Theater der Zeit

I build my time

Ein Vorwort

von Wilfried Schulz

Erschienen in: fünfzig – Das Düsseldorfer Schauspielhaus 1970 bis 2020 (01/2020)

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Häuser werden von Menschen gebaut, Geschichte wird von Menschen gelebt und vorangetrieben, Theater von Menschen erdacht und gemacht. Jeder steht in seiner Zeit und gestaltet, bewegt und verantwortet sie gleichermaßen. I build my time. Übrigens ein Zitat von Kurt Schwitters.

Dieses Buch betrachtet fünfzig Jahre Historie des Düsseldorfer Schauspielhauses. Am 16. Januar 1970 wurde das neue Theater, der Pfau-Bau, das Theater am Gustaf-Gründgens-Platz eröffnet. Fünfzig Jahre sind eine überschaubare, von vielen Menschen miterlebte Zeitspanne. Deshalb verfolgen wir mit diesem Jubiläumsband eine Doppelstrategie: Einerseits wird aus Wissenschaft, Theatergeschichte und -kritik analytisch auf die Geschichte geblickt, gibt es zudem eine Chronik aus Ereignissen, Namen und Bildern, andererseits erklingt ein vielstimmiger Chor aus Zeitzeugen der verschiedenen Intendanzen und künstlerischen Entwicklungen. Diese Multiperspektivität bietet die große Chance, Geschichte aus Geschichten zu begreifen, und führt zu sich ergänzenden, manchmal sich widersprechenden Erzählungen. Das ist so gewollt und nicht geglättet. Es handelt sich übrigens ausschließlich um Originalbeiträge, wofür wir allen, die analysiert, erinnert, Position bezogen haben, herzlich danken.

Das oft als eine große Theaterfabrik charakterisierte Haus hat viele prägnante Momente des ästhetischen und gesellschaftlichen Aufbruchs erlebt – manche gelungen, manche auch gescheitert –, und es hat die Konflikte dieser Republik auf der Suche nach sich selbst gespiegelt und thematisiert. Alles beginnt an einem Punkt heftiger gesellschaftlicher Bewegungen, Schrecken und Prägungen des Faschismus im Wirtschaftswunderland Deutschland sind noch gegenwärtig, und spannt den Bogen in eine Gegenwart, die vielen als zerrissen und von unbestimmter Perspektive erscheint.

Jubiläen stehen oft als formale Fix- und forcierte Feierpunkte etwas verloren in ihrer Gegenwart. Hier und diesmal kann es anders sein. Nach fast fünfzig Jahren in diesem Haus, bei dem man sich angewöhnt hat, von einer Architekturikone zu sprechen, hat es einen Stopp gegeben, bedingt durch äußere Umstände, durch die Notwendigkeit, das Gebäude zu sanieren und zu modernisieren, und durch den großen städtebaulichen Eingriff am Gustaf-Gründgens-Platz – die Neudefinition einer Stadtmitte zwischen Konsumangebot, Finanzwirtschaft und Kunst. Die Politik, die Theatermacher und in der Folge die vielfältige Stadtgesellschaft haben grundsätzlich und radikal diskutiert, was dieses Theater leistet und wofür es in Zukunft stehen soll. Parallel dazu hat unser Theater improvisiert – mit neuen Formaten, an neuen Orten. Und diese Erprobungsphase und dieser Diskurs, oftmals eine offene Feldschlacht, haben eine Entscheidung gebracht: Das Theater ist gewollt und wird gebraucht, mitten in der Stadt, im historisch wertvollen Haus von Bernhard Pfau und es wird baulich und künstlerisch weiter entwickelt. Die demonstrative positive Identifikation der Düsseldorferinnen und Düsseldorfer mit ihrem Schauspielhaus, mit der künstlerischen Geschichte des Schauspiels, mit dem gemeinsamen Ort, an dem Fragen einer lebenswerten Gegenwart und Zukunft verhandelt werden, mit der symbolischen Funktion des Hauses war in den letzten Monaten enorm und hat sich auch in den höchsten Besucherzahlen seit fast drei Jahrzehnten niedergeschlagen. Insofern wird aus dem Jubiläum eine Vergewisserung und ein Neustart. Es ist eine große Chance, dieses Theater in die Zukunft zu führen, künstlerisch und in seiner Bedeutung für die Stadt.

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass unsere sich im Inneren verkämpfende Gesellschaft, welche Gegensätze nicht mehr aushält, den Ort der Kunst, des Nachdenkens und Nachfühlens, lebensnotwendig braucht, dass die Leistung, der Wettkampf, die Unbegrenztheit des Wachstums, die Ökonomisierung aller Lebensbereiche, das Verschwinden des gemeinsamen öffentlichen Raumes einen Gegenpol brauchen. Theater ermöglicht Konzentration und Reflexion. Man bezieht sich gemeinsam auf eine dritte Sache und verhandelt damit das Eigene. Kunst und gesellschaftliche Bewegungen durchdringen sich heute oft leichter, als dies im Kampf zwischen den verschiedenen politischen Positionen möglich ist. Weil Haltungen durchgespielt werden können, man nicht um jeden Preis recht haben muss, man unterschiedlichen Gedanken und Figuren folgen, sie wieder verlassen kann. Auch das Bekenntnis ist auf dem Theater ein Zitat. Und die Glaubwürdigkeit muss man in der Eigenart des Einzelnen und der hohen und bewusst gesetzten Subjektivität der Kunst suchen; sie ist nicht – wie in der Politik – existenziell mit dem Status verbunden. Theater (wie andere Räume der Kunst) kann ein Dritter Ort, ein open space in jedem Sinne sein, wenn es Menschen aus allen Teilen der Stadtgesellschaft einlädt und sensibel und offen, nicht opportunistisch, gesellschaftliche Bewegungen beobachtet, erforscht, sich spielerisch beteiligt. Wir Theatermacher leisten das nicht immer, aber wir versuchen es. Wir wissen nicht mehr als die anderen, aber auf einem Spielfeld ergeben sich manchmal Züge, die so nicht berechenbar waren. Wir sind ganz in der Gegenwart, wenn Bertolt Brechts „Leben des Galilei“ auf dem Jubiläumsspielplan steht, ein Stück über die Grenzen der Aufklärung, über die Wahrheit und ihre Durchsetzbarkeit. Vor ihm hat „Michael Kohlhaas“ nach Recht und Gerechtigkeit gefragt, „Der Kaufmann von Venedig“ nach dem Schmerz, der durch den anderen und das andere entsteht, „Gilgamesh“ nach den Ursprüngen von Individuum und Stadt, „Coriolan“ nach dem Verhältnis von Volk und Macht, Simon Stephens’ „Heisenberg“ nach der Würde in der Liebe, „Der Sandmann“ nach Obsession und Albtraum, Elfriede Jelineks „Das Licht im Kasten“ nach der Fragilität unserer glänzenden Oberflächen und der Lust am Selbstentwurf ... Sie alle stehen nur exemplarisch für die vielen Versuche unserer Annäherung, unserer Fragen an das Jetzt, die das Publikum teilte, die uns gemeinsam bewegten.

„Under construction“ hieß für uns das Motto der letzten Spielzeiten. Man findet es auch hier gleich zu Beginn als Überschrift eines Artikels, und „Umbau“ heißt der letzte Beitrag in diesem Buch. Bau-Metaphern werden in der Kunst häufig strapaziert. Auch wenn Theaterhäuser länger bestehen als unsere Modelle und Bühnenbilder, ist ihre Funktion, ihre Technik, ihre Materialität vielfältigen Transformationen unterworfen. Kein Theater ist jemals fertig; jeden Abend, jede Spielzeit, mit jeder Intendanz wird es neu definiert und erfunden. Kunst ist unfertig, Kommunikation ein Prozess und die Menschen – auf der Bühne und im Zuschauerraum – kommen immer wieder neu zusammen.

Der Architekt Bernhard Pfau hat dabei geholfen, eine menschenfreundliche, sinnliche, selbst- und zeichenbewusste Moderne zu kreieren. Er entwarf im Geist einer Zeit, die sich an historischer Schuld abarbeitete (oder sie ignorierte), und war schon bei der Eröffnung des Baus mit einem neuen kritischen Gesellschaftsbewusstsein konfrontiert, das mehr gefordert hat. Der Bau und das Theater auf der Bühne schienen auf einmal eher Isolation der Kunst, bürgerliche Hermetik und Repräsentation zu signalisieren als Aufbruch. Gustaf Gründgens, eine andere Düsseldorfer (und Hamburger und Berliner) Ikone, umfasst als Namensgeber eines Platzes und als seltsam verrätseltes Denkmal im Hofgarten das Haus als eine Klammer und hält – ein wenig bedrohlich, ein wenig verschämt, ein wenig überwindend, ein wenig überwunden – die Vorvergangenheit in ihrer ganzen Ambivalenz gegenwärtig. Blättert man durch dieses Buch, wird man erfahren, dass das Düsseldorfer Schauspielhaus, seit es im Januar 1970 diesen spannungsreichen Kunstbau bezogen hat, immer hochproduktiv gewesen ist und einen Großteil künstlerischer und gesellschaftlicher Entwicklung von damals bis heute abgebildet und manchmal auch vorangetrieben hat: die Kontroverse um ’68 und der Preis, der für diesen Aufbruch zu zahlen war; modellhafte Ansätze von Enthierarchisierung künstlerischer Arbeit (bei Löscher und Ciulli); politische Öffnungsarbeit im geteilten Deutschland und Europa (siehe Beelitz); die Suche nach Internationalität (bei Badora und Holm); Entwürfe ästhetischer Avantgarde (Schroeter, Schleef, Gotscheff, Gosch, Rimini Protokoll und viele andere); die Selbstvergewisserung einer Stadtgesellschaft durch prägende, sich auf Düsseldorf einlassende Schauspielerinnen und Schauspieler (von Reinbacher bis Hoika, von Alphons bis Pfammatter); die relativ frühe Entscheidung für Frauen in Gesamtverantwortung für das Haus (Badora und Niermeyer); die Gründung eines Kinder- und Jugendtheaters, später eines partizipativen Theaters, der Bürgerbühne, als Antwort auf emanzipative Entwicklungen (1976 und 2016); die öffnende Kooperation mit anderen Institutionen, Freien Gruppen und Kollektiven aus den verschiedensten Bereichen; die Integration der Diskurse um Diversität und Gendergerechtigkeit in die Arbeit – und vieles mehr.

Theater bauen und wieder aufbauen war im Nachkriegsdeutschland ein lebendiger Akt der Rehumanisierung. Sie entstanden schnell und flächendeckend. Heute verzweifeln Kommunen und Bundesländer, wenn die oft nicht allzu intensiv gehegten öffentlichen Immobilien einen Sanierungs- und Modernisierungsbedarf im hohen dreistelligen Millionenbereich, manchmal gar sich der Milliardengrenze nähernd, aufweisen. Was will die Gesellschaft sich leisten, wie wollen wir leben, was kostet die Welt, was kostet die Kunst? Blickt man nach Köln, Frankfurt, Stuttgart oder Berlin, können sich die Düsseldorfer glücklich schätzen, dass die Sanierungen und Modernisierungen, die vor zehn Jahren (im Saal und auf der Bühne) und im großen Umfang jetzt von 2016 bis 2020 (technische Infrastrukturen, Fassade, Dach, öffentliche Bereiche) getätigt wurden, weit, sehr weit darunter liegen. Die Differenz liegt in der entscheidenden Null und ist der Tatsache zu verdanken, dass der Bau von Bernhard Pfau in vieler Hinsicht zukunftsweisend war. Die Stadt Düsseldorf und das Land Nordrhein-Westfalen, unterstützt durch Institutionen des Bundes und vor allem durch eine tat- und zahlkräftige Bürgerschaft, haben die Chance ergriffen, dem Haus eine Zukunft zu geben. Gemeinsam mit den Künstlerinnen und Künstlern, mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Theaters, mit dem Publikum, das sein Theater liebt. Dafür sind wir sehr dankbar. Es soll, lassen Sie uns anspruchsvoll denken, für die nächsten fünfzig Jahre ein gemeinsamer offener Ort für alle Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt sein. Ein Ort der Selbstverständigung einer Stadtgesellschaft. Ein Ort, der allen – und niemandem – gehört. Ein Ort, an dem Empathie, das Einfühlen in Rollen, das neugierige Betrachten des Anderen, das Ausprobieren dessen, was sich fremd anfühlt, das Zulassen von Differenz in Identität und Erfahrung selbstverständlich und Voraussetzung ist. Eine offene Bühne für alle, die unsere Gesellschaft prägen und prägen werden, die ihre Geschichten erzählen wollen und damit unsere Geschichte bestimmen. Ein Ort, der der Kunst eigen ist, dem Experiment ebenso wie dem Erinnern, wo Modelle des Zusammenlebens diskutiert werden, ein Ort der Reflexion von Geschichte, Gegenwart und Zukunft.

Wir alle, die in den letzten Jahren im wahrsten Sinne des Wortes viel um die Ohren hatten, begreifen diese Phase als Chance eines „Umbaus“ – in innerer und äußerer Struktur. Und es ist ein gutes Zeichen, dass – ein Jubiläumsgeschenk – Sanierung und Modernisierung des Düsseldorfer Schauspielhauses jetzt (bald) abgeschlossen sind. Sorgsam wurde mit der Architektur von Bernhard Pfau umgegangen, Farben und Materialien restauriert, der Teppich, die Säulen, tausende Quadratmeter Betonflächen, mit dem neuen gläsernen Eingang und der Verglasung zum Hofgarten eine neue Transparenz und Helligkeit geschaffen, für Zuschauer und Mitarbeiter Kassenbereich, Garderoben, Sanitärbereiche, Restauration, Barbereiche und Kantine modernisiert, die Akustik im Foyer verbessert, digitale Informationssysteme neu geschaffen, Großes und Kleines Haus behindertengerecht mit Fahrstühlen ausgestattet, eine neue kleine experimentelle Spielstätte, das Unterhaus, errichtet, Möblierungen restauriert und neu geschaffen ... Und wenn die Arbeiten zu Ende gebracht sind, wird hoffentlich auch der Gustaf-Gründgens-Platz neu gestaltet und so einladend wie noch nie vor dem Haus liegen.

Ich danke allen, vor allem den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, dem Ensemble, den finanziellen und den moralischen Unterstützern, den politisch verantwortlich Handelnden und natürlich den Besucherinnen und Besuchern, die diesen Transformationsprozess mitgetragen haben und mittragen. Es ist kompliziert, aber es lohnt sich. Wir laden herzlich ein in ein freundliches, offenes Haus der Kunst, das den Menschen gehört: fünfzig Jahre alt und neu zugleich. Und wir laden mit diesem Buch ein, durch die Geschichte zu schweifen und in der Gegenwart, im Düsseldorfer Schauspielhaus anzukommen.

We build our time.

PS: Bei Erscheinen dieses Jubiläumsbandes werden die Arbeiten am Haus noch nicht abgeschlossen sein. Da wir aber weder das Jubiläum verschieben wollten noch auf die Foto-Präsentation des Endzustandes des Düsseldorfer Schauspielhauses verzichten möchten, liefern wir Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, einen Anhang – auf Anforderung (s. Innenumschlag hinten) – nach. So soll es sein, bei aller Liebe zum Unfertigen in der Kunst ...

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