eine neu gegründete und daher die Fragen nach den besten Formen der künstlerischen Ausbildung besonders intensiv diskutierende Ausbildungsstätte, die ihrer Struktur nach zum Forschungslabor taugt. In ihr arbeiten nicht nur die klassischen Studiengänge Schauspiel, Regie, Dramaturgie sowie Bühnen- und Kostümbild zusammen, sondern auch die Gewerke der auf demselben Campus angesiedelten Filmakademie Baden-Württemberg. Die Ausbildung findet also an den Schnittstellen zwischen den verschiedenen Bereichen der darstellenden Künste statt – vom klassischen Sprechunterricht im Schauspiel bis hin zur Entwicklung von Computerspielen in den interaktiven Medien.

Etwa 150 Teilnehmer – Dozierende, Studierende und Theaterpraktiker – waren unserer Einladung nach Ludwigsburg gefolgt. Diese erfreulich hohe Teilnehmerzahl sowie die Intensität mancher Debatte deuten darauf hin, dass der Gesprächsbedarf offensichtlich groß ist. In den zum Teil kontrovers geführten Gesprächsrunden zeigte sich, dass die deutschsprachigen Theaterhochschulen heute eine Vielzahl von Aufgaben zu bewältigen haben – und damit die Grenze des Mach- und im Rahmen eines drei- bis vierjährigen Studiums Lehrbaren erreicht haben. Die angehenden Theatermacher dagegen stehen heute vor der Herausforderung, einerseits das traditionelle Handwerk in seiner gesamten Komplexität beherrschen zu müssen, sich andererseits aber auch in eine Vielzahl bereits existierender Darstellungsweisen und Produktionszusammenhänge einarbeiten und einen Möglichkeitssinn für das entwickeln zu können, was noch nicht existiert. Dies setzt die Fähigkeit zu künstlerischer Autonomie voraus, die bereits während der Ausbildung entwickelt werden muss.

Mehrfach wurden im Verlauf der Konferenz klare Bekenntnisse zum Ensembletheater formuliert – und zugleich der Wunsch nach größerer Unterscheidbarkeit der Theater formuliert, also dem Mut, sich zu bestimmten Theaterformen und Ästhetiken zu bekennen und an diesen zu arbeiten. Außerdem wurde eine Verbesserung der Kommunikation zwischen den verschiedenen im Bereich der Ausbildung aktiven Institutionen gefordert: zwischen den Ausbildungseinrichtungen selbst, zwischen der Ständigen Konferenz der Schauspielschulen und dem Deutschen Bühnenverein sowie zwischen den Hochschulen und den Theatern. Diskutiert wurde auch über die Schärfung der Ausbildungsprofile der einzelnen Hochschulen sowie über den notwendigen Ausbau von Weiterbildungsmöglichkeiten für Theatermacher, denn die Herausbildung einer Künstlerpersönlichkeit ist ja mit dem Ende der Ausbildung keineswegs abgeschlossen. Gerade im Bereich der über den sog. Ersten und Zweiten Bildungszyklus (also den Bachelor- und Masterabschluss) hinausgehenden Ausbildung scheint in Deutschland noch gehöriger Nachholbedarf zu bestehen.

Der Aufbau des vorliegenden Bandes folgt der Dramaturgie und dem Verlauf unserer Konferenz. Zum Auftakt hatten wir mit Kathrin Tiedemann eine Repräsentantin des frei produzierenden Theaters, mit Hasko Weber einen Vertreter des Ensembletheaters und mit Wolfgang Engler einen Soziologen und Hochschulleiter gebeten, über die Zukunft des Theaters zu spekulieren, uns also aufzuzeigen, wofür, d. h. für welches Theater derzeit und in naher Zukunft ausgebildet werden muss. In den Gesprächsrunden mit Vertretern verschiedener Theaterschulen sowie mit deren Absolventen stand die gegenwärtige Praxis, also das Wie der Ausbildung, im Mittelpunkt. Am letzten Tag der Konferenz beschäftigte uns nicht nur die Frage, mittels welcher Angebote die Absolventen der Theaterhochschulen auch über die eigentliche Ausbildung hinaus unterstützt werden können (wie weiter?), sondern auch das mitunter komplizierte Verhältnis der Ausbildungseinrichtungen und ihrer „Abnehmer“, also der Theater.

Wie bei jeder Konferenz wurden einige der interessantesten Gespräche in den Kaffeepausen zwischen den einzelnen Vorträgen sowie in partizipativen Gesprächsformaten geführt. Diese Gespräche lassen sich leider in gedruckter Form nicht angemessen dokumentieren. Wir haben uns daher entschieden, in dem vorliegenden Band (lediglich) die im Rahmen der Konferenz gehaltenen Vorträge sowie die Podiumsdiskussionen zu dokumentieren. Nur in Ausnahmefällen entstanden im Zusammenhang mit den Tischgesprächen und Workshops längere Texte, die in diese Publikation aufgenommen werden konnten. Kathrin Tiedemann konnte ihr Impulsreferat bedauerlicherweise nicht während der Konferenz halten, hat uns ihr Manuskript jedoch freundlicherweise für dieses Buch zur Verfügung gestellt. Der hier abgedruckte Text von Jan Deck entstand als spontane Reaktion auf und als Kommentar zur Konferenz.

An dieser Stelle sei allen Referenten, Mitarbeitern und allen Beteiligten der Konferenz für ihr Engagement gedankt. Unser besonderer Dank gilt den Förderern und Partnerverbänden, ohne deren Engagement wir die Konferenz nicht hätten durchführen können: dem Ministerium für Wissenschaft Forschung und Kunst Baden-Württemberg, dem Landesverband Baden-Württemberg des Deutschen Bühnenvereins, der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste Bensheim und der European Theatre Convention. Die vorliegende Publikation wurde ermöglicht durch die Unterstützung des Deutschen Bühnenvereins, wofür wir uns ebenfalls herzlich bedanken möchten.

Unser ausdrücklicher persönlicher Dank gilt Jan Linders, Schauspieldirektor am Badischen Staatstheater Karlsruhe und langjähriges Mitglied des Vorstands der Dramaturgischen Gesellschaft, der Intendantin des Tübinger Landestheaters Simone Sterr sowie Franziska Kötz, Leiterin der Schauspielschule an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart. Bedanken möchten wir uns stellvertretend für alle Helfer bei Annemarie Graser und Christoph Awe für die Organisation der Konferenz. Claudia Valet schließlich hat nicht nur vor und während der Konferenz unermüdlich zu deren Gelingen beigetragen, sondern auch an der Zusammenstellung der vorliegenden Publikation erheblichen Anteil, weshalb ihr ebenfalls unser herzlicher Dank gebührt.

Im vorliegenden Band sind nicht alle im Rahmen der Konferenz gehaltenen Vorträge, Gespräche und Diskussion dokumentiert.

Hans-Jürgen Drescher

Christian Holtzhauer

* Wir haben in dieser Publikation aus Gründen der besseren Lesbarkeit die männliche Schreibweise gewählt. Selbstverständlich sind damit immer Frauen und Männer gemeint.

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