Und geht das also nun wirklich in Richtung ökologische Dramaturgie?
Drei Anzeichen dafür
von Kai van Eikels
Erschienen in: Recherchen 165: #CoronaTheater – Der Wandel der performativen Künste in der Pandemie (08/2022)
Assoziationen: Dramaturgie Wissenschaft Dossier: Klimawandel
In einer Studie für den Fonds Darstellende Künste habe ich zusammen mit Laura Pföhler und Christoph Wirth untersucht, wie die Freie Szene in den Jahren 2020 und 2021 auf die Auswirkungen der Pandemie reagierte.1Unsere Aufmerksamkeit galt besonders der Beziehung zwischen Veränderungen im Arbeitsprozess und ästhetischen Veränderungen. Dabei stellte sich heraus, dass einige interessante Entwicklungen, die wir ausmachten, Antworten auf die Frage geben, wie eine ökologische Ästhetik aussehen könnte. Diese Frage stand nicht am Anfang, sie ergab sich in der Auswertung unseres Materials: Wir haben den Eindruck gewonnen, dass die Live Arts derzeit auf Wegen zu einer ökologischen Ästhetik sind.
Die Formulierung ökologische Ästhetik impliziert, dass es für ein ökologisches Engagement der Live Arts nicht ausreicht, wenn man ökologiebezogene Themen aufgreift und in etablierten Formaten verhandelt – also beispielsweise Theaterstücke über die Klimakrise schreibt und diese dann von Schauspieler*innen aufführen lässt oder Tiere, Pflanzen, Kristalle, Nebel in einen szenischen Raum bringt, wo die Leute sich als Theaterpublikum versammeln und vor allem draufschauen, um dann als Draufschauende Erfahrungen zu machen. Ich halte es für wenig wahrscheinlich, dass die Reflexion solcher Erfahrungen dazu stimuliert, etwas am Leben zu ändern, das dazu beiträgt, die Zerstörung des Planeten durch den Menschen doch noch rechtzeitig zu stoppen oder auf ein weniger als katastrophales Maß zu verringern.
Ohnehin besteht kein Anlass, die soziale Effektivität von Kunst zu überschätzen, schon gar nicht bei einem Anliegen, das von der Sachlage her zwingend eine bestimmte Handlungsrichtung nahezulegen scheint. Für eine Auseinandersetzung mit den Problemen, die sich zum Profil einer ökologischen Katastrophe verdichten, geht es ja in erster Linie weder um das Eröffnen neuer Möglichkeiten noch um die Infragestellung von Prämissen, was einst die Stärken einer liberalen bürgerlichen Kunst waren, wie wir sie hierzulande immer noch pflegen. Es käme vielmehr auf Mobilisierung an – darauf, effektiver zivilen Druck auf die Regierungen auszuüben oder zivile Initiativen zu organisieren, die an der Regierungspolitik vorbeiziehen.
Kunst kann jedoch unsere Welt- und Selbstwahrnehmung verändern und so auch die Dynamik dessen, was mit und zwischen unseren Körpern passiert. Dafür ist es wichtig, dass wir die Formen künstlerischer Arbeit in Bezug auf ökologische Kriterien prüfen. In einem weiten Sinn des Wortes betrifft dies Formen des Miteinander-Arbeitens, das Kunst entstehen lässt, vom Konzipieren über das Ausarbeiten von Ideen, das Proben und das vorausgesetzte Training bis hin zu Präsentationen, seien es Aufführungen oder andere Darbietungsprofile. Es schließt die Infrastrukturen ein, auf die dieses Arbeiten zurückgreift, den Umgang mit materiellen Ressourcen, Energieverbrauch und Logistik.2 Und es erstreckt sich auf die Vorstellungen vom richtigen Wie des Miteinanders sowohl der Künstler*innen als auch der anderen Beteiligten: die Formen des Zusammenkommens, der Versammlung zu einer kollektiven Konstellation; die zeit-räumlichen Formen, die für das sinnliche Erfassen Horizonte ziehen, ein Zusammenhängen zum Vorschein bringen – oft über ästhetische Rahmungen und organisatorische Grenzen eines Veranstaltungsformats hinweg oder quer zu dem, was Kategorien wie Fiktion und Realität, künstlerische Arbeit und Institution bzw. Kunst und Gesellschaft sortieren –, um aus diesem Zusammenhängen heraus dramaturgisch oder »postdramaturgisch«3 Sinnstiftungsprozesse zu initiieren; sowie die Formen der Archivierung, der Überlieferung, der Verwaltung von Endlichkeit. Ökologische Ästhetik – so könnte man es auf eine knappe Formel bringen – meint die Veränderung unserer Welt- und Selbstwahrnehmung vermittels einer Veränderung dieser Formen.
Dafür, was das heißen kann, möchte ich im Folgenden drei Anhaltspunkte geben: erstens eine Neukalibrierung der Imagination, zweitens eine Neubestimmung von Liveness und drittens eine Redeterminierung des Konzepts Aufführung über ein gemeinsames World Building.
1. Sinnes-Remix zur Neukalibrierung der Imagination
Präzise sollte man von einer Neukalibrierung der Situation, in der Imaginieren stattfindet, sprechen. Kunst generell und die von ihren technischen Möglichkeiten der Illusionserzeugung beschränkten Live Arts insbesondere kooperieren immer schon mit der Imagination der Zuschauer*innen.4 Aber das Primat des Sehens im Theater, dessen Name bekanntlich vom griechischen Verb für schauen kommt, hat zumeist dafür gesorgt, dass die Einbildungskraft ihre Aktivität im Kontext einer vom Visuellen her den Körper involvierenden Erfahrung entfaltete. In dem oben mit »Draufschauen« Bezeichneten tobte die Dynamik des Begehrens, wie theatrale Live-Arts-Settings es reizten, sich in einer Dialektik oder einer erotischen Aporetik des Blickes aus. Der restliche Körper folgte dem, was die Imagination aus und mit der Blickbeziehung machte – oder konnte nicht folgen, und gerade das bewirkte eine Spannung und machte die Aufführung spannend.
Auch gelegentliche Ausnahmen waren dadurch bestimmt, dass es einmal ›nichts zu sehen‹ gab. Es wurde eher die Negativität eines Nichtsehens erfahren, als dass andere Sinne eine Chance erhalten hätten, die Körperlichkeit der ästhetischen Erfahrung umzubestimmen. In Speculations, einer eindrucksvollen Beschreibungs-Performance, schilderte Mette Ingvartsen etwa eine Explosion in Zeitlupe und verwandelte so eine Szene aus dem Film Zabriski Point in einen Nicht-Film. In den ersten zehn Minuten des von Anne Teresa De Keersmaeker choreografierten Tanz-Gesangs-Stücks Cesena, das bei Sonnenaufgang begann, hörte man die nur als Silhouetten ahnbaren Körper der Tänzer*innen über Sand auf dem Hallenboden rutschen, und die fein abgetönte Komposition aus Schab-, Scharr- und Schlittergeräuschen war viel schöner als das folgende konventionelle Getanze. Am unauffälligsten übernahmen Stimmen die Leitung der körperlichen Organisation von Erfahrung bei Audio Walks. Da gehörte das Sehen zwar durchweg dazu, aber die akustischen Signale von Stimmen und Soundscapes regten dazu an, das, was einem unter die Augen kam, als Entsprechung oder Nichtentsprechung zum Gehört-Vorgestellten wahrzunehmen – teils auch durch Aufnahmetechniken wie dem »binaural recording« mit besonderen räumlichen Wirkungen verstärkt.5
Das Format des Audio Walks war auch mit den Kontaktbeschränkungen zur Pandemie-Bekämpfung kompatibel und zählt zu den Inspirationsquellen einer Reihe von Arbeiten, bei denen das Visuelle zurücktritt für Stimmen und Klänge.6 Ein Negativgrund spielt sicherlich mit hinein in diese Präferenz- und Orientierungsverschiebung: Bildschirmmüdigkeit. Wer für die Arbeit und Privatkommunikation schon einen Großteil des Tages vor dem Rechner verbracht hat, ist womöglich weniger für optisches Spektakel von Online-Aufführungen zu begeistern. Eine andere wichtige positive Anregung kommt indes aus dem Netz: die sogenannten ASMR-Videos.7 Dieser Trend, der mittlerweile schon etliche Subgenres hervorgebracht hat, zeigt, wie intensiv Menschen auf Geräusche oder stimmliche Qualitäten reagieren. Wenngleich die Videos vorproduziert und dann auf einschlägigen Plattformen beliebig abrufbar sind, vermitteln sie eine Live-Atmosphäre, und die Beziehung der Hörenden zu den Performer*innen, die mit ihren Fingernägeln die Oberflächen von Gegenständen entlangstreichen, Intimes in hochsensible Mikrofone hauchen oder bei Spaziergängen Regen auf ihren Schirm prasseln lassen, kann sich sehr persönlich anfühlen.
The Medium is the Massage variierte Marshall McLuhan seinen berühmten Slogan vom Medium als Botschaft.8 In diesem Sinne arbeiten immer mehr Künstler*innen in den Live Arts mit der Körperlichkeit eines akustischen Massiert-Werdens, damit auch in Online-Streams oder Aufzeichnungen körperliche Beziehungen zwischen Performenden und Publikum entstehen können. Die neuronale Stimulation der Soundscapes verleiht der Behauptung vertrauter oder sonderbarer Welten Plausibilität und wirft Fragen bezüglich der Grenzen von Körpern auf – und das ist ein ökologisch interessanter Aspekt, denn die Aufteilung der Welt in körperliche Einheiten und Beziehungen erfolgt vom Akustischen her durchaus anders als vom Visuellen.
Ein gutes Beispiel dafür, was Körper heißt, wenn man es von Stimme und Klang her erfährt, ist Extinct, ein soundpiece von Teo Ala-Ruona und Tuuka Haapakorpi. Die Arbeit hat kein explizit ökologisches Thema, obwohl man das vom Titel her annehmen könnte, aber es geht nicht um aussterbende Tier- und Pflanzenarten, sondern um die Unabschließbarkeit dessen, was wir konventionell als menschlichen Körper bezeichnen (die Biologie spricht mittlerweile eher vom Holobiom, da so ein Körper nicht lebensfähig wäre ohne die räumliche Kohabitation, den materiellen Austausch und die Kooperation mit Milliarden von Mikroorganismen9). »The piece portrays a transbody as a haunted house that is inhabited by a ghost«, heißt es im Programmtext des queerfeministischen Nocturnal Unrest-Festivals im Mousonturm, auf dem die Arbeit 2021 zu erleben war.10
Nach einem musikalischen Intro beschreibt eine raue Stimme mit der nachdrücklich sanften Suggestivität einer Somatics-Übung, wie die Person, die mit ihr »ich« sagt, sich als Kind ins Bett legte, die Hände über der Brust verschränkte wie ein Vampir und sich dann vorstellte, die Finger würden durch die Haut ins Körperinnere vordringen, das Herz und die übrigen Organe herausholen, in der Brust eine luftige Leere erzeugen. Während Würggeräusche im Echoraum flattern, legt die Erzählende dar, wie beide Hände (ihre oder meine) durch den offenen Mund tief in den Hals eindringen, sich die Speiseröhre hinunterwühlen, durch das Sekretbad des Magens und der Gedärme bis zum »rectum and lovely, sentient anal canal«, dem Ort der Ruhe, des Glücks. Dort angekommen, lädt das Stimmen-Ich ein, ihm Gesellschaft zu leisten: »I would like to take you there with me, to this void – I need company, I don’t want to be alone.« Es folgt eine masturbatorische, Bulimie und Koprophagie als imaginäres Transportmittel nutzende Reise durch Substanz- und Bildfluten, vorgetragen mit teils verzerrter, verdoppelter Stimme in einem Tonfall genüsslicher sleaziness, der an Lydia Lunch erinnert. Wieder im Übungsmodus, werden die Hörer*innen aufgefordert, die Stimme einzuatmen und ihr im Ausatmen mitzuteilen, dass sie ein Engel sei, ehe die Reise in eine reale oder imaginäre Kindheit des transbody weitergeht.
Extinct macht eindrücklich erfahrbar, dass diese Welt nicht aus soliden, voneinander abgegrenzten Körpern besteht, die sich wie Eigentümer*innen selbst gehören und dann nach Bedarf sekundär Beziehungen zueinander eingehen. Vielmehr besteht der lebende Körper wesentlich in dem, was in ihn eindringt und was er an die Umwelt abgibt, da er es nicht bei sich halten kann. Doppelte Inkontinenz, nach außen wie nach innen, ist sowohl die Bedingung des Am-Leben-Seins als auch die erotische Konstitution einer Subjektivität, die sich ihrer Körperlichkeit hinzugeben vermag. Auch ohne explizit ökologische message erinnert das soundpiece in einem zeitgenössischen Modus an etwas, was bereits früheren Generationen wiederholt aufgegangen war: dass die radikale Umbestimmung des Verhältnisses zur Welt, wie Ökologie sie verlangt, nicht darauf beschränkt ist, dem Subjekt mit dem Flugblattverteilergestus von Pflichtethik in den Weg zu treten (»Hier, schau mal, ab heute darfst du das und das nicht mehr tun und musst das und das tun …!«), sondern es auch bei seinen Lüsten abholen kann – bei denjenigen lustvollen Zuständen, in denen der Körper erotische Assemblagen mit der Umwelt bildet, wo das »ich« keine gesetzte vorgängige Entität ist, sondern etwas, das sich innerhalb von »sympoietischen«11 Prozessen immer wieder irgendwo ergibt. Was im alten Regime, dem Anthropozän des abgedichteten, seine Exzesse in Kapitalbildung investierenden Subjekts als pathologisch erscheint – Fressen-und-Kotzen als Gabentausch oder die eigene Scheiße essen –, das taugt womöglich zur Subjektivierungsfigur für ein speziesübergreifendes Zusammenleben, bei dem Kompost die Rolle von Kapital übernimmt.
2. Die Macht der Animation bestimmt Liveness neu
Die Rekalibrierung, die der Imagination widerfährt, betrifft auch die Art und Weise, wie die Live Arts interaktive Software einsetzen. Schon vor Corona haben Künstler*innen der Freien Szene damit experimentiert, Software selber zu programmieren, und die Verlagerung von Publikumsversammlungen in Theatergebäuden zu Online- und Hybridformaten hat das verstärkt und auch den Status dieser Leute verändert. Sie stehen jetzt nicht mehr am Rand als technophile Außenseiter*innen mit Nähe zu einer ›Medienkunst‹, die man in den Live Arts ignoriert, während auf der Bühne die Projektoren heißlaufen, sondern geben in Netzwerken ihr Wissen und Können an neue Interessierte weiter wie das Kollektiv outofthebox, das eine Plattform namens Breakdown initiiert hat. Breakdown legt besonderen Nachdruck auf die Expertise von Frauen beim Programmieren. »Dafür laden wir Gäste aus Medienkunst, Game-Design und performativer Kunst ein, die Black Box ihrer Arbeit zu öffnen«, heißt es in der Selbstbeschreibung. Anhand von jeweils einem konkreten Beispiel werden digitale Tools, Methoden für Workflow und Designziele offengelegt, Herausforderungen und Inspirationen geteilt. An der Schnittstelle von Tutorial, Showcase und Q&A ermöglicht Breakdown niedrigschwellige Zugänge zu digitaler Kunst und stößt neue Synergien zwischen Netzwerken aus Kultur und Technologie an.12
Dass für die Live Arts ›das Internet‹ mitsamt seinen technosozialen Erstreckungen in die Welt der Kohlenstoffwesen kein geläufiges Medium ist, sondern zunächst mal ein Milieu im biologischen Sinne – und zwar ein nicht nur freundlich gesonnenes Milieu –, nötigt dazu und bietet zugleich die Chance zu schauen, wie sich die Situation namens Liveness aus der Unsicherheit und Verlegenheit dieses Milieus heraus neu organisieren lässt. Das bedeutet bei vielen Glitch-Momenten eine große Öffnung. Denn live – so zeigt sich gerade in Interaktionen mit Software – ist alles, was sich für die Beteiligten live anfühlt, was ihnen den Eindruck vermittelt, in eine lebendige Kommunikation involviert zu sein. Die Künstler*innen bringen ihre Erfahrungen aus den Live Arts ein, indem sie sich weniger auf das Design täuschend realistischer oder überwältigend phantastischer virtueller Realitäten konzentrieren als auf eine kluge Kooperation mit der Einbildungskraft der Zuschauer*innen und/oder Partizipierenden: Manchmal reicht ein Chatbot, ein paar Textzeilen, die auf einem Display auftauchen, und das funktioniert quasi als Köder für meine Imagination. Dadurch, dass ich damit interagiere und mich subjektiv investiere, wird daraus eine spannende Live-Situation – und wird das Wesen ›am anderen Ende‹ der Kommunikation zu einem lebendigen Wesen.
Animation ist derzeit ein allgemeines Wirkungsprinzip. Ob Textchat per Telegram oder Virtual Reality mit High-Tech-Brille, die Technologie animiert mich, das, was sie mir präsentiert, zu animieren, es zu beseelen, zu verlebendigen. Das Figuren- und Objekttheater reflektiert seit Längerem das Konzept der Animation, und die gegenwärtigen Experimente tragen dazu bei, die Grenze zwischen Figuren-/Objekttheater und den Spielarten des ›Menschentheaters‹ durchlässiger zu machen. Auch diese Entwicklung ist nicht zuletzt deshalb zu begrüßen, weil sie die Wahrnehmungserfahrung in den Live Arts hin zu einer ökologischen Ästhetik verschiebt. Live Arts, die mittels Technologie die Imagination der Besucher*innen anregen, sich in eine Welt zu begeben, in der kein kategorischer Unterschied mehr menschliche von nichtmenschlichen Körpern trennt, bereiten uns darauf vor, die Welt nicht als eine Menge von Objekten zu erleben, die uns vor Augen steht, sondern sie als ein Milieu zu erfahren, in das wir selbst mit hineingehören.
Ein gutes Beispiel für eine solche »intra-aktive«13 Herangehensweise ist Vera Voegelins Projekt Earthbound, das sich zum Ziel gesetzt hat, der menschlichen Erfahrung über animative körperliche und imaginäre Beziehungen Zugang zur sogenannten critical zone zu verschaffen, wo wir Menschen auf und nahe der Planetenoberfläche zusammen mit Tieren, Pflanzen, Mineralien und Mikroben leben. Erarbeitet wurde die »multi-sensorische, spekulative Performance« für das Festival Theater der Dinge an der Berliner Schaubude 2020. Hinter dem Namen Vera Voegelin verbergen sich Leonie Voegelin und Anna Vera Kelle.14 Das Duo beschrieb und zeigte unter anderem die Konstruktion eines breathing belts. Dieser Gürtel wird mit Vibrationsmotoren verbunden, die eine Grasmatte oder Sand auf einer Platte rütteln, so dass die Trägerin oder der Träger die eigene Atmung als etwas erfahren kann, das Umwelt-Bewegung auslöst.
Atmen taucht – vielleicht wenig überraschend in der Covid-Pandemie – sehr häufig als Relais-Prozess auf, der zwischen den digitalen, algorithmenbasierten Komponenten und den analogen Komponenten vermittelt. Atemsensoren sind vielleicht das emblematische Tool derzeit für die Live Arts. Earthbound und ähnliche Praktiken zeichnet aus, dass sie das Engagement der Einbildungskraft mit einem Realismus der Körper verknüpfen. Sie verführen Publikum oder Partizipierende nicht dazu, sich in ›heilsame‹ Imaginationen zu flüchten, um dem frustrierenden Ist-Zustand in eine bessere Welt zu entkommen, versprechen nicht, diese Welt werde kommen, so man sie nur fleißig einbildet. Vielmehr verstehen sie das Imaginieren selbst als eine körperliche Aktivität, praktizieren es in performativen Arrangements, die den Körper zugleich zur Quelle, zum Verwirklichungsmedium und zum wachen, durchaus auch zweifelnden Selbstbeobachter der Animation machen.
Sie sind daher auch nicht wissenschafts- und technologiefeindlich, halten aber darauf, dass ein anderer Typ von Experiment den Laborstudien der Research-&-Development-Abteilungen von Konzernen ihr Monopol streitig machen muss. Im Sinne von Practice-Based Research arbeiten sie daran, Forschen zu demokratisieren, indem sie sich auf schiefen Bahnen in Forschungsprozesse einmischen und nichtspezialistische Partizipationsmöglichkeiten für andere eröffnen. Die Formulierung »Kybernetik der Armen« erfasst das recht gut. Kybernetik der Armen lautete der Titel einer von Diedrich Diederichsen und Oier Etxeberria kuratierten Ausstellung in der Kunsthalle Wien, die zeigte, welche Möglichkeiten Kunst hat, in autodidaktischen Aneignungen ohne die Macht und Finanzkraft von Regierungen, Militär und Konzernen kybernetisches Denken zu verwirklichen und mit entsprechenden Technologien zu arbeiten.15 Ökologie und Kybernetik haben eine gemeinsame Geschichte, die von heute aus wieder aufzugreifen wäre, und dies eben nicht im Sinne eines regierungstechnischen Systemdenkens, das jetzt auch die Mitverwaltung »der Natur« übernimmt, sondern eher in der Perspektive von Gregory Batesons Ecology of the Mind: als praktisch-experimentelles Verstehen komplexer Wirkungszusammenhängen aus einer Position des Eingelassen-Seins in diese Zusammenhänge.16
3. Gemeinsames World-Building redeterminiert das Konzept ›Aufführung‹
Die Performance-Ästhetiken der Freien Szene seit den neunziger Jahren waren stark durch eine Kritik und Dekonstruktion der schauspielerischen Rolle geprägt: Das Reale dominierte über die Fiktion, sei es in Form des Dokumentarischen, sei es in Brüchen der Darstellung. Derzeit erkennen wir dagegen ein bejahendes Verhältnis zu Rolle und zu Fiktion, allerdings keine Rückkehr zum dramatischen Theater, sondern ein Selber-Spielen, beeinflusst durch Formate wie Live Action Role Play (LARP) und Real Live Game (RLG). Dabei zielt das Rollenspiel nicht darauf ab, von Autor*innen verfasste dramatis personae so zu verkörpern, dass das ein Publikum beeindruckt. Es gehört zu einem kollektiven Forschungsprozess, der stattfindet, indem eine Welt gebildet wird: Die Beteiligten handeln die Welt, die sie bespielen, miteinander aus. Sie tun damit genau das, was wir als Staatsbürger*innen sonst niemals tun, da die staatliche Ordnung es immer schon voraussetzt, wenn sie unsere Zustimmung für ihre Institutionen und Verfahren als gegeben erachtet und uns nur noch einen schmalen Rest Entscheidungsfreiheit lässt.
Ein Beispiel für ein künstlerisches Aufgreifen des Rollenspiels ist Research On Unstable Ground vom Performance-Kollektiv ScriptedReality.17 Das umfasste einen Lese- und Diskussionsteil und ein LARP. In mehreren Zoom-Sitzungen und Workshops besprachen die Teilnehmenden zunächst Texte (sowohl Theorie als auch alternative Science-Fiction – unter anderem Lynn Margulis, Scott Gilbert, Anna Tsing, Ursula LeGuin). Sodann ersannen sie mit Bezug auf die Lektüre schrittweise gemeinsam eine Welt und entwarfen für sich Charaktere, die darin lebten. Der Akzent lag auf dem Gemeinsamen. Es ging nicht allein um Aussehen und Persönlichkeit der Charaktere, sondern auch um ihre Herkunft und Lebensgeschichte, um deren Verflechtung mit den Lebensläufen anderer und um die Aufgabe der Figur innerhalb des LARP, um die Konvergenzen oder Divergenzen individueller und kollektiver Ziele. Die Figuren mussten nicht zur menschlichen Spezies zählen, sondern konnten auch etwa ein Hybrid aus Mensch und Tier oder Mensch und Pflanze sein, ein Stein, ein Konzept, ein Molekül oder etwas bislang Unbekanntes.
Eine Aufgabe bestand darin, sich zu überlegen, wie der eigene Charakter mit dem Sumpf in symbiotischer Verbindung steht, denn das LARP fand im Rahmen der Sumpffestspiele im August 2021 im Frankfurter Studio Naxos statt: Zu welchen Regionen oder Substanzen des Sumpfes unterhält man eine lebenswichtige materielle oder immaterielle Beziehung? Gleichzeitig entwickelte jeder Charakter eine eigene Research-Praxis, mittels derer der Sumpf, seine Bewohner*innen oder er selbst erforscht werden konnte – um das Nichthumane auch als Beobachtungs- und Erkenntnisinstanz einzuführen, nicht nur als Objekt (eine Erweiterung mit erheblichen Konsequenzen für den Status des Erfundenen, die ein wichtiges Merkmal jüngerer, ›posthuman‹ spekulativer Science-Fiction und Fantasy aufgreift: die dort erzählten Welten verfügen über andere als die gegenwärtigen Formen von Wahrnehmung, Bewusstsein und Erfahrung und über andere Lösungen für das Problem, diese in kollektiver Forschungsarbeit zu organisieren18). Schließlich kamen alle in den teilweise zum Sumpf verwandelten Hallen zusammen und versuchten sechs Stunden lang, den Sumpf vor dem Austrocknen zu retten und ihre Geschichten weiterzuspinnen. Publikum gab es, wie beim LARP üblich, keins; eine kleine Anzahl von Personen konnte aber nach einer gewissen Zeit den Sumpf als Gäste mit zugeteilten Charakteren betreten und mit den Spielenden in Kontakt treten.
Das Spielen ist hier also eingebettet in einen Recherche-, Aushandlungs- und Weltermittlungsprozess. Dass man die Figur selber spielen wird, bestimmt in diesem Umgang mit dem Format die Entstehung der Welt; es gibt der Imagination eine praktische Form. Figuren, die man frei erfinden kann, sind zunächst Wunsch-Figuren, verkörpern Wünsche nach einem alternativen oder erweiterten Selbst. Man wird hier wiederum nicht mit Hinweisen auf die Notwendigkeit, für etwas Verantwortung zu übernehmen und sich richtig zu verhalten, abgeholt, sondern erhält erst einmal Gelegenheit zu narzisstischen Gratifikationen (in einem psychoanalytisch komplexen Sinn von Narzissmus: als grundsätzlich positive, wenngleich stark irritierbare Selbstbeziehung). Diese Selbstentwürfe treten jedoch unverzüglich in Kommunikation, befragen sich gegenseitig, testen einander auf die Möglichkeiten eines Zusammenlebens hin. Und auch der materielle Prozess – die Anfertigung der Kostüme und Masken, die Gestaltung des Ortes und ein über mehrere Stunden, in anderen Fällen auch Tage laufendes Spiel – zieht eine ursprüngliche Relativierung in die Weltbildung ein.
Der Sozialvertrag in einem solchen Rollenspiel-Format ist auch ein ökologischer Vertrag – schon dadurch, dass die Figuren, in die man sich verwandelt, nicht auf die Spezies Mensch beschränkt sind: Das Verkörpern erweitert das Vorstellungsvermögen und perspektiviert es um. Es steht zur Debatte, was Welt überhaupt heißt. Die Unverschämtheit, Zusammenleben neu zu erfinden, speist hier weder die Allmachtsphantasie einer göttlichen Schöpfungspotenz, noch etabliert sie eine Design-Logik, die gewachsenes Zusammen durch hergestelltes ersetzen will. Überhaupt setzt die fiktionale Welt sich nicht utopisch an die Stelle der realen, sondern das Fiktionale versteht sich als Kooperationsmodus. Die Fiktion ist die Indirektheit des Miteinander-Umgehens, die sich eine kollektive Praxis als Freiraum gewährt.
Der kollektive Prozess, in dem das World-Building stattfindet, kann durchaus konflikthaft oder gar antagonistisch werden, aber er hält die gemeinsame Verantwortung für die Welt jederzeit gegenwärtig, nicht als Vorschrift oder Forderung, sondern als Situierung von etwas, das man macht, weil man Lust hat, es zu machen. Ökologisch gesinnt, lernen die Live Arts hier, eine ihrer Stärken in neuen Formaten auszuspielen, nämlich kommunikative Prozesse zu situieren, Situationen zu arrangieren, die dem, was wir in der world as we know it zu wenig geübt haben, um es zu können, günstigere Bedingungen bieten. Ästhetik verbessert unser Milieu.
Die drei Aspekte, die ich hier kurz beleuchtet habe, zeigen ein zeitgenössisches dramaturgisches Denken auf dem Weg zu ästhetischen Haltungen, die ökologisch nicht zuletzt dadurch sind, dass Dramaturgie sich selbst als ein körperlicher Vorgang vollzieht – als ein Informieren von Körpern durch Körper, ohne Einschränkung auf menschliche Körper und im Bemühen, den überkommenen Privilegierungen des Menschen durch den Menschen Schritt für Schritt den Boden zu entziehen. Das Dramaturgische sitzt nicht mehr in der Position einer begleitenden, Welt-Wissen zuflüsternden Reflexionsinstanz neben dem Platz der Regie, wo in Stellvertretung des Publikums (der Menschheit) souveräne Entscheidungen getroffen und den Akteur*innen auf der Szene zugerufen werden. Dramaturgisch denken heißt, sich unentwegt an der Schwelle einer Welt-in-der-wir-leben zu einer Welt-die-wir-ersinnen zu bewegen und dabei die Inkongruenz der beiden »wir« zu bemerken, auszuhalten, auszutragen, aus dessen jeweiliger Mitte an den Arbeitsprozess zurückzuvermitteln.
Das Dramaturgische ist sowohl Anwaltschaft desjenigen, was das Ersinnen einer Welt vernachlässigt, übergeht, vergisst oder verdrängt, wenn es den Plausibilitäten künstlerischer Gestaltung und sozialen Aushandelns stattgibt, als auch ein Spürsinn für das, was in der beobachtbaren und kommunizierbaren Welt fehlt, um in ihr zusammenzuleben. Dieses heikle doppelte Engagement scheint sich mir darin mitzuteilen, dass ästhetische Strategien derzeit mit Verminderungen operieren – oder mit etwas, das wie ein Weniger anmutet, aber Platz schafft für diejenigen Wirklichkeiten des Welt-Ausmachens, die das Mehr sonst aus dem Aufmerksamkeitsfeld drängt: Verzicht auf visuelles Spektakel zugunsten eines Zu(ge)hörens in der Beobachtungsbeziehung; Verzicht auf spieltechnisch verstärkte Präsenz zugunsten einer kooperativen Beseelung, die Verantwortung auf alle Beteiligten verteilt; Verzicht auf große Publikumsversammlung zugunsten einer Wiederholung des Gesellschaftsvertrages im aktuell Machbaren.
1 van Eikels, Kai/Pföhler, Laura/Wirth, Christoph: World-Building. Förderung von künstlerischen Produktionsformen unter veränderten Vorzeichen, in Schneider, Wolfgang/Fonds Darstellende Künste (Hg.), Transformationen der Theaterlandschaft. Zur Fördersituation der Freien Darstellenden Künste in Deutschland, Berlin 2022, S. 20 – 34.
2 Siehe auch die von Sandra Umathum und Max Haas durchgeführte Teilstudie Förderung von Nachhaltigkeit, ebd.
3 Siehe dazu Umathum, Sandra/Deck, Jan (Hg.): Postdramaturgien, Berlin 2020.
4 Siehe dazu Wihstutz, Benjamin: Theater der Einbildung. Zur Wahrnehmung und Imagination des Zuschauers, Berlin 2011.
5 Dazu Cardiff, Janet/Schaub, Mirjam: The Walk Book, Wien 2015, S. 114.
6 Zum Beispiel Stefan Kaegis Black Box. Vgl. hierzu den Beitrag von Daniele Vecchiato in diesem Band.
7 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Autonomous_Sensory_Meridian_Response.
8 S. McLuhan, Marshall/Fiore, Quentin: The Medium is the Massage. An Inventory of Effects, London 1967.
9 Den Begriff prägte Lynn Margulis, s. dies./Fester, René (Hg.): Symbiosis as a source of evolutionary innovation: Speciation and morphogenesis, Cambridge MA 1991.
10 Sie ist weiterhin online unter https://soundcloud.com/user-845126419/extinct-soundpiece_nocturnal-unrest/s-eu8mW4dipXS.
11 Sympoiesis – das gemeinsame Sich-Hervorbringen von Systemen – ist ein Begriff von Beth Dempster, den Donna Haraway aufgreift. S. dies.: Unruhig Bleiben. Verwandtschaft im Chthuluzän, aus dem Engl. von Karin Harrasser, Frankfurt a. M. 2018.
12 Vgl. http://outofthebox-now.de/2021/04/15/breakdown.
13 Das Konzept der »intraactivity« stammt von Karen Barad. Siehe dies.: Agentieller Realismus, aus dem Engl. von Jürgen Schröder, Berlin 2012.
14 Die Online-Dokumentation von Earthbound wurde aus dem Netz genommen. Die Homepage von Vera Voegelin: https://veravoegelin.hotglue.me/ (Abruf: 1. Juni 2022).
15 Vgl. https://kunsthallewien.at/ausstellung/cybernetics-of-the-poor/.
16 Siehe Gregory Bateson: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven, aus dem Engl. von Hans Günter Holl, Frankfurt a. M. 1981.
17 Vgl. http://www.scriptedreality.net/index.php/arbeiten/research-on-unstable-ground.
18 Eine immer noch anregende Lektüre von SF-Literatur in dieser Perspektive findet sich in Shaviro, Steven: Discognition, London 2016.