Theater der Zeit

Auftritt

Neues Theater Halle: Wohnst du schon?  

„Die Lage“ von Thomas Melle – Regie Max Radestock, Bühne und Kostüme Elena Scheicher, Dramaturgie Sophie Scherer

von Lara Wenzel

Assoziationen: Sachsen-Anhalt Theaterkritiken Max Radestock Thomas Melle Neues Theater Halle

Florian Ulrich Krannich, Nicoline Schubert, Paula Dieckmann, Sybille Kreß, Nils Thorben Bartling in „Die Lage“ in der Regie von Max Radestock. Foto Falk Wenzel
Florian Ulrich Krannich, Nicoline Schubert, Paula Dieckmann, Sybille Kreß, Nils Thorben Bartling in „Die Lage“ in der Regie von Max RadestockFoto: Falk Wenzel

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Ob das Openfloor-Loft, Altbau mit Stuck oder eine Plattenbauwohnung auf dem Spiel steht, ist egal. Wer eine Wohnung sucht, muss alles geben. Zum vollen Konto braucht es Durchhaltevermögen, eine tragische Backstory und den Willen bis zum Letzten zu gehen. Am Ende kann es nur eine geben, die den schillernden Schlüssel triumphal in den Händen halten darf. Der Mietwechsel geht Schlag auf Schlag. Die gerade Gekündigten und Raussanierten spuken noch wie Gespenster in den frischverputzten Zimmern, dann untersucht eine neue Kolonne an Interessierten Badezimmerarmaturen und Fensterrahmen. 

Mit einem verschworenen WG-Chor beginnt dieser Reigen aus Wohnungsbesichtigung, der seine Brutalität von Runde zu Runde steigert. Gleich zwei Tage dauere ein Casting für das Zimmer, so eine Entscheidung muss gut überlegt sein. Bis dahin soll unter dem Druck der sieben-köpfigen Gruppe ein Geständnis erpresst werden: Ist man eher ein Eigenbrötler, der sich in seinem Zimmer hinter Pizzakartons verbarrikadiert, oder erwartet die WG hohen sexuellen Durchgangsverkehr? Beides unerwünscht! Und überhaupt, etwas Bemerkenswertes habe man noch nicht gesagt. Thank you next!

Der Auftakt der Inszenierung von Max Radestock prägt die Stimmung des Abends: Angstschweißiger Performancezwang, fahrige Streitereien zwischen wohnungssuchenden Paaren und anschwellende Existenzangst. In den Ring, um den das Publikum herumsitzt, steigen zu Beginn noch leichtfüßige und betont höfliche Bewerber:innen, deren makellose Umgangsformen zunehmend von surrealen Gewalteinbrüchen unterbrochen werden. Die durch Bretterwände umgrenzte Fläche muss von den Kontrahentinnen erst überwunden werden, zu Beginn noch grazil, dann wuchten sie sich über die Hürde, die die hier präsentierte Wohnung umgrenzt. Gezeichnet von der Suche sind die sieben Schauspielerinnen in zerlumpte Polsterstoffe, Handtücher und Gardinen gewickelt, die Elena Scheicher gestaltete. Mit der Zeit legen sie die Fetzen ab, um agiler auf dem Wohnungsmarkt agieren zu können. Obwohl es im Objekt der Begierde nichts zu sehen gibt, nur einen Boden aus braunen Gummiplatten, auf denen die Aufschrift „Parkett“ prangt, führen sie ihre stilisierten Untersuchungsrituale durch.

Da die Zuschauer:innen um das Bühnenbild von Scheicher, wie um eine Arena platziert sind, werden sie bewusst in die Position von Voyeuren und Richtern gerückt. Erst beobachten sie die ins Absurde gesteigerte Gewalt – ein Absatz landet im Auge eines Optikers -, dann müssen sie sich entscheiden, ob sie selbst Teil der hier in Gang gesetzten Entblößungsmaschine werden. Nachdem die Wohnungsinteressentinnen vor der allmächtigen Maklerin Stöhnproben abgegeben mussten, um die spätere Lautstärke zu bestimmen, zieht Schauspieler Rico Strempel komplett blank. Ausgeleuchtet vom kalten Neonlicht steht er im Zentrum des Kampfplatzes und dem Publikum wird angeboten diesen Moment festzuhalten. Nur Wenige heben ihr Smartphone, der Rest ist in der eigenen Betrachterrolle peinlich getroffen und stellt sich die Frage, von was werde ich hier eigentlich Zeuge.

Die Inszenierung von „Die Lage“ von Thomas Melle eröffnet eine Kampfplatz, in der eine der existenziellen Fragen unserer Zeit ausgefochten wird. Am neuen Theater in Halle wechselt sich gut beobachteter Smalltalk rasant mit fast psychotischen Einbrüchen ab, in denen der Schauspieler Nils Thorben Bartling von schiefen Wänden und über das tragische Los eine Flachspülertoilette zu haben, fantasiert. Die Wohnungssuche ist ein hartes Pflaster, auch für die Gutverdienenden kinderlosen Paare, die hier porträtiert werden, doch ihre Chancen auf das perfekte Loft stehen gut. Die Seite der Verdrängten, für die Städte wie Berlin unbezahlbar werden, taucht nur kurz in der Rolle eines Wohnungslosen auf, der nach der Eigenbedarfsanmeldung nichts Neues fand. In diesem gelungenen, tragikomischen Gerangel der Gutverdiener zeigt sich die absurde Spitze des verselbstständigten Wohnungsmarkts. Jene, die durch Mieterhöhungen zunehmend verdrängt werden und auf die gute Lage keine Aussicht mehr haben, bekommen die Rolle der jetzt noch unsichtbaren, aber künftigen Heimsuchung zugewiesen.

Erschienen am 27.3.2023

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